Ampuero | Der Fall Neruda | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Reihe: Piper Spannungsvoll

Ampuero Der Fall Neruda

Kriminalroman
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-492-98164-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Reihe: Piper Spannungsvoll

ISBN: 978-3-492-98164-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Welches Geheimnis verbindet Pablo Neruda und die Frau, die er nicht vergessen kann? Als der berühmte Dichter 1973 nach Jahren als Botschafter alt und krank in seine Heimat Chile zurückkehrt, spürt er, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Er beauftragt Cayetano Brulé mit Nachforschungen über eine geheimnisvolle Frau. Die Suche nach ihr führt Cayetano von Mexiko nach Kuba, dann in die DDR. Immer wieder scheint sie ihren Namen, ihre Identität gewechselt zu haben ...

Roberto Ampuero, 1953 in Valparaíso, Chile geboren, ist einer der erfolgreichsten Autoren seines Landes. Nach Aufenthalten in Kuba, der DDR und der BRD lebte er lange Jahre in den USA, wo er an der University of Iowa lehrte. Seit 2012 ist er chilenischer Botschafter in Mexiko. Sein Werk, in zahlreiche Sprachen übersetzt, wurde mehrfach ausgezeichnet. »Der letzte Tango des Salvador Allende« stand wochenlang auf Platz 1 der chilenischen Bestsellerlisten.
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1


Was mochte die Herren von Almagro, Ruggiero & Partner derart beunruhigen, dass sie ihn so dringend in ihren Geschäftsräumen zu sehen wünschten?, fragte sich Cayetano Brulé, als er an jenem warmen Februarmorgen aus seinem Büro unter dem Dach des Turri-Gebäudes im Herzen des Bankenviertels von Valparaíso trat und mit dem alten, vergitterten Fahrstuhl hinab zur Calle Prat fuhr. Seit der Rückkehr zur Demokratie hatte sich A, R & P zur einflussreichsten Beratungsfirma des Landes entwickelt, und es wurde gemunkelt, es gäbe keine Vertragsklausel, die nicht durchzusetzen, und keine bedeutende öffentliche Ausschreibung, die nicht dank ihrer Unterschrift zu gewinnen wäre. Ihre Tentakel reichten vom Präsidentenpalast bis zu den neugotischen Firmensitzen der Unternehmer, vom Kongress bis zur staatlichen Rechnungsprüfstelle, quer durch alle Ministerien, politischen Parteien, Botschaften und Gerichte. Ihre Anwälte setzten Gesetze und Verordnungen, Subventionen und Erlasse, Steuerbefreiungen und Amnestien durch, wuschen beschmutzte Westen rein und polierten, wenn nötig, das Ansehen von Persönlichkeiten auf. A, R & P wirkten im Hintergrund, im Verborgenen, und auch wenn man ihre höchsten Führungskräfte regelmäßig auf wichtigen Empfängen und bei bedeutenden Abendessen in der Hauptstadt sah, waren ihre Eigentümer, die nur selten an gesellschaftlichen Zusammenkünften teilnahmen oder Journalisten ein Interview gewährten, so gut wie unsichtbar. Wenn sie sich jedoch einmal entschieden, auf der großen Bühne von Politik und Wirtschaft zu erscheinen, glänzten sie mit ihren italienischen Anzügen und Seidenkrawatten, ihrem Siegerlächeln und weltgewandten Auftreten und äußerten sich zu allem auf eine geheimnisvolle Weise, wie das Orakel von Delphi. Als Cayetano zwischen den Gebäuden der Calle Prat hinaufblickte, schlug die Uhr des Turri Viertel vor zwölf, die Glocken läuteten melancholisch, und die Möwen schwebten laut krächzend unter dem kristallinen Himmel dahin. Er musste an denken, den er sich in der Sonntagsmatinee des Filmtheaters Mauri angesehen hatte, dann stürzte er sich pfeifend und mit schnellem Schritt in das tägliche Getöse.

Als er zur Plaza Aníbal Pinto kam, ließ ihm das Knurren seines Magens keine andere Wahl, als sich einen freien Tisch im Café del Poeta zu suchen. Die Bosse von A, R & P würden schon nicht verzweifeln, wenn er etwas zu spät käme, ganz im Gegenteil, dachte er, während der Duft von geröstetem Kaffee seinen Pancho-Villa-Schnurrbart durchdrang, sie würden nur nervös vermuten, dass auch andere Klienten um diese Uhrzeit seine Dienste benötigten. Abgesehen vom Cortado und den Sandwichs hatten ihn an diesem Lokal schon immer der alte gebohnerte Dielenboden, die Glasvitrinen mit ihren Teeservice aus englischem Porzellan, die Ölgemälde mit Hafenmotiven und das behagliche Licht begeistert, das die Bronzelampen verströmten. Am liebsten mochte er den Tisch gleich neben dem Eingang, denn von dort konnte er die hundertjährigen Palmen auf dem Platz, die Skulptur Neptuns, der auf einem Felsen in der Mitte eines Brunnens voller bunter Fische saß, und sogar den Friedhof oben auf dem Cerro Cárcel betrachten, diese wunderliche Grabstätte, die bei jedem Erdbeben eine Lawine aus Mausoleumsziegeln, Holzkreuzen und klapprigen Särgen samt ihren Leichnamen auf die Stadt ausspie. Und er konnte von diesem Tisch aus die gebrauchten, aus Zürich importierten Trolleybusse sehen, die mit ihren Originalschildern umherfuhren, als befänden sie sich noch immer zwischen den blitzsauberen Fassaden der stillen helvetischen Viertel und wären nie in Valparaísos Straßen voller Schlaglöcher, streunender Hunde, fliegender Händler und dem ganzen Papiermüll gelandet.

Kurz und gut, die erlauchten Almagro und Ruggiero würden sich in Geduld üben müssen, beschloss Cayetano Brulé und rückte den Knoten seiner prächtigen lilafarbenen, mit kleinen grünen Guanakos bedruckten Krawatte zurecht, während er darauf wartete, dass sich die Bedienung, ein blasses schwarzgekleidetes Gruftimädchen mit pechschwarzem Haar, das über ein Headset, wie es auch Kanye West trug, mit der Küche in Verbindung stand, endlich dazu entschließen würde, seine Bestellung aufzunehmen. Er griff nach der Lokalzeitung, deren Titelseite die neueste Niederlage der Wanderers – des leidgeprüften Fußballclubs aus Valparaíso –, die Enthauptung eines Models im Garten des Casinos von Viña del Mar und einen beunruhigenden Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Region verkündete. Letzteres überraschte ihn nicht. Der Niedergang der Stadt war allgemein bekannt. Im neunzehnten Jahrhundert war Valparaíso einmal die wichtigste und florierendste Hafenstadt am Pazifik gewesen; Enrique Caruso und Sarah Bernhard traten in ihren Theatern auf, Gath & Chaves und andere exklusive europäische Läden ließen sich in ihren Straßen nieder, und gut ein Viertel der Bevölkerung war ausländisch und sprach kein Spanisch. Doch das fürchterliche Erdbeben in der Nacht vom 16. August 1906 verwüstete Valparaíso und begrub innerhalb weniger Sekunden mehr als dreitausend Menschen unter den Trümmern. Noch in derselben Nacht verließen Tausende für immer die Stadt, und diejenigen, die blieben, beschworen von diesem Tag an ständig die Pracht und den Glanz der Vergangenheit und die Schönheit der verschwundenen Stadt herauf, überzeugt davon, dass eines nicht allzu fernen Tages ein Wunder den Fortschritt zurückbrächte. Doch genau acht Jahre später war es dieser berühmte Fortschritt, der Valparaíso einen weiteren harten Schlag verpasste: Die feierliche Eröffnung des Panamakanals am 15. August 1914 schnürte ihr die Luft ab. Von einem Tag auf den anderen blieben eine trostlose Bucht, leere Hafenkneipen und stillstehende Kräne am Kai zurück, die Bars, Geschäfte und Restaurants schlossen ihre Türen für immer und stürzten so die Angestellten, Prostituierten und Zuhälter in fortwährende Arbeitslosigkeit.

Als Cayetano 1971 am Arm seiner damaligen Frau María Paz Ángela Undurraga Cox nach Chile kam und die Entscheidung traf, sich in Valparaíso niederzulassen, wusste er nichts von dieser tragischen Geschichte, diesem unaufhörlichen Verfall, der mehr eine göttliche Strafe als eine Folge des Schicksals und mit der verrückten Architektur und Topografie der Stadt und dem freundlichen, schwermütigen Wesen ihrer Bewohner verbunden zu sein schien. Es waren die Tage von Salvador Allende und der Unidad Popular, Tage eines zügellosen sozialen Aufbegehrens, das jedoch nicht in das mündete, was das Volk sich erträumt hatte, sondern in die Diktatur des Generals Augusto Pinochet. Wie viele Jahre waren seit damals vergangen, seit dem Beginn jener Epoche, die so viele lieber vergessen wollten? Weit über dreißig Jahre. Jedenfalls glaubten die stets würdevollen , die Bewohner Valparaísos – und er betrachtete sich inzwischen als einer von ihnen –, dass sowohl das Glück als auch das Pech hinter der nächsten Ecke oder hinter der Krümmung irgendeiner Steintreppe lauern konnten und daher im Leben alles relativ und flüchtig war. Für die Einheimischen, die es gewohnt waren, die Hügel Valparaísos hinauf- und hinabzusteigen, war das Leben genau wie ihre Stadt: Mal schwamm man vergnügt und voller Zuversicht auf einem Wellenberg, mal lag man bedrückt und mitgenommen in der Tiefe einer Schlucht. Stets war es möglich, auf- oder abzusteigen. Nichts war von Bestand. Keine Situation währte ewig. Das Leben brachte Unwägbarkeiten mit sich, und nur der Tod war eine feste Größe. Aus diesem Grund – und weil er ein unverbesserlicher Optimist war, solange es ihm nicht an Kaffee und Brot und hin und wieder einem kalten Bier oder seiner Ration Rum mangelte, und obwohl er als privater Ermittler nur selten Arbeit fand an diesem äußersten Rand der Welt, der sich in eine ansehnliche Exportmacht verwandelt hatte, die Früchte, Wein und Lachs verkaufte und wo sich immer mehr Familien ein zweites Auto anschafften, in den Urlaub nach Havanna oder Miami flogen oder sich haushoch verschuldeten – störte es ihn nicht, die Besitzer von A, R & P noch eine Weile warten zu lassen.

Vor sechzehn Jahren, 1990, hatten die Chilenen nach friedlichen Protesten die Demokratie zurückerobert, und jetzt wurde dieses angeblich so eintönige und konservative Land, in dem es bis vor kurzem kein Recht auf Scheidung gab, von einer geschiedenen Frau, alleinerziehenden Mutter, Sozialistin und Atheistin regiert. Das war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass dieses Stilett von Land, das sich von der Atacama, der trockensten und unwirtlichsten Wüste des Planeten, bis zum Südpol erstreckte und zwischen der wilden Brandung des Pazifischen Ozeans und dem ewigen Schnee der Anden sein Gleichgewicht suchte – immer kurz davor, mit Mann und Maus in die Tiefen des Meeres zu stürzen –, ein einzigartiger, sich fortwährend verändernder, schwankender Ort war, der sich in schwindelerregender Geschwindigkeit von der Euphorie zur Depression und von der Solidarität zum Individualismus bewegte. Ein Ort, der diesen verworrenen Hieroglyphen glich, die der Archäologe Heinrich Schliemann entdeckt und die nie jemand vollständig zu entziffern vermocht hatte, und den man – ganz den Umständen, Stimmungsschwankungen oder Jahreszeiten entsprechend – entweder liebte oder hasste.

Hier stirbt niemand endgültig, dachte Cayetano, als er von seinem Platz aus die gekalkten Nischen betrachtete, die oben auf dem Friedhof des Cerro Cárcel wie ein Salzsee in der Atacama schimmerten. Beim erstbesten Erdbeben kehren mit einem Schlag alle wieder in das Reich der Lebenden zurück.

»Was kann ich dem Herrn bringen?«, fragte ihn das Gruftimädchen.

Er bestellte einen doppelten Cortado und verlangte die Karte mit den Sandwichs. Während...


Ampuero, Roberto
Roberto Ampuero, 1953 in Valparaíso, Chile geboren, ist einer der erfolgreichsten Autoren seines Landes. Nach Aufenthalten in Kuba, der DDR und der BRD lebte er lange Jahre in den USA, wo er an der University of Iowa lehrte. Seit 2012 ist er chilenischer Botschafter in Mexiko. Sein Werk, in zahlreiche Sprachen übersetzt, wurde mehrfach ausgezeichnet. »Der letzte Tango des Salvador Allende« stand wochenlang auf Platz 1 der chilenischen Bestsellerlisten.



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