E-Book, Deutsch, 376 Seiten
Anderson Lullaby Road
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-948392-11-6
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 376 Seiten
ISBN: 978-3-948392-11-6
Verlag: Polar Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Die Wüste im Winter. Fallwinde, Schneestürme, die Sicht unter zehn Meter. Ben Jones, den wir aus 'Desert Moon' kennen, beliefert mit seinem Truck die Road 117. Er selbst sagt über sich, dass er Menschen Zeit verschafft, während sie auf die Entscheidung warten, ob es bei ihnen auf Leben oder Tod hinausläuft. Was soll er also tun, als er um Hilfe gebeten wird? An einem Stop'n'Gone Truck Stop wartet ein kleiner Junge mit einem Zettel auf ihn: Bitte, Ben. Riesenärger. Mein Sohn. Nimm ihn heute. Er heißt Juan. Ich traue nur dir. Sag keinem was.
Mit Kind und Hund im Fahrerhaus erleidet Ben einen Unfall, als ein Truck ihn rammt. Er muss nach Rockmuse fahren, um den Schaden beheben zu lassen. Da erwartet ihn die nächste Katastrophe. John, der Prediger, ist angefahren worden, und liegt halbtot in einem Kino. Seine einzige Überlebens- chance ein ehemaliger Arzt, der selber mehr tot als lebendig in einem Trailer außerhalb der Stadt lebt.
Auch in seinem neuen Kriminalroman erzählt James Anderson von Verbrechen mitten in der Wüste, die scheinbar am Rand geschehen und in die Ben verstrickt wird, obwohl er nur seine Ware ausliefern und in Ruhe gelassen werden will. Doch Ben kann nicht anders. Er stellt sich der Gefahr.
James Anderson wurde in Seattle, Washington, geboren und wuchs in Oregon auf. Er war viele Jahre in einem Buchverlag tätig. Zu seinen anderen Berufen gehören Holzfäller, Fischer und für kurze Zeit LKW-Fahrer. Er teilt seine Zeit zwischen Ashland, Oregon und den Four Corners des amerikanischen Südwestens auf. Nach 'Desert Moon' ist 'Lullaby Road' der zweite Kriminalroman, der im Polar Verlag erscheint.
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2
Ich brauchte mehrere Anläufe, um dem schmächtigen Juan den Sicherheitsgurt für Erwachsene umzulegen. Er schaute aus dem Fenster, wehrte sich aber nicht und sagte auch nichts. In seinem Alter war ich vermutlich genauso – ein Waisenkind, das ständig von einem Ort zum nächsten befördert wurde. Immer gab es andere Gesichter, andere Zimmer, andere Autos. Dabei lernte man, sich dem Leben anzupassen, indem man sich in sein Inneres zurückzog, wo man geschützt und unerreichbar war. Da Juan emotionslos auf mich, den Schnee und den Wind reagierte, fragte ich mich, was in seinem kurzen Leben schon alles passiert sein mochte und welcher Vater auf die Idee käme, sein Kind allein bei einem Truck-Stop zurückzulassen. Die Ohren des Hundes zuckten. Er hob den großen Kopf. Wenige Sekunden später kam Ginnys alter Nissan kurz vor meinem Truck schlitternd zum Stehen. Sie und ihr drei Monate altes Baby Annabelle bewohnten die andere Hälfte meines schäbigen Doppelhauses. Ginny, knapp achtzehn, unverheiratet und alleinerziehend, hatte zwei Jobs und belegte Wirtschaftskurse am College, fand aber trotzdem noch die Zeit, mir bei der Buchhaltung zu helfen. Vor ein paar Monaten hatte sie mein kleines Fuhrunternehmen gerettet. Und mich. Wie immer war sie auf einer Mission, zu spät dran und in Eile. Sie sprang aus dem Auto und ich fragte mich, was verdammt noch mal so wichtig sein konnte, dass sie durch die verschneite Stadt gerast war, um mich abzufangen. Ihre lila-roten Haare waren noch stacheliger aufgestellt als sonst. Ich ließ mein Fenster herunter und fragte, was los sei. Sie gab keine Antwort, sondern zog die Babyschale vom Beifahrersitz ihres Autos. Ich bin selten der Schlaueste von allen, es sei denn, ich bin allein, was zum Glück oft vorkommt. Aber niemand musste erst ein Diagramm an die Tafel malen, damit ich eine Ahnung bekam, was Ginny vorhatte. Ich stieß meine Tür auf. »Nein!« Ginny ignorierte den Einwand. Die Babyschale in der einen Hand, eine große, pinkfarbene Tasche in der anderen, kam sie auf mich zu. Sie trug noch ihren schwarzen Flanellschlafanzug, der mit fluoreszierend weißen Totenschädeln verziert war. Im Licht der Truck-Stop-Lampen tanzten die Schädel auf ihren Armen und Beinen. Die silbernen Ringe in ihrer Nase, der Unterlippe und einer Augenbraue sandten hin und wieder einen Lichtblitz aus. Ich stieg aus der Fahrerkabine und hob abwehrend die Hände. »Ich kann nicht.« Ginny nutzte meine Körperhaltung sofort aus. Sie hängte die pink Tasche über meinen linken Unterarm und schob den Bügel der Babyschale über meinen rechten. »Du musst«, sagte sie. Zum ersten Mal seit Beginn unserer Freundschaft pflaumte ich sie an. »Gottverdammt, Ginny. Ich kann nicht mit einem Baby auf die 117 raus! Schon gar nicht bei diesem Wetter.« Ich nickte in Richtung meiner offenen Tür. Ich wollte noch etwas einwenden, überlegte es mir dann aber anders, wie es jeder Mann tut oder tun sollte, bevor er sich mit einer Frau streitet, noch dazu mit einer, die ihm so wichtig ist wie Ginny mir. Wir waren Freunde, nur Freunde, und das bedeutete mir, wie vermutlich allen Waisen, sehr viel. Eigentlich reichte das Wort Freundschaft für unser Verhältnis nicht annähernd aus. In wenigen Monaten war Ginny zu meiner Ersatzfamilie geworden, obwohl es Menschen mit schmutzigen Fantasien gab, die nicht müde wurden, uns eine andere Art von Beziehung zu unterstellen. Wenn ich derartiges Gerede hörte, meist gewürzt mit einem verwegenen Zwinkern oder einer weit schlimmeren Geste, platzte mir der Kragen. Gar nicht mal meinetwegen, sondern wegen Ginny. Im Grunde war Ginny auch eine Waise. Wer ihre Mutter Nadine kannte, wusste, warum. Vor etwa zehn Jahren war ich kurz mit Nadine zusammen gewesen. Ginny war damals noch ein kleines Mädchen. Die Zeit mit Nadine war leider nicht kurz genug gewesen und ich war fast erleichtert, als ich sie eines Morgens mit einem UPS-Fahrer in der Kabine meines Trucks überrascht hatte. In Anbetracht der beengten Umstände hätte das, was sie dort vollführten, einen Platz in einem pornografischen Zirkus oder in einer Folge von Ripley’s unglaubliche Welt verdient gehabt. Durch Zufall hatten sich die Wege von Ginny und mir mitten in der Nacht im 24-Stunden-Walmart von Price wieder gekreuzt. Das war im Mai gewesen und sie hatte dort die Nachtschicht geschoben. Damals war sie siebzehn, im siebten Monat schwanger und schlief in ihrem Auto. Sie bat mich, ihr zu helfen, einen Zweitjob zu finden, damit sie eine eigene Wohnung hätte, wenn das Baby kam. Ginny war von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt worden und aus der Highschool geflogen, hatte aber noch schnell die Mittlere Reife abgelegt und besuchte seitdem einen BWL-Kurs am College. Ich hatte noch nie jemanden mit so viel Biss wie Ginny kennengelernt. Denn als wäre das nicht alles schon genug, hatte sie sich, ihre Piercings und ihr ungeborenes Kind in Gefahr gebracht, um mich zu retten. Wenn das keine Familie war, dann wusste ich nicht, was den Namen sonst verdiente. Ich war ihr mehr als dankbar. Ich bewunderte sie und versuchte, sie auf meine Art zu beschützen. Das, was wir für den anderen waren und für einander empfanden, hätte allerdings keiner von uns offen zugegeben. Mir kam die Idee, ruhig und sachlich mit ihr zu reden. »Schau dich mal um«, sagte ich. »Bei diesem Scheißwetter muss ich in die Wüste. Sicher ist ein Baby dort wohl kaum aufgehoben.« »Ich hab heute Morgen zwei Prüfungen und die Babysitterin hat gerade angerufen. Sie ist krank. Meine Schicht beim Walmart beginnt um zwei. Du kannst und wirst auf Belle aufpassen. Sie ist bei dir auf der 117 sicherer aufgehoben als zu Hause allein in ihrem Bettchen.« Ich befand mich zwischen Hammer und Amboss und Ginny war offensichtlich der Amboss. »Ich hab keine andere Wahl. Du hast keine andere Wahl«, sagte sie und ging zu ihrem Auto zurück. Kaum etwas ging mir mehr auf den Sack als der Spruch »du hast keine andere Wahl«. Mein Leben lang hatte ich mir diesen Satz in allen möglichen Varianten anhören müssen, oft wurde er mir von jemandem, der eine falsche Entscheidung getroffen und sich dadurch in eine blöde Situation gebracht hatte, an den Kopf geworfen. Meistens war er das letzte Mittel von Leuten, die mich davon überzeugen wollten, ein vergammeltes Sandwich sei besser als gar kein Sandwich. »Bitte, Ginny, nicht«, rief ich. »Es gibt immer eine andere Lösung.« »Dann finde sie. Hab keine Zeit, mit dir zu streiten.« Typisch Ginny. Ich konnte reden, so viel ich wollte, nichts würde sie umstimmen. Es lag an mir, zu beweisen, ob ich der Situation gewachsen war. Ginny steckte in der Klemme und brauchte mich. Dass sie mich um einen Gefallen gebeten hatte, musste sie Mut gekostet haben. Wie sie es schaffte, mit achtzehn und allein, ihre Ausbildung, die Arbeit, das Baby und dazu noch meine Buchhaltung unter einen Hut zu bringen, war ein Rätsel und ein Wunder. Sie hatte mich bisher nie um Hilfe gebeten. Und obwohl sie mich schroff behandelt hatte, hatte sie es soeben doch getan. Nie hatte ich sie jammern hören. Und ich würde ihr den Gefallen tun. Das schuldete ich ihr. Sie war meine Freundin. Sie war meine Familie oder kam dem so nahe wie wohl kein zweiter Mensch jemals wieder. Ich war ihre erste, beste und einzige Wahl und jeder, der ein Hirn hatte und etwas taugte, hätte sich über das Vertrauen gefreut. Ginny ließ den müden alten Motor des Nissans aufheulen, die Kolben protestierten mit lautem Knacken und kotzten blauen Qualm in die Luft. Das Auto bewegte sich nicht. Ginny saß hinter dem Lenkrad. Als sie die Tür wieder öffnete, blieb sie einen langen Augenblick sitzen und starrte mich an, bevor sie ausstieg. Sie ließ den Motor im Leerlauf, ging langsam auf mich zu und lächelte müde. »Ben, ich weiß nicht mehr weiter.« Sie legte das Kinn an meine Brust. »Bin so fertig, kann nicht mehr denken.« Dass es ab und zu so sein musste, hatte ich zwar geahnt, aber bisher nie miterlebt. Diese Seite hatte sie mir nie gezeigt. Sie zeigte sie niemandem, vermutlich nicht mal sich selbst. So war sie eben. So ging sie alles im Leben an. Augen geradeaus. Keine Gefangenen. Sie gab kein Pardon und bat auch selbst um keines. »Willst du einen Tipp?« Sie ließ den Kopf an meiner Brust und seufzte tief in mein Holzfällerhemd. »Letztens bin ich bei der Arbeit eingeschlafen. Mit dem Gesicht auf einem Ramsch-Regal, das ich eigentlich auffüllen sollte, und hab geschnarcht wie ein Schwein. Als ich aufgewacht bin, standen ein paar ältere Kolleginnen um mich rum, damit der Chef nichts merkt. Hätte mich sonst gefeuert. Die Frauen haben mich so lange schlafen lassen, wie es ging. War mir superpeinlich.« »Dann tu, was du tun musst.« Ich hätte versuchen können, sie kurz zu drücken, ließ es aber bleiben. Sie hob den Kopf von meiner Brust und schaute zu mir hoch....