Andina / Diemerling | Sechzehn Monate | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 216 Seiten

Reihe: Edition Blau

Andina / Diemerling Sechzehn Monate

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-03973-059-9
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 216 Seiten

Reihe: Edition Blau

ISBN: 978-3-03973-059-9
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



5. März 1944: In Cremenaga, einem kleinen Dorf an der italienisch-schweizerischen Grenze, wird der Schreiner Giuseppe Vaglio von der deutschen SS verhaftet. Er hat Juden und verletzten Partisanen geholfen, den Grenzfluss Tresa zu überqueren und sich in die Schweiz zu retten. Am 6. Juli 1945, sechzehn Monate nach seiner Verhaftung, kehrt Giuseppe zurück: verwundet, abgemagert, auf einem Ohr taub. Bis an sein Lebensende schweigt Giuseppe - er ist der Großvater von Fabio Andina - über das, was er erlebt hat. Im Roman Sechzehn Monate zeichnet Andina das Bild einer Dorfgemeinschaft, die in Kriegszeiten zusammenhält, obwohl der Faschismus einzelne Dorfbewohner vergiftet. Er porträtiert Giuseppes Frau, die fromme Concetta, die versucht, ihre zwei Kinder nie spüren zu lassen, wie verzweifelt sie ist. Und er begleitet Giuseppe auf seinem Leidensweg durch drei italienische Gefängnisse, auf dem Transport nach Mauthausen und durch den Albtraum der KZ-Zwangsarbeit. Nach Kriegsende kehrt Giuseppe zu Fuß nach Cremenaga zurück. Dass er überlebt hat, verdankt er seinem Schreinerberuf und seiner Liebe zu Concetta, an die er Tag und Nacht denkt und von der er weiß, dass sie auf ihn wartet.

Fabio Andina, geboren 1972 in Lugano, studierte Filmwissenschaften und Drehbuch in San Francisco. Heute lebt er im Bleniotal. Sein Roman Tage mit Felice erschien 2020 auf Deutsch, wurde mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. 2021 folgten der zweisprachige Prosaband Tessiner Horizonte -Momenti Ticinesi (mit Zeichnungen von Lorenzo Custer) und 2023 der Roman Davonkommen, der die Vorgeschichte des namenlosen Erzählers von Tage mit Felice enthüllt. Auf Italienisch liegt zudem der Erzählband Sei tu, Ticino? vor. fabioandina.com
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1


In dieser Nacht Ende Januar herrscht strenger Frost. Eine Kaltfront ist von Nordeuropa heruntergezogen und hat sich hier festgesetzt. Giuseppe ist von Cremenaga aus aufgestiegen, auf dem alten Schmugglerpfad, den er in- und auswendig kennt. Er versteckt sich im dunklen Wald von Fabiasco. Hockt an einen Baumstamm gelehnt, zieht seine Jacke fest um sich und beobachtet, wie die Sterne zwischen den windgeschüttelten kahlen Zweigen einander verfolgen.

Er bewegt seine Zehen in den Bergschuhen, hört den Ruf der Eule. Die Hände an den Mund gelegt, antwortet er, und kurz darauf zählt er die Schritte im knirschenden Schnee. Da kommen sie schon, vier schwarze Gestalten mit Koffern, umgeben von grauen Atemwolken.

Eingepackt in seine abgewetzten Kleider, stemmt er sich hoch und gibt zuerst seinem Kollegen die Hand, dann einem schmächtigen kleinen Mann. Die Frau und das Kind bleiben etwas abseits, vielleicht nicken sie ihm knapp zu, schwer zu sagen in dieser Dunkelheit. Sein Kollege kehrt auf demselben Weg zurück, während Giuseppe in die andere Richtung geht, gefolgt von der jüdischen Familie.

Die Tresa fließt zwischen vereisten Ufern unter einer Nebelschicht dahin. Das reißende Wasser umspült Giuseppes Knie. Er hat das Kind auf den Schultern, hält es an den schmalen Knöcheln fest. Am anderen Ufer angekommen, setzt er es ab und sagt ihm, dass es brav bei dem Schweizer Kollegen warten soll. Er vertraut dem Schweizer, der zuverlässig ist und wenig redet.

Jetzt, da dreißig Meter Wasser die Familie trennen, wird der Mann nervös und drängt zur Eile. Giuseppe nimmt die Frau auf den Rücken, sie streckt ihre Beine gerade nach vorn, um nicht nass zu werden.

Dann die Koffer. Giuseppe trägt einen nach dem anderen auf dem Kopf hinüber. Es sind harte Sachen darin, die bei jedem Schritt gegen seinen Schädel stoßen.

Der Mann kommt als Letzter, auch er will nicht nass werden und wiegt wenig.

Sie hatten einen Preis vereinbart, aber sie wollen ihm weniger geben, weil die Schuhe des Mannes durchnässt sind. Der Schweizer sagt, er soll es nehmen, weil es gutes Geld ist.

Giuseppe watet zurück nach Italien, zieht seine Bergschuhe wieder an und versteckt sich in einer Scheune am Waldrand.

Als der Tag anbricht, verlässt er sein Versteck. In der Morgenstille geht er mit einem Tragkorb voll trockener Zweige los. Alles ist weiß. Weiß die Wiesen und weiß die Gärten. Wirsingköpfe mit Hut ragen heraus, auch die Bohnenblätter ragen grau und eingerollt aus dem harten Schnee. Draußen vor dem Stall drängen sich sechs Kühe um die Tränke, drinnen ist der Bauer beim Mistschaufeln zu sehen.

Weiß sind die Dächer, mit viel mehr Schnee auf der Nordseite und blanken Ziegeln rund um die rauchenden Schornsteine. Weiß sind auch die schmalen Straßen des Dorfs, und auf dem gefrorenen Kopfsteinpflaster rutscht man leicht aus.

Die Hände in den Taschen, kommt Giuseppe an der Endstation der Straßenbahn vorbei, die in der Nähe der Zollbrücke liegt. Aus dem Blechabzug des Bahnhäuschens quillt Rauch, der Hund bellt und macht einen Satz auf ihn zu, wird aber von seiner Kette ruckartig zurückgerissen. Die beiden Soldaten von der Guardia Nazionale Repubblicana wärmen sich drinnen am gusseisernen Ofen. Sie stecken die Köpfe heraus. Giuseppe tippt zum Gruß an eine angedeutete Hutkrempe. Oreste, Carmine, sagt er, sie antworten ihm mit einem Nicken.

Giuseppe geht um die Bahnhofsecke und pinkelt, zielt in den gelben Krater, der sich im Schnee bildet. Knöpft sich die Hose zu, zieht einen Geldschein aus der Tasche und lässt ihn fallen.

Kurz darauf kommt ihm Pietro auf dem Fußweg entgegen.

Ich hab gesehen, was du gemacht hast.

Na und, was willst du? Du machst es doch genauso.

Pass auf, Giuseppe, ich warne dich. Wär besser, du würdest bei uns mitmachen.

Bei uns?

Tu nicht so, als wüsstest du von nichts. Ich sag’s dir, weil ich’s gut mit dir meine und mit Concetta.

Du brauchst nichts für mich zu tun, und lass meine Frau aus dem Spiel.

Ich sag’s dir zum letzten Mal, wenn du uns weiter die Kundschaft stiehlst, wird’s eng für dich, sagt Pietro und geht.

Uns, wer? Wenn du mir was zu sagen hast, dann sag’s, ruft ihm Giuseppe hinterher, während an der Ecke vor dem schmalen Durchgang, der auf die Piazza führt, ein Militärlaster auftaucht. Er gerät ins Rutschen, stellt sich quer und bleibt in einem Haufen Altschnee stecken. Zwei Soldaten springen aus dem Führerhaus und schieben, der Wagen kommt wieder in die Spur und fährt weiter.

In der kleinen Küche wärmt sich Nonna Domenica die Füße am Kamin. Nonna Carolina hat einen Schal um die Schultern, sie betet lautlos den Rosenkranz, und Concetta blickt aus dem Fenster im zweiten Stock. Wenn er abends weggeht, um diese Dinge zu machen, kann ich nicht schlafen, sagt sie. Domenica richtet sich auf, ihr Stuhl ächzt unter ihrem Gewicht. In der stillen Küche sind jetzt nur das Knistern des Feuerholzes und das Geschrei der Leute unten auf der Piazza zu hören.

Nach einem Moment geht Concetta vom Fenster weg und setzt einen Topf voll Wasser auf den Holzherd.

Kommt er?, fragt Domenica.

Hm, macht Concetta, öffnet die Herdklappe, schürt das Feuer und klopft dann an die Tür des Zimmers, in dem ihre Schwester schläft. Arnalda, ruft sie. Wach auf, der Tee ist fertig.

Als das Wasser kocht, nimmt Concetta den Topf vom Feuer und wirft eine Handvoll getrocknete Blüten und Kräuter hinein. Sie schwimmen oben, saugen sich voll und sinken ab. Ein Duft von Minze, vielleicht auch von Hornklee und Melisse, steigt auf.

Zia Arnalda kommt in die Küche, der Holzdielenboden knarrt, und während sie sich die Brille mit einem Taschentuch putzt, kommt auch Giuseppe nach Hause. Er küsst Concetta auf den Mund und seine Mutter Domenica auf die Stirn, dann sieht er nach den Kindern. Maria Pia und Benedetto schlafen noch. Beide im selben Bettchen, das er selbst gezimmert hat. So halten sie sich gegenseitig warm.

Mithilfe eines kleinen Aluminiumsiebs, das die Blätter und Blüten auffängt, gießt Concetta den Tee in die Tassen. Nonna Domenica packt die Armlehnen des Stuhls und holt mit dem Oberkörper Schwung, um sich auf die Beine zu hieven.

Warte, ich helfe dir, sagt Arnalda und fasst sie unter den Achseln.

Lass nur, lass, das geht schon, sagt Domenica, ist immer nur am Anfang, dann geht es. Na also, sagt sie, dreht den Stuhl zum Tisch herum und setzt sich wieder. Nonna Carolina beendet ihre Gebete, bekreuzigt sich und nimmt die Tasse mit beiden Händen.

Sie sitzen am Tisch, pusten nachdenklich in ihren Tee. Arnalda sagt nicht, dass am Abend zuvor welche in die Fabrik gekommen sind, Fragen gestellt und den Direktor verprügelt haben. Giuseppe erzählt nichts von Pietro, der ihm ständig droht, und auch nichts von den deutschen Soldaten, die ihn angehalten haben, denen er weisgemacht hat, dass er Holz für den Kamin sammeln war, weil es kalt ist, uh, ist das kalt, hat er gesagt und sich die Hände gerieben.

Nonno Ponziano kommt ohne anzuklopfen herein, mit einem noch warmen Laib Brot. Er küsst seine Frau Domenica auf die Wange und setzt sich an den Tisch. Ich war in der Bar, sagt er. Antonio hat gesagt, dass gestern die Deutschen in die Ercole Comerio in Busto Arsizio gekommen sind und ein Dutzend Leute aus der Fabrik mitgenommen haben.

Kommt er nicht frühstücken?, fragt Carolina.

Deinen Mann kriegt man nicht mal vom Radio weg, wenn man ihn dafür bezahlt.

Verhaftet wegen der Streiks?, fragt Giuseppe.

Ja, wegen der Streiks.

Wen haben sie mitgenommen?

Leitende Angestellte, Arbeiter.

Dreckschweine.

Wer Wind sät, wird Sturm ernten, sagt Ponziano, während er das Brot in Scheiben schneidet. Aber wir müssen aufpassen, Kinder, ständig werden Leute abgeführt.

Mitten in der Nacht, das Mondlicht fällt durch die Vorhänge und erhellt das Zimmer. Ein Schrank, zwei Stühle mit Kleidern darauf und das Ehebett.

Was denn jetzt schon wieder, sagt Concetta, die aufgewacht ist. Auch Giuseppe wird wach und geht zum Fenster. Vier Lastwagen stehen auf der Piazza, sie wenden und hinterlassen Furchen im Schnee. Zahlreiche Soldaten samt einigen Hunden springen heraus. Einer brüllt, die anderen stellen sich in Reih und Glied, die Hunde bellen, und im Zimmer nebenan wachen die Kinder auf.

Giuseppe nimmt Benedetto in den Arm, während Maria Pia sich zu Concetta legt. Als die beiden Kinder wieder eingeschlafen sind, trägt Giuseppe sie zurück in ihr Bett. Er setzt sich aufs Ehebett, es ächzt ein wenig. Still streckt er seine Hand aus und streichelt Concetta über die Stirn.

Da ist eine Spinne, sagt sie. Die Spinne sitzt reglos an der Wand neben dem Kruzifix mit dem Olivenzweig. Giuseppe nimmt sie in die hohle Hand, öffnet das Fenster und lässt sie frei. Ein Soldat sieht zu ihm hinauf, Giuseppe hält seinem Blick stand, dann schließt er das Fenster, und sie verbringen eine schlaflose Nacht.

Früh am Morgen, im Wald über Cremenaga, arbeitet Pietro eilig mit Schaufel und Spitzhacke. Er gräbt Löcher am Rand des Saumpfads, der hier auf eine kleine Holzbrücke mit wackeligem Geländer trifft. Unten schäumt weiß das Wasser, das seit ewigen Zeiten durch die tiefe Schlucht voll noch eisüberzogener Felsen strömt.

Ein Maultier mit einem Karren ist an einen Baum gebunden. Lange Holzpfähle und eine Rolle schwerer Drahtzaun liegen auf dem harten Schnee.

Im Tal fällen Nonno Ponziano und der Küster Massimo eine abgestorbene...



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