E-Book, Deutsch
Andreas-Salome Das Haus
1. Auflage, Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst 2016
ISBN: 978-3-95870-552-4
Verlag: nexx verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eine Familiengeschichte
E-Book, Deutsch
ISBN: 978-3-95870-552-4
Verlag: nexx verlag
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Lou Andreas-Salomé (1861-1937) war eine weitgereiste Schriftstellerin, Erzählerin, Essayistin und Psychoanalytikerin aus russisch-deutscher Familie mit hugenottischen Vorfahren. Sie war mit Nietzsche befreundet und lebte später mit Rilke zusammen.
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Erster Teil
Erstes Kapitel
Das Haus lag an der Berglehne und überblickte die Stadt im Tal und langgestreckte Höhen jenseits davon. Von der Landstraße, die sich in großem Bogen den Bergwald hinaufwand, trat man gleich ins mittlere Stockwerk ein wie zu ebener Erde: so tief dem Berg eingebaut hatte das kleine weiße Haus sich.
Auf ihn gestützt aber sah es nach dem abfallenden Garten zu umso freier hinaus über die Weite; mit sehr vielen hellen Fensteraugen bis tief hinab, mit keck vorspringenden Erkern, Ausbauten der ursprünglich zu wenig umfangreichen Gemächer, was ihm freilich eine etwas wunderliche Architektur, doch auch Anmut und Leichtigkeit verlieh – fast, als raste es da nur.
Über dem mittleren Erker schob sich zuoberst ein Altan breit vor ins baumbepflanzte, winterliche Gartenland, das eine Steinmauer, alt und bemoost, umschloss. Die Altantür stand trotz der frühen Morgenstunde schon weit geöffnet. Auf der Schwelle, das Gesäß vorsichtig ins warme Zimmer gedrückt, saß eine bejahrte kleine Hündin und blinzelte schläfrig nach den ab und zu schwirrenden hungrigen Vögeln, wie ein verwöhntes Hauskind sich bettelndes Gassenvolk betrachtet. In ihr selbst hatten sich zwar die verschiedensten Hundegeschlechter ein nichts weniger als aristokratisches Stelldichein gegeben, wie ihr Dackelgebein, ihr Mopsrumpf und ihr Terrierkopf verrieten – eine Vielseitigkeit, die noch vervollständigt wurde durch ein ferkelhaftes Ringelschwänzchen an ihrem anderen Ende. Weitaus das Merkwürdigste an dem kleinen Ungetüm jedoch blieb, dass es Salomo hieß. Jedermann erstaunte hierüber, außer der Tochter des Hauses, die auf diesem männlichen und königlichen Weisheitsnamen bestanden hatte, trotzdem Salomo ihr einst in hochträchtiger Verfassung zugelaufen war, worauf er vier gesunde Pinscher zur Welt brachte.
Die Vögel vollführten einen gewaltigen Lärm. Denn Finken und Blaumeisen, Rotkehlchen und Hänflinge, Grasmücken und andere noch scharten sich auf dem Altan um freihängenden – dadurch der Sperlingskonkurrenz enthobenen – Speck, sowie einen Napf mit Wasser, das wenige glimmende Kohlen in der Topfscherbe darunter vor dem Zufrieren schützten. An der Altantür aber stand die Hausfrau und warf überdies, fröhlich, emsig Körnerfutter hinaus.
Salomo trug seine richtiggehende Uhr im Leibe: nach der hatte man längst beim Morgenfrühstück zu sitzen. Glücklicherweise für ihn zog der Herr des Hauses jetzt seine aus der Westentasche: ins Zimmer tretend, gab er Salomos stummem Tadel entrüsteten Ausdruck.
»Na, Salomo, was sagst du dazu?! Über der Tochter Vogelvieh vergisst die Anneliese uns, ihre beiden hungrigen Hauptspatzen?«
Schon in einer Stunde musste er unterwegs sein in die gynäkologische Klinik der Stadt. »Eine Pedanterie, sich nicht an den Frühstückstisch setzen zu wollen ohne seine Frau!« meinte er selber oft, aber er meinte auch: »Ärzte, diese Überbeschäftigten, müssten an einigen schönen Pedanterien festhalten, sonst würden sie unversehens wieder zu Junggesellen.«
So holte er sich denn die Frau weg, um hinabzugehen in die unteren Wohnräume, wobei er seinen Arm durch den ihren schob. Anders – so wie es ehedem noch Mode gewesen, als sie einander fanden – hätte es sich weit schlechter gemacht: um ein so beträchtliches Stück war er kleiner gewachsen als sie.
Salomo folgte ihnen auf dem Fuß. In der Messstabe, vor deren Fenstern große Bäume verschneite Zweige wiegten, hatte er beim grün glasierten Kachelofen seinen Thron, einen umgestülpten Korb mit darauf befestigtem Kissen, denn Salomo saß gern hoch und übersah die Lage und nicht zum wenigsten den Esstisch, der ihm schon morgens hocherfreulichen Anblick bot: wo reichlicher Imbiss des Hausherrn wartete, der an den Wochentagen erst abends Zeit fand zum Mittagsmahl daheim.
Anneliese hatte sich bereits gesetzt – da kehrte sie sich plötzlich um zum Manne, der neben ihr stand. Sie fasste nach seinem Arm, drückte ihr Gesicht daran, es unwillkürlich senkend. Als er sich niederbeugte und es zu sich emporhob, standen ihre Augen in Tränen.
»Lieselieb!« sagte er nur, aber der Kosename, der einzige, mit dem er sie rief seit ihrer Brautzeit, klang wie Bitte und Mahnung zugleich. Da schwieg sie von dem, was sie weinen machte.
Ein Tag des Gedenkens – der Geburtstag ihres dritten Kindes, das ihnen vor Jahren starb. Leise hatte er gehofft, sie würde sich nicht sogleich daran erinnern, als er vorhin ihr morgenhelles Gesicht gesehen – draußen im Vogelschwarm.
Seit der Trauer um Lotti ging Anneliese nur noch in grauen oder braunen Kleidern umher. Und doch sah er an ihrer blonden, kraftvollen Frauenerscheinung die frohen Farben am liebsten.
Neben den beiden Gedecken lag die Frühpost. Er reichte Anneliese den Brief, den er während des Wartens am Tisch gelesen hatte.
»Lies!« sagte er. »Lauter Gutes. Gitta schon auf dem Rückweg von den Verwandten, von ihrer ›Examen-Belohnung‹, wie sie es im Brief stolz nennt. Trifft also wohl noch vor Balduin ein. Der allerdings sollte vielleicht noch mal kurz fortgehen – nach Weihnachten. Denn offenbar ist dies Erholungsheim gerade das Richtige für ihn gewesen. Nicht umsonst rühmten die Kollegen mir den leitenden Direktor so sehr.«
Anneliese griff lebhaft nach dem Brief, sie bemerkte:
»Gestern, bei Professor Läuer, da sprachen sie auch so angenehm über unseren Balder. Ganz eingenommen hat er die alten Schulpäpste durch den Übereifer, womit er sein Abiturium nachholte! Jetzt begreifen sie's, dass du ihn zugabst, den kostspieligen Hausunterricht, für ihn, den schlechtesten ihrer Schüler! Der nun doch noch der jüngsten Studenten einer wird! Ich saß und tat beide Ohren auf und labte mich.«
»Ja, ja. – Aber nun?! Warum labt er sich nicht an dem, was er hinterdrein mit so wütender Energie bei sich selbst durchgesetzt hatte? Warum im Handumdrehen wieder der Ekel daran? – Das ist nicht nur Überarbeitung. Ja – wenn der Junge stetig auszuschreiten verstünde anstatt hin und wieder zu fliegen.«
Man konnte sehen, wie die fröhliche Nachricht von der Tochter für den Augenblick zurücktrat vor der Sorge um den Sohn. Die Falten im bartlosen Gesicht vertieften sich, das sich ohnehin bereits reichlich durchfurcht ausnahm. Dennoch wirkte der ganze Mensch auch jetzt jung. Die Augen an ihm blickten jung, und auf wen sie sich richteten, an dessen Jugend schienen sie sich zu wenden.
Anneliese war ganz bei Gittas kurzem Brief, aber auch der unerwartet sorgenvolle Ton kam ganz bis zu ihr, und er riss sie förmlich fort davon, rief ihre eigne Hoffnungsbereitschaft zur Antwort auf.
»Ach, Frank, lass gut sein! Wer weiß –: vielleicht lernt mancher nur spät und schwer gehen, der einmal zu hohem Flug bestimmt ist –«
Eine Spur von Überschwänglichkeit klang mit – klang aus dem Gewählten, Geschwellten der Worte.
Und nicht nur aus den Worten. Ihr über die Teetasse gebeugtes Gesicht verriet es – diese verräterische Haut der rötlichen Blondinen, bei der man die Blutwellen kommen und gehen sieht selbst in der leisesten Erregung. Auf diesem Farbenspiel, das gewissermaßen noch weiterredete in die Stille zwischen ihnen, ließ der Mann den Blick ruhen. Und auf den beinahe mattvioletten Schatten, die das wellige Haar dazu am Stirnansatz warf und hinten über dem Nacken – was ihm immer von neuem so gut gefiel. Er meinte manchmal, es sei das allererste gewesen, was ihm an Anneliese aufgefallen war, als sie einander entgegentraten.
Seine Frau prüfte nur flüchtig die übrige Post, las eine Karte.
»Also Helmold geht wirklich fort. – Wird dir fehlen unten in deiner Klinik. – Ob auf so lange, wie er denkt? Ich glaube: er kommt wieder!«
Das pfiffige Gesicht, womit sie diese Behauptung aussprach, nach dem Pathos von soeben, machte ihn lachen.
»Oh Kupplerinnen! Selbst du!« antwortete er und stopfte sein Pfeifchen mit Türkentabak. »Aber ich fürchte sogar, als Backfisch schwärmtest du wirklich für Marlittsche Reckengestalten mit goldblonden Bärten. Daher vielleicht.«
»Helmold hat mehr als blonden Bart und lange Beine. Und sollte Herr Doktor Frank Branhardt nicht selber den größten Narren an ihm gefressen haben?« fragte sie fröhlich. »Manchmal scheint er mir dir über deine leiblichen Kinder zu gehen – jedenfalls schon ›ein Sohn‹ zu sein.«
Branhardt konsultierte nochmals seine Uhr und erhob sich. »Frauenlogik! Eben darum! Darum soll er sich jedenfalls noch ganz gehörig Wind um die Ohren blasen lassen, ehe er den Kopf in die Schlinge steckt. Wird mal ein erstklassiger Chirurg! Unsinn, sich so früh zu binden.«
Auf diese Ansichtsäußerung lachte Anneliese über das ganze Gesicht. Sie stand auf, und etwas von übermütiger Herausforderung, ihrer sonstigen Art sichtlich Fernliegendes, verfing sich in den Klang der Worte, mit denen sie dem Mann zum Abschied ihren Kuss gab.
»Frank, du Armer! Dass du dich gar so früh binden musstest!«
Ihre Augen kreuzten sich mit den seinen in der gleichen, plötzlich hochschlagenden Erinnerung und Wärme. In beiden Menschen erstand der gleiche stolze Wunsch: Wie wir es gehabt, geradeso möge es unsern Kindern zuteilwerden!
Ungern trennten sie sich.
Während Branhardt aber durch den Garten ging, dachte er bei sich: Vielleicht würde ja sein Interesse an dem jungen,...