E-Book, Deutsch
Andreas-Salome Fenitschka und Eine Ausschweifung
1. Auflage, Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst 2016
ISBN: 978-3-95870-553-1
Verlag: nexx verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zwei Erzählungen
E-Book, Deutsch
ISBN: 978-3-95870-553-1
Verlag: nexx verlag
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Lou Andreas-Salomé (1861-1937) war eine weitgereiste Schriftstellerin, Erzählerin, Essayistin und Psychoanalytikerin aus russisch-deutscher Familie mit hugenottischen Vorfahren. Sie war mit Nietzsche befreundet und lebte später mit Rilke zusammen.
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Eine Ausschweifung
Hier in meinem lichten Atelier ist es endlich zur Aussprache zwischen uns gekommen, und nirgends anders durfte es auch sein – denn von sämtlichen Männern, die ich gekannt, gehörst du am engsten und intimsten in alles das hinein, was mich als Künstlerin angeht: mehr vielleicht noch, wie wenn du selbst ausübender Künstler wärst. Wenigstens kommt es mir immer vor, als übte ich mit Kunstmitteln das ein wenig aus, was du mit dem ganzen Leben lebst, in deiner reichen Art, die Dinge voll und ganz zu nehmen und ihnen zu lebendiger Schönheit zu verhelfen. Für solch ein volles, ganzes Ding nahmst du auch mich, und liebtest darum mich vor allen andern – ich weiß es wohl. In meinen Bildern und Skizzen, denen niemand so fein nachgegangen ist wie du, schien dir mein ganzes Ich enthalten zu sein, und dahinter – ach dahinter lag nur eine alte Jugendschwärmerei, die kaum von der Wirklichkeit berührt worden ist. Du hast darin ja auch recht. Und doch – und doch –? Warum trennten wir uns dann bis auf weiteres, warum gehst du jetzt umher mit zögernder, halb schon versagender Hoffnung auf unsre Zukunft – und ich, anstatt in fröhlicher Arbeit vor meiner Staffelei zu stehen, warum sitze ich hier am Tisch gebückt, tief gebückt, und schreibe und schreibe, in allen Nerven gebannt vom Rückblick in meine Vergangenheit? Oder warum dann dein Argwohn, und mein Eingeständnis, dass ich nicht mehr kann, was ich so heiß möchte – nicht mehr mit voller Kraft und Hingebung lieben kann, grade als ob ich ein aufgegebener, erschöpfter Mensch wäre?
Handelte es sich um Überwindung von Vorurteilen, um zu vergebenden Leichtsinn und Fehl im üblichen Sinn – o handelte es sich doch darum! Du, so ohne Bedenklichkeit zweiten Ranges, du, der jegliches versteht und mitfühlt, würdest mir dadurch nicht verlorengehen. Aber das ist es nicht, und dennoch ist es so: mich hat eine lange Ausschweifung zu ernster und voller Liebe unfähig gemacht.
Jetzt, wo ich mir das klarzumachen versuche, kommt der Gedanke voll Erstaunen über mich: wieviel weniger unser Leben von dem abhängt, was wir bewusst erfahren und treiben, als von heimlichen, unkontrollierbaren Nerveneindrücken, die mit unsrer individuellen Entwicklung schlechterdings nichts zu schaffen haben. Seit ich überhaupt denken kann, seit ich von eigenen Wünschen und Hoffnungen bewegt werde, bin ich der Kunst entgegengegangen, habe ich mich an ihr entzückt oder um sie gelitten, und lange noch ehe ich mich ihr wirklich widmen durfte, in irgendeinem Sinne schon im Umkreis der ihr verwandten Sensationen gelebt. Und trotzdem würde jetzt, wollte ich dir mein Leben erzählen, von der Kunst kaum die Rede sein, und kaum würde sie ärmlichsten Raum finden, riesengroß aber müsste in den Vordergrund treten, was doch in meinem individuellen Bewusstsein kaum existiert und was mir selbst immer schattenhaft undeutlich geblieben ist.
An einem heißen Sommertag, weit hinten an der deutschgalizischen Grenze, wo mein Vater damals in Garnison stand, saß ich einst als ganz kleines Mädchen auf dem Arm meiner früheren Amme und sah zu, wie sie von ihrem Mann über den Nacken geschlagen wurde, während ihre Augen in verliebter Demut an ihm hingen. Der kraftvolle gebräunte Nacken, den sie der Hitze wegen offen trug, behielt einen tiefroten Striemen, doch als ich im Schrecken darüber zu weinen anfing, da lachte meine galizische Amme mir so glückselig ins Gesicht, dass mein Kinderherz meinen musste, dieser brutale Schlag gehöre zweifellos zu den besonderen Annehmlichkeiten ihres Lebens. Und vielleicht war es in der Tat ein wenig der Fall, denn weil sie sich, mit der fast hündischen Anhänglichkeit mancher slawischen Weiber, geweigert hatte, unser Haus zu verlassen, nachdem sie mich neun Monate lang mit ihrer Muttermilch genährt, fürchtete sie nun immer, ihr Mann möchte einmal aufhören, zu ihr zu kommen, und weder Liebe noch Zorn für sie übrigbehalten. Jedenfalls prügelte er sie oft, wenn er kam, und niemals tönten ihr die Volkslieder heller von den Lippen als nach solch einem festlichen Wiedersehen.
Viele früheste Kindheitserinnerungen vorher und nachher – ja selbst noch jahrelang nachher – sind mir spurlos verblichen. Aber etwas von der fast wolllustweichen Demut im Ausdruck der Blicke und Gebärden meiner Amme in jenem Augenblick ist mir später oft noch im Gedächtnis wieder aufgetaucht, immer zugleich mit dem glückseligen Klang ihres gedämpften Lachens und mit dem Eindruck der brütenden Sonnenwärme um uns. Wer will abwägen, wie unendlich zufällig, wie rein äußerlich bedingt es vielleicht ist, wenn mir bei dieser Erinnerung zum ersten Mal ein wunderlicher Schauer über den Rücken gelaufen sein mag? Sind es aber nicht tausendfach Zufälle, die unser verborgenstes Leben mit heimlicher Gewalttätigkeit durch das prägen, was sie früh, ganz früh, durch unsre Nerven und durch unsre Träume hindurchzittern lassen? Oder liegt es vielleicht noch weiter zurück, und zwitschert uns, schon während wir noch in der Wiege schlummern, ein Vögelchen in unsern Schlaf hinein, was wir werden müssen und woran wir leiden sollen? Ich weiß es nicht – vielleicht ist es auch weder eines Zufalls noch eines Wundervögelchens Stimme, die es uns zuraunt, sondern längst vergangener Jahrhunderte Gewohnheiten, längst verstorbener Frauen Sklavenseligkeiten raunen und flüstern dabei in uns selber nach: in einer Sprache, die nicht mehr die unsre ist und die wir nur in einem Traum, einem Schauer, einem Nervenzittern noch verstehen.
Meine Eltern sah ich immer nur in wahrhaft musterhafter Ehe – in einer jener Ehen, die gewiss selten genug vorkommen, wo das heranwachsende Kind in seiner intimen Umgebung fast nichts wahrnimmt als wohltuende Harmonie ohne Erregungen. Mit dieser Harmonie verhielt es sich aber so: mein liebes Mütterchen tat alles, was mein Vater wollte, er aber alles, was ich wollte. Seiner ursprünglichen Abstammung nach vielleicht wendischen Blutes, war er von beiden der Temperamentvollere, Glänzendere, voll von künstlerischen, wenn auch vernachlässigten Anlagen und der unsinnigsten Zärtlichkeit für das einzige Kind, das auffallend seiner eignen Familie mit ihrem dunklen Ton und ihrer fast südlichen Blässe nachschlug. Er gab mir mit Enthusiasmus den ersten Zeichenunterricht und dispensierte mich von allen bürgerlichen Kleinmädchenbeschäftigungen. Meine gute Mutter schüttelte wohl manchmal über uns beide den Kopf, doch da ich an Heftigkeit des Temperaments und der Wünsche dem Vater am meisten glich, so liebte sie mich am hingebendsten grade in dem, worin ich ihr am fremdesten war, und hieß alles gut. Ich aber ging inzwischen umher und diente glückselig jedem leisesten Wink dieser Eltern, deren Liebe in mir zusammenlief und alles nach ihrem Willen aus mir hätte formen können wie aus erwärmtem Wachs, das dem zartesten Druck nachgibt.
In meinem siebzehnten Jahre wurden wir von der galizischen Grenze nach Brieg in Schlesien versetzt und bezogen dort die schöne Obristenwohnung im Villenviertel unten am Fluss. Von Brieg aus sollte ich noch weiter fort, ich sollte nun endlich unter der Leitung eines tüchtigen Lehrers der ersehnten Kunst zugeführt werden. Von diesem Plan träumten mein Vater und ich auf das ernstlichste, doch kam es ganz anders, weil er zu kränkeln anfing, so dass keine Rede davon sein konnte, ihn zu verlassen. Ich aber – ich verliebte mich über Hals und Kopf in meinen Vetter Benno Frensdorff.
Von Benno hatte ich seit meiner Kindheit viel im Hause sprechen hören, und immer im Tone außergewöhnlicher Achtung. Er war, früh verwaist, mit Hilfe meiner Eltern erzogen worden und fiel schon als Knabe durch den unheimlichen Fleiß auf, womit er, immer um bezahlte Nachhilfestunden bemüht, das Gymnasium absolvierte. Dann studierte er Medizin und befand sich jetzt als Hilfsarzt in der Kreisirrenanstalt von Brieg, wo ich ihn zum ersten Mal kennenlernte.
Die vorzüglichen Eigenschaften, die man an ihm rühmte, hatten mir nur einen ganz vagen Eindruck gemacht. Aber eine andre seiner Eigenschaften tat es mir augenblicklich an: Benno war schön. Schöne Menschen sind immer mein ganzes Entzücken gewesen, und wenn auch mein künstlerischer Geschmack heute etwas andres darunter versteht als damals, so muss ich doch Benno auch heute noch zugeben, dass er in seiner jungen Männlichkeit, mit dem ernsten blonden Kopf und dem hohen Jünglingswuchs, wie man ihn nicht oft findet, ganz auffallend gut aussah. Wenigstens stach er genugsam von den geschniegelten Referendaren und Lieutenants ab, die auf der Eisbahn und in den Kaffeekränzchen uns jungen Mädchen den Hof machten, und es gab ihm schon etwas Apartes, dass er durchaus keine Zeit fand, mit uns Schlittschuh zu laufen und Kaffeekränzchen zu besuchen, sondern schweigsam beiseite stand und durch seine Brillengläser jeden daraufhin zu beobachten schien, ob er nicht auch in sein Narrenhaus gehöre.
An Benno bin ich in einem erotischen und ästhetischen Rausch zum Weibe erwacht; meine Neigung zu ihm war so zutraulich und leidenschaftlich zugleich, dass in mir, die ja auch nur Liebe gekannt hatte, nie der geringste Zweifel an seiner Gegenneigung entstand, obgleich Benno mich nicht stark beachtete. Er hat mir später gesagt, eine Werbung um mich sei ihm bei seinen geringen Zukunftsaussichten und bei seiner scheuen Dankbarkeit gegen meine Eltern stets ganz toll und undenkbar erschienen. So kam es denn, dass im Grunde ich um ihn warb; mit berauschter Zuversichtlichkeit ging ich ihm entgegen, näher, immer näher, und in kurzem war ich seine Braut.
Sich so zu verlieben hätte wohl auch einer andern passieren können, selbst mit anderem Temperament als meines. Dass diese Liebe...