Andreas-Salome | Ruth | E-Book | www.sack.de
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Andreas-Salome Ruth


1. Auflage, Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst 2016
ISBN: 978-3-95870-558-6
Verlag: nexx verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

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Ruth ist die Geschichte einer jungen Waisen, die zu Beginn bei nahen Verwandten lebt. Mit zarten sechzehn Jahren erregt sie das Interesse des Lehrers Erik, der sie bei sich zuhause aufnimmt und sich in sie verliebt. Die emotional erzählte Geschichte soll biografische Züge haben und gilt als das wichtigste Werk der Schriftstellerin.

Lou Andreas-Salomé (1861-1937) war eine weitgereiste Schriftstellerin, Erzählerin, Essayistin und Psychoanalytikerin aus russisch-deutscher Familie mit hugenottischen Vorfahren. Sie war mit Nietzsche befreundet und lebte später mit Rilke zusammen.
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2. Kapitel


Erik saß bei Ruths Onkel und Tante im Empfangssalon, hielt Hut und Handschuhe auf den Knien und blickte nachdenklich darauf nieder, während er dem Gespräch der beiden zuhörte.

»Ich finde, mit deiner Reise stimmt es gut zusammen, Mathilde,« sagte der Onkel jetzt, »denn während du mit Liuba in Wiesbaden bist, ist Ruth grade so ganz unbeaufsichtigt hier. Ich weiß ohne dies nicht, was die Kleine mit den langen Ferien anfangen soll, da in diesem Jahr die meisten Bekannten nicht aufs Land, sondern ins Ausland gehen.«

Erik besaß ein scharfes Auge für die Außenseite von Menschen und wurde stark durch sie beeinflusst. Der Onkel mit seinem aschblonden, schon etwas graugemischten Haar und Bart, mit den schmächtigen Schultern seiner elegant gebauten Gestalt und den frauenhaft feinen Händen gefiel ihm recht gut. In Ton und Haltung erinnerte er ein wenig an Ruth. Dagegen empfand Erik gegen die Tante eine ausgesprochene Antipathie.

»Solche Besuche bei allerlei Bekannten auf dem Lande wären auch jetzt durch aus keine geeignete Beschäftigung für Ruth,« bemerkte er aufblickend; »sie muss zu tun haben, – wirkliche Arbeit und Anstrengung muss sie haben. Selbst körperliche oder geistige Überanstrengung wäre noch besser als Mangel an Beschäftigung. In diesen Jahren braucht man starke Nahrung, und Ruth braucht sie am meisten.«

»Siehst du; was sage ich immer?« fiel die Tante ein, und nickte ihrem Mann bedeutsam zu; »ich sage immer: man lässt sie viel zu viel gewähren. Aber du hast das immer am bequemsten gefunden.«

»Lieber Gott! was wolltest du denn auch mit solchem kleinen Frauenzimmer anfangen,« versetzte der Onkel begütigend, »man konnte sie doch nicht etwa anstellen, Stuben zu scheuern?«

»Nein, weißt du, lieber Louis! das brauchst du nur wirklich nicht vorzuhalten, – es ist ja grade, als ob ich Ruth Dinge verrichten ließe, die sich nur für den niedrigsten Dienstboten schicken!« sagte seine Frau, die scherzende Übertreibung unerbittlich ernst nehmend, »aber sich ein wenig im Häuslichen umsehen, – das hätte Ruth ganz wohl können. Liuba wird ja auch dazu angehalten. Es ist doch nun einmal der Beruf der Frau.«

Erik betrachtete mit schlecht verhehltem Spott in den Augen die große, stattliche Erscheinung der Tante, für deren ganzes Wesen ihm charakteristisch erschien, dass die gewohnten guten Formen des äußern Benehmens einen gewissen Mangel an natürlicher Grazie nicht zu verdecken vermochten.

»Was das anbetrifft,« unterbrach er sie ungeduldig, »so brauchen Sie sich dieser Versäumnis wegen nicht weiter anzuklagen. In einem so von allen Seiten bedienten Hause bleibt die sogenannte ›häusliche Hilfe‹, bestehe sie nun im Blumenbegießen oder Kaffeekochen, im besten Fall eine gleichgültige Spielerei, – im schlimmeren Fall weckt sie die Einbildung, man habe etwas geleistet. Dagegen hätt' ich gegen das Stubenscheuern nicht viel einzuwenden.«

Der Onkel lachte erfreut auf. »Jetzt haben Sie es aber mit meiner Frau gründlich verdorben!« drohte er scherzend, »aber ich muss bekennen, dass ich gar nicht begreife, warum Sie alle beide so versessen drauf sind, Ruth ins Joch zu spannen. Natürlich hab' ich nicht das Geringste gegen den Unterricht, den Sie vorhin als wünschenswert vorschlugen, – im Gegenteil, es freut mich für die Kleine. Aber ich möchte Sie doch bitten, das mit dem Stubenscheuern auch nicht einmal symbolisch auszuführen. Nicht ins Geistige zu übertragen. Machen Sie es nur nicht zu ernsthaft. Ruth ist es so gewohnt, umherzulaufen und in ihrer Faulheit vergnügt zu sein.«

»Ich glaube, Sie täuschen sich,« entgegnete Erik in bestimmtem Ton. »Ruth ist weder faul noch vergnügt. Sie ist es gewohnt, sich in einem selbstgemachten Traumdasein vollständig zu erschöpfen. Sie ist dadurch zum Teil ihrem Alter vorausgeeilt, zum Teil aber auch hinter ihrem Alter zurückgeblieben. Ich habe noch nie eine so ungleiche Entwicklung gesehen. Wenn sie nicht rechtzeitig aufgehalten wird, so läuft Ruth Gefahr, an ihrer Phantasie geistig zu erkranken.«

Der Onkel schüttelte verwundert den Kopf.

»Das ist doch kurios,« sagte er, »ich habe Ruth stets für ein höchst praktisches kleines Frauenzimmer gehalten. Von Phantasie war doch nie eine Spur an ihr zu bemerken. Alles was sie sagt, ist ja so direkt und nüchtern. Und am liebsten sagt sie gar nichts. Sie sollten nur wissen, wie nüchtern sie in allem ist, wo die jungen Mädchen sonst ihre Phantasie sitzen haben! Das hat mir stets so gut gefallen. Da kann Liuba gar nicht mitkommen.«

Seine Frau sah ihn verletzt an.

»Glücklicherweise nicht!« bestätigte sie etwas erregt. »Liuba würde nicht umhergehen wie in einen grauen Sack gekleidet, bloß weil es so am bequemsten ist. Und überhaupt – denken Sie nur, neulich hör ich, wie meine Tochter zu Ruth sagt: ›pass nur auf, wenn du ein Jahr älter bist, dann wirst du schon wissen, was schön und hässlich ist, und wirst vorm Spiegel fragen: Wie gefall' ich ihm?‹ – – Mein Gott, Sie wissen ja, wie junge Mädchen so unter einander reden! Aber was antwortet Ruth drauf? Sie lacht nur, und dann fragt sie erstaunt: ›Warum nicht lieber: wie gefällt er mir?‹«

In diesem Augen blick ging die Tür auf, und Ruth trat ein.

Sie kam aus ihrem Zimmer, ohne eine Ahnung, dass sie Besuch vorfinden würde. Als sie so unerwartet Erik erblickte, fuhr sie zurück und wurde glühend rot.

Diese plötzliche Anwesenheit seiner Person inmitten der Ihrigen, die ihr so fern standen, – die unerwünschte Vermischung eines sie ganz erfüllenden Bildes mit der Umgebung, die sie mied und floh, machte einen ganz seltsamen Eindruck auf sie. Etwa so, wie wenn eine Traumgestalt aus herrlichen Phantasien ins wirkliche Leben niedersteigt, um ein banales Gespräch zu führen; – etwa so, wie wenn man das Intimste, was nicht einmal Worte besitzt, in die Sprache des Pöbels übersetzt findet.

Dass Erik herkommen, dass er sich überhaupt mit ihren Verwandten auseinandersetzen musste, das fiel ihr nicht im Geringsten ein. Er hätte das schon so einrichten müssen, dass es eine Angelegenheit aus einer andern Welt – aus ihrer Welt blieb. Sonst wäre sie lieber noch des Nachts heimlich und auf bloßen Füßen zu ihm gelaufen.

Entsetzlich rot und linkisch sah sie aus, wie sie sich da, verlegen und mit scheuem Gesicht, in die Türspalte drückte. Aber nicht Verlegenheit empfand sie, sondern eine unentwirrbare Mischung von Zorn und Scham, – Scham darüber, dass etwas Zartes, ihr Zugehöriges vor fremden Augen herumgezeigt und besprochen wurde.

»Nun, Ruth, benimmt man sich so?« bemerkte die Tante verweisend, »kannst du nicht näher kommen?«

Da tat sie etwas Wunderliches. Sie hob beide Hände seitlich vor die Augen, und so, mit scheuklappenartig verdecktem Gesicht, ging sie, wie ein Kind, das sich vor fremden Gästen fürchtet, durch das Zimmer bis vor den geschnitzten runden Sofatisch, um den sie saßen.

Der Onkel lachte, seine Frau schüttelte missbilligend den Kopf und sagte strafend: »Ein so großes Mädchen!«

Erik, der bei Ruths Eintreten den Kopf nach ihr gewandt hatte, blickte sie schweigend und aufmerksam an. Als sie dicht neben ihm stand, hob er die Hand und zog ihr die Hände vom Gesicht fort. »Warum willst du mich heute nicht ansehen, Ruth?« fragte er sie.

Sie antwortete nicht. Noch war sie sehr rot und hielt die Augen zu Boden gesenkt. Dieses »Du«, das er zu ihr sagte, und das sie gestern so dankbar hingerissen hatte, verletzte sie heute beinahe. Es klang ganz anders – hier, an dieser Stelle, – es klang wie die Anrede, die man einem Kinde gegenüber wählt, das unter lauter Erwachsenen dasteht. Ja, sie stand ihm und den andern gegenüber, und sie verhandelten da über sie, als wäre sie verraten und verkauft, – als handelte sich's gar nicht um ihre – ihre eigne, eigenste Angelegenheit.

Durch Erik fühlte sie sich verraten und verkauft.

»Sie lernen ja Ruth von einer liebenswürdigen Seite kennen,« meinte der Onkel, noch immer lächelnd, »aber sie ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Was ist dir nur in die Krone gefahren, Kleine? Verlegen hab' ich dich noch nie gesehen.«

Erik, der sie unverwandt ansah, suchte jetzt die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken.

»Wir wollen schon miteinander zurechtkommen,« sagte er mit warmer Stimme und wandte sich an den Onkel mit einer Frage wegen Tag und Stunde des geplanten Unterrichts.

Ruth stand teilnahmslos daneben, ohne die Wechselreden der andern zu beachten. Nur die Röte wich allmählich von ihrem Gesicht und machte einem Ausdruck verhaltener Traurigkeit und Enttäuschung Platz. Sie blickte nicht auf, sondern studierte eingehend das glänzende Muster des Parkettfußbodens.

Da, als Erik schon Miene machte, sich zu verabschieden, hörte sie ihren Onkel sagen: »Wenn es Ihnen also wirklich kein zu großes Opfer ist, so erwarten wir Sie hier nachmittags nach Ihren Schulstunden!«

»Nein!« warf Ruth plötzlich laut dazwischen. Es war, als ob sie auf wachte. Erstaunt und blitzend gingen ihre Augen vom einen zum andern. »Hierher? das ist ja ein Irrtum. Ich werde hinaus kommen.«

Alle sahen sie verwundert an, als sie das so kategorisch, ohne eine Spur von Befangenheit erklärte. Erik aber erhob sich rasch.

»Das ist am Ende wirklich das Bessere,« stimmte er ihr unwillkürlich...



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