Angehrn | Die Zeit des Anderen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 142 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

Angehrn Die Zeit des Anderen

Geteilte Erinnerung, gestohlene Zukunft, geschenkte Zeit

E-Book, Deutsch, 142 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

ISBN: 978-3-7873-4364-5
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Zeit gehört einem nicht nur selbst, sondern ihre Qualität und Gestalt hängen auch von der Umgebung und vom Handeln anderer ab. 'Ihr habt uns unsere Zukunft gestohlen' lautet etwa der Protest der Klimajugend. Inwiefern die Zeit nur unzulänglich begriffen wird, wenn nicht auch die Zeit des Anderen miteinbezogen wird, untersucht Emil Angehrn in seinem luziden Essay.
Angehrn geht es in seinem Buch darum, das Rätsel und den Sinn der eigentümlichen, nicht selbstverständlichen Figur der Zeit des Anderen aufzuhellen. Dafür sucht er drei unterschiedliche Verhältnisbestimmungen sowohl für sich wie in ihrer wechselseitigen Verflechtung aufzuklären: zum einen das Verhältnis zwischen der Zeit des Selbst und der Zeit des Anderen, zum anderen die Polarität zwischen positiven und negativen Formen und Wertungen des Zeiterlebens und schließlich die interne Differenzierung der Zeit nach den Dimensionen des Vergangenen, des Gegenwärtigen und des Zukünftigen. Die Überlagerung dieser drei Raster resultiert in einem komplexen Geflecht, in dem die Zeitlichkeit der Existenz unter vielfältigen Aspekten hervortritt. Absicht und Herausforderung seiner Untersuchung ist eine Verständigung über das Wesen und die existentielle Bedeutung der Zeit im menschlichen Leben.
Wenn von 'gestohlener Zukunft', 'geschenkter Zeit' oder 'Verstrickung in eine Familienvergangenheit' die Rede ist, wird deutlich, dass sich die Polarität zwischen der eigenen Zeit und der Zeit des Anderen und die affektive Ambivalenz im Erleben der – aufbauenden und zerstörenden, rettenden und bedrohenden – Zeit in vielfältiger Weise überlagern.
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2. Die Zeitlichkeit der Existenz
2.1 In-der-Zeit-Sein
Der Mensch ist in der Zeit. Sein Leben ist zeitlich, und es vollzieht sich in der Zeit. Es ist in sich selbst zeitlich verfasst, erstreckt sich zwischen Früher und Später, zwischen Anfang und Ende, und es situiert sich in der Zeit der Welt, es nimmt einen bestimmten Ort im Gang der Dinge ein. Zeit ist eine Fundamentalbestimmung des menschlichen Daseins. Sie steht nicht nur für ein notorisches begriffliches Rätsel – entsprechend dem vielzitierten Satz des Augustinus, dass er wohl wisse, was die Zeit sei, solange ihn niemand danach frage, doch in Verlegenheit gerate, wenn er sie einem Fragenden erklären solle.1 Vor allem aber bildet sie eine abgründige existentielle Irritation – als eine Gegeninstanz zum Sein, die dem Nicht-Sein verwandt scheint und für das Vorübergehende, Flüchtige, Vergängliche steht. Als solche ist sie nicht nur dem Denken ein Rätsel, sondern eine bedrohliche, ängstigende Macht für das Leben. Dass der Mensch wesentlich zeitlich ist, dass sein Leben und Tun der Zeit unterworfen sind, erscheint im Zeichen eines Mangels, einer seinsmäßigen Schwäche. Dies zumal ist das Bild, das die Wahrnehmung der Zeit seit dem ältesten Denken bestimmt. Auch wo sie nicht den Zeitbegriff selbst zum Angelpunkt macht, operiert die Gründungsgeschichte der europäischen Metaphysik mit dem Urgegensatz zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden, den sie mit der Opposition zwischen dem festen, dauerhaften Sein auf der einen Seite und dem Veränderlichen und Vergänglichen auf der anderen Seite verknüpft. Es gibt nach dem Lehrgedicht des Parmenides auf der einen Seite das wahrhaft Seiende ohne Entstehen und Vergehen, unbeweglich und mit sich identisch, das der wahren, verlässlichen Erkenntnis zugrunde liegt, und auf der anderen den Bereich des Scheinhaften und Wandelbaren, des bloßen Meinens und der unwissenden Nacht.2 Identität und Wandel, Sein und Vergehen bilden das grundlegende Spannungsverhältnis, in dem sich das menschliche Leben vollzieht. In zugespitztem Profil wird es dort thematisch, wo der Zeitbegriff selber als strukturierendes Schema hervortritt. Er ist in unserem Kulturraum als allgemeines Konzept nicht von Anfang an gegeben, sondern bildet sich in der frühen Denkgeschichte erst heraus. Während sich das Verständnis des Zeitlichen in der vorgriechisch-orientalischen Kultur in der Vielfalt spezifischer Zeiten und Zeitgestalten kristallisiert und auch in der frühgriechischen Dichtung, in Mythos und Lyrik, die Zeitvorstellung in unterschiedlichen Termini (hemar, chronos, kairos, aion) artikuliert wird3, bildet sich der einheitliche, abstrakte Gedanke der Zeit (chronos) in der klassischen griechischen Philosophie zugleich mit der Opposition von Zeit und Ewigkeit heraus. Zwei wirkungsmächtige Definitionen, auf die zurückzukommen sein wird, gehen auf die Begründer der metaphysischen Tradition zurück. Platon bestimmt die Zeit als »bewegliches Abbild der Ewigkeit«4, Aristoteles definiert sie als »Zahl der Bewegung nach dem Früher und Später«.5 Beides sind prägende Vorstellungen, die teils die grundlegende Differenz zwischen der Zeit und ihrem Anderen, teils die Binnenstruktur des zeitlichen Prozedierens hervorheben. Beides sind lebensweltlich zentrale Bestimmungen, die mit existentiellen Grunderfahrungen verbunden sind. Sie artikulieren zwei Seiten der basalen Bewegtheit des Lebens, ihr fließendes Nacheinander und ihren Bezug zum Überzeitlichen. In Letzterem wird die von Parmenides fokussierte Urdifferenz ausformuliert und vertieft. Das in der Metaphysik anvisierte Andere zur Zeit ist nicht einfach das Unzeitliche oder Zeitlose, wie es auch mathematische Größen und abstrakte Gesetze verkörpern. Im Blick steht vielmehr das Ewige als ein Zeittranszendentes, als eine höhere Seinsform, die je nach Akzentuierung als reine Gegenwärtigkeit oder als vollendetes Leben gefasst wird. Sie ist das Andere zur Abfolge von Früher und Später, das Jetzt, das in vollendeter, sich nicht entgleitender Gegenwart bei sich und mit sich eins ist. Sie ist, nach der platonisch-plotinischen Formulierung, die »im Einen verharrende« Ewigkeit oder, so Thomas von Aquin, im Gegensatz zum unablässig voranschreitenden Augenblick, das »stehende Jetzt« (nunc stans).6 Gleichzeitig wird Ewigkeit zur Chiffre des vollendeten Lebens, einer gewissermaßen höchsten, nicht aus sich heraustretenden, sondern aus sich kommenden und sich in sich vollziehenden Bewegtheit. So beschreibt Aristoteles das Sein des Gottes als ein absolutes Tätigsein (energeia), das sich als »bestes und ewiges Leben« verwirklicht.7 Solches Leben und solche Ewigkeit stehen der leeren Zeitlosigkeit wie der rotierenden Wiederholung und entgleitenden Abfolge entgegen, als Inbegriff der Erfüllung und aktualen Selbstpräsenz. Im Spiegel solcher Ewigkeit erscheint das Zeitliche in seiner Mangelhaftigkeit und Negativität, als labiles, formlos-diffuses, vergehendes Sein. Das platonische Raster von Abbild und Urbild – Zeit als bewegliches Abbild des Ewigen – gibt einen Hinweis darauf, wie jene Defizienz zu überwinden wäre: indem in der Tiefe der Zeit das Ewige als ihr Anderes und lebendiger Grund sichtbar wird.8 So wird das flüchtige Vergehen durch wirkendes Leben und Geschichte überformt, die nackte Sukzession von der Kraft durchdrungen, die Zeit zu gestalten. Diese Auseinandersetzung mit der Zeit, mit der uns bedrängenden, der sich entziehenden, der zerfallenden Zeit ist eine, die sowohl im realen Lebensvollzug, im Erleben und tätigen Handeln wie in der reflexiven Vergegenwärtigung, der retrospektiven und prospektiven Formgebung der Zeit stattfindet. Im aktualen Tun und Erleben gestalten wir die Zeit, in der wir sind. Wir geben ihr eine bestimmte Form und stellen in ihr Zusammenhänge her, verbinden Früheres mit Späterem in unserem Planen und Durchführen, verflechten unsere Zeiträume mit Geschehensverläufen in der Umgebung und Handlungen anderer Menschen, erfahren harmonische und dissonante Bezüge zwischen eigenen und fremden Zeiten. Die zeitliche Synthesis, die wir aktiv und passiv vollziehen, integriert Rhythmen und Räume des Zeiterlebens, Bewegungen des Auseinandergehens und Zusammenkommens der Episoden und Momente, Prozesse der Verlangsamung und Beschleunigung der Abläufe, des Öffnens und Verengens der Zeithorizonte. Zeit ist nicht nur ein neutral-indifferentes Medium und äußerliches Gefäß des Geschehens, sondern wie ein gestaltbarer Stoff, dessen Formung in den Charakter einer Aktivität oder einer Geschichte eingeht. Zugleich sind solche Formgebungen Modalitäten, in denen Subjekte sich mit der Zeit auseinandersetzen, in denen sie Zukunft entwerfen und Geschichte aneignen. Es sind Formen des subjektiven In-der-Zeit-Seins und Lebens-in-der-Zeit. Es sind Formen, in denen Menschen im Fluss der Zeit mit sich eins werden oder sich verlieren können, in denen die Zeit selbst zu etwas wird, in dem sich die grundlegende Spanne zwischen dem Leiden unter der Zeit und dem Glücklichsein in der Zeit auftut.9 In vielfältigsten Facetten realisiert sich das In-der-Zeit-Sein im menschlichen Lebensvollzug. Zum gelingenden Umgang mit der Zeit gehören, neben der aktiven Gestaltung des erlebten Zeitraums, die Weisen der reflexiven Vergegenwärtigung. Einen besonderen Stellenwert haben, neben der Erkundung der engeren oder weiteren Gegenwart und der in die Zukunft ausgreifenden hoffenden oder fürchtenden Erwartung10, die vergangenheitsbezogenen Modalitäten der Erinnerung. Deren exemplarische sprachlich-bewusstseinsmäßige Form bildet die Erzählung. Erzählung ist eine in praktisch allen Kulturen vorhandene Hauptform des sinnhaften Selbst- und Weltverhältnisses und ein Prototyp historischer Darstellung. In eindringlicher Weise ist die enge Verschränkung zwischen der Erzählung und der Dimension der Zeitlichkeit im dreibändigen Werk Temps et Récit von Paul Ricœur entfaltet worden.11 Die Zeit wird durch die narrative Artikulierung in eine menschliche Zeit, in die Zeitdimension des Lebens, verwandelt. Sie wird dies, indem sie zugleich zum Gefäß existentieller Bedeutsamkeit und sinnhafter Strukturierung wird. Im Modus der Erzählung findet paradigmatisch die inhaltliche Verschränkung zwischen Früher und Später (in der aristotelischen Definition noch ganz schematisch als Zahl der Bewegung gefasst) statt, indem Momente des Verlaufs in ihrer bedeutungsmäßigen Stellung – als Plan und Realisierung (oder Scheitern), Erwartung und Erfüllung (oder Enttäuschung), Gedächtnis und Last (oder Freude) etc. – aufeinander bezogen und erlebensmäßig angeeignet werden. Ricœur sieht die eigentliche Leistung solcher Strukturbildung darin, dass sie die begriffliche Aporie der Zeit überwinden lässt, die in der unversöhnten Polarität von Sein und Nicht-Sein liegt: darin, dass essentielle Modi des Zeitlichen (das Vorübergehende, das Momenthafte, das...


Angehrn, Emil
Emil Angehrn. Studium der Philosophie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Löwen und Heidelberg. Promotion in Philosophie 1976 in Heidelberg. Hochschulassistent an der Freien Universität Berlin, 1983 Habilitation an der FU Berlin. Professor für Philosophie 1989–1991 an der Universität Frankfurt am Main, 1991–2013 an der Universität Basel. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Antike Philosophie und 19./20. Jahrhundert; Metaphysik, Geschichtsphilosophie, Hermeneutik, Politik.


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