E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Ani / Kramp / Nacke To die, or not to die
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86913-444-4
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
14 Shakespeare-Krimis
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-86913-444-4
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nicht schwarz oder weiß sind die Charaktere, sondern bunt, oft zerrissene Naturen, wie sie nur das echte Leben kennt. Denn William Shakespeare war vor allem eins: ein ausgezeichneter Beobachter. Die Zeitlosigkeit seiner Stu¨cke wurzelt in der Gabe, tief in die menschliche Seele zu blicken - bis hinab in ihre Abgru¨nde. Zum 450. Geburtstag des Meisters verneigen sich 12 Autoren vor seinem Können und weben aus den klassischen Stoffen 12 fesselnde Krimigeschichten. Getreu dem Hamlet-Motto "In der Ku¨rze liegt die Wu¨rze" wird neu interpretiert, modernisiert, fortgeschrieben und nicht zuletzt nach Herzenslust kriminalisiert - ganz wie es uns gefällt …
Autoren/Hrsg.
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Friedrich Ani · Allerseelen Sie lässt ihn zwei Minuten warten, bevor sie in den Vernehmungsraum geht und sich ihm gegenüber an den Tisch setzt. Er hält die Arme verschränkt, zeigt keine Regung. Die Protokollantin an der Kopfseite des Tisches blickt konzentriert auf ihren Laptop. Heute Morgen hat sie mit ihrem sechsundzwanzigjährigen Sohn in Sydney telefoniert, der ihr mitteilte, er werde trotz der sich ausbreitenden Buschbrände weiter durchs Land reisen, fotografieren, sich jeden Abend betrinken und keinen Gedanken an die Rückkehr verschwenden. Seine Mutter, Lisbeth Fernau, ist achtundfünfzig, seit zwanzig Jahren Single mit wechselnden Männerbekanntschaften, und wenn sie über ihr Leben nachdenkt, gerät sie in einen Strudel aus Schatten und Verzweiflung, gegen den sie sich mit einem Übermaß an Überstunden zu wehren versucht. Seit jeher gilt sie im Dezernat als eine der zuverlässigsten Protokollantinnen. Auch in schwierigen Situationen behält sie die Kontrolle und lässt sich offenbar von keinen noch so grauenhaften Schilderungen irritieren. Einige Kommissare fordern für ihre Befragungen ausschließlich sie an, weil sie dann sicher sein können, dass Lisbeth Fernau auch die stummen Momente präzise wiedergeben wird und die Niederschrift mit den nötigen Randnotizen zum Verhalten des Zeugen oder Beschuldigten versieht. Am Morgen dieses 2. November wäre Lisbeth am liebsten zur Corneliusbrücke gegangen und in den Fluss gesprungen. Von solchen Gedanken ist in ihrem schmalen, dezent geschminkten Gesicht mit den wachen blauen Augen und der leicht schräg stehenden Nase nichts zu lesen. Oberkommissarin Anna Welz hat sie auf dem Flur begrüßt und gedacht, dass sie selbst gern so ausgeglichen und tatendurstig wäre wie die ehemalige Postangestellte, die damals eher zufällig im Polizeipräsidium gelandet ist. Für Anna Welz, einundvierzig, bedeutet die erneute Begegnung mit dem Zeugen, der für acht Uhr einbestellt worden und auf die Minute pünktlich erschienen ist, eine Herausforderung, die ihre kriminalistischen Fähigkeiten nur untergeordnet betrifft. Es fällt ihr schwer, den Mann überhaupt nur anzuschauen und seinen vollkommen undefinierbaren Körpergeruch zu ertragen. Sie ertappt sich bei Vorurteilen. Seine Gegenwart hat sie vom ersten Augenblick an mit Misstrauen und einer Art von Abscheu erfüllt, wie sie es bisher von sich nicht gekannt hat. Manchmal dreht sie den Ton des Fernsehers leiser, wenn die Greuel eines fernen Krieges in ihr Wohnzimmer dringen. Oder sie wendet sich beim Anblick von Gästen in einem Restaurant ab, die ihr Essen maßlos in sich hineinstopfen. Und sie hat kein Problem damit, gewisse Politiker zu verachten und ihre Einstellung vor Kollegen oder Freunden offen zu zeigen. Aber wenn sie als Polizistin oder einfache Bürgerin mit Personen in Kontakt kommt, die Nähe und Aufmerksamkeit von ihr einfordern, versteckt sie ihr Herz so wenig, wie sie eine vorgefasste Meinung in ihrem Kopf zulässt. Sie hört zu und versucht zu verstehen. Ihre Fragen sind nicht suggestiv, sondern entspringen ihrer Neugier oder einer professionellen Notwendigkeit. Und wenn die Dinge, die sie erfährt, sie erschrecken, verwirren oder verstören, reagiert sie darauf mit noch intensiverem Zuhören und ihrer erlernten Fähigkeit, Wichtiges von Belanglosem, blanke Lügen von unmittelbarer Not gehorchenden Unwahrheiten zu unterscheiden. Trotz ihrer harten Erfahrungen im Drogen- und Morddezernat gesteht Anna Welz noch immer den meisten Menschen das Recht auf Irrtümer zu und hält den Willen zur Umkehr nicht von vornherein für Selbstbetrug. Für Zynismus, meint sie, habe sie nach ihrer Pensionierung noch Zeit. Vorher gelte für sie das Naturgesetz der Nächstenliebe, welche nicht einem abstrakten religiösen Prinzip entspringe, sondern Teil jenes ungeschriebenen Vertrages sei, den jeder Mensch bei seiner Geburt als Mitglied einer aufeinander angewiesenen Gemeinschaft unbewusst unterschreibe. Zwar weichen die meisten ihrer Kollegen derartigen Betrachtungsweisen großräumig aus, doch Anna kümmert das nicht. Manches von dem, was sie denkt und anstrebt, hat sie von ihrer Mutter gelernt, manches von den unscheinbaren Gestalten der Straße, um die auch die Sonne keinen Bogen macht. »Ich belehre Sie noch einmal, dass Sie hier als Zeuge vernommen werden und die Pflicht haben, auszusagen«, sagt sie. »Hab ich verstanden«, sagt Richard Gloster. »Kam eindeutig rüber heut Nacht.« Sein Mund, denkt Anna, ich darf nicht auf seinen Mund schauen, nur in seine Augen, nur in die Augen. Die Protokollantin hebt den Kopf und wundert sich über den stockenden Beginn der Befragung. Zögerliches oder gar verunsichertes Verhalten ist sie von der Kommissarin nicht gewohnt. Sie wirft einen Blick auf den weißen, unlinierten Block, der neben dem Laptop liegt und auf dem sie sich Notizen über scheinbare Nebensächlichkeiten zu machen pflegt. Über das wiederkehrende Kopfzucken des Zeugen zum Beispiel, das Zittern seines linken Beines, seinen durch den Raum irrenden Blick. Seit seiner Geburt hat Richard Gloster einen verkrümmten Rücken, der sich zu einem Buckel ausgewachsen hat. Seine Beine sind kurz und stämmig, seine Arme dagegen knochig und bleich. Sein aufgedunsen wirkendes Gesicht ist übersät von Pockennarben, sein Mund mit den beiden wulstigen Lippen ein schiefes, halb geöffnetes Gebilde, aus dem regelmäßig weißer Speichel tropft, den Gloster mit der Zunge aufschleckt. Aus seinen wässrigen Augen fixieren schwarze, reglose Pupillen die Welt, Menschen wie Dinge gleichermaßen. Beim Gehen zieht er das linke Bein nach. Und wer ihn auf seinen Mundgeruch anspricht, muss damit rechnen, angespuckt zu werden. Richard Gloster ist dreiundfünfzig, er verwaltet ein fünfstöckiges Wohnhaus, das er von seinem Vater geerbt hat. Seine Mieter lässt er eine Klausel unterschreiben, die es ihm erlaubt, sie jederzeit und ohne Angabe von Gründen zu kündigen. In einer Stadt, in der Mietraum rar ist und die Zahl der Wohnungssuchenden ständig steigt, brauche er seiner Überzeugung nach keine Rücksicht auf Befindlichkeiten zu nehmen. Wer die Miete nicht bezahlen kann oder über Verträge verhandeln will, solle anderswo Ausschau halten oder unter der Brücke schlafen. Auf Nachmieter musste er noch nie länger als einen Tag warten. »Sie wohnen in der obersten Etage Ihres Hauses«, sagt Anna Welz und rückt unmerklich mit dem Oberkörper zur Seite. Sie muss versuchen, den Atem des Mannes zu ignorieren. »Hab ich ausbauen lassen, ja. Angenehm da. Kennen Sie das Eck? Direkt bei der Isar, sehr beliebt bei den jungen Leuten.« »Ich war am Tatort.« »Klaro. Sorry. Verwirrt heut. Genau, ich wohn oben und hab den Überblick.« »Bis runter in den ersten Stock.« »Nicht direkt natürlich. Aber ich krieg mit, was im Haus passiert. Muss ich. Muss ja aufpassen, dass nichts schiefläuft.« »Trotzdem wurden in Ihrem Haus drei Menschen ermordet, und kein Mieter hat etwas gesehen oder gehört. Nur Sie, wie Sie den Kollegen und mir heute Nacht erklärt haben.« »Hab was gehört, ja.« »Sie waren im Treppenhaus«, sagt Anna Welz. Seit fünf Uhr morgens hat sie ihre Aufzeichnungen von der Tatortbegehung studiert, sich ein paar Informationen über die Vergangenheit von Richard Gloster besorgt, und sie ist überzeugt, sich alles gut eingeprägt zu haben, deshalb hat sie ihre Unterlagen auch nicht mitgenommen. Doch jetzt vermisst sie die Mappe. Sie hätte sie, wie in Gedanken, vor die Nase halten und sich ein wenig Luft zufächeln können. So bleibt ihr nur, die Arme auf der Tischkante abzustützen und die Hände gefaltet vor Mund und Nase zu legen. Im nächsten Moment rückt sie ein Stück vom Tisch weg. Der Protokollantin entgehen die unruhigen Bewegungen der Kommissarin nicht. »Was wollten Sie um die Zeit im Treppenhaus, Herr Gloster?« »Wie gesagt, ich war beim Aufräumen, da hör ich was. Geh weiter runter, war ja schon im zweiten Stock oder im dritten, weiß nicht mehr. Da hör ich Stimmen im ersten Stock, aus der Wohnung der Jana.« Anna Welz schaut ihn an und wartet ab. Am liebsten würde sie die Hände in die Taschen ihrer Jeansjacke stecken, aber sie weiß, wie unmöglich und unprofessionell das aussähe. Das Kribbeln in den Fingern irritiert sie eine Weile, sie vermutet, es kommt vom vielen Kaffee, den sie nach dem Aufstehen in aller Herrgottsfrüh getrunken hat. »Sie nennen Ihre Mieter beim Vornamen?«, sagt sie, winkelt den Arm an und streicht mit dem Zeigefinger über ihre Nase. »Niemals«, sagt Richard Gloster. »So was macht man nicht. Die Jana Bilgri wohnt seit sechs Jahren bei mir, wir sind per Du. Hat sich so ergeben, und dabei ist’s geblieben. Passt schon.« »Und Sie haben Janas Stimme erkannt, im Treppenhaus?« »Kann sein. Wusst ja nicht, dass sie nicht allein da drin war. Dass eine andere Frau auch hätt schreien können. Dann war’s auch schon wieder still. Hab ich mir gedacht, alles ok, lass die Frau in Ruhe, die hat ihren Spaß.« »Was für einen Spaß?« »Spaß halt. So, wie man Spaß hat. Sexmäßig, mein ich.« »Was haben Sie dann gemacht?« »Hab meinen Müll rausgebracht und bin wieder in meine Wohnung. Fernseher war an, mag gern Krimis in der Nacht.« »Beim Zurückgehen haben Sie nicht an der Tür von Frau Bilgri gelauscht.« »Bin ich ein Lauscher? Natürlich nicht. Nein, hab ich nicht. Hinterher macht man sich natürlich Vorwürfe. Vielleicht hätt ich das alles verhindern können.« »Was genau meinen Sie?« »Bittschön?« »Was meinen...