Arendt / Knott | Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Piper Taschenbuch

Arendt / Knott Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher

Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung »Aufbau« 1941–1945
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-96450-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung »Aufbau« 1941–1945

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Piper Taschenbuch

ISBN: 978-3-492-96450-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Spätestens durch ihre Berichterstattung vom Prozeß gegen Adolf Eichmann und ihr Buch »Eichmann in Jerusalem« wurde sie weltbekannt. Doch schon die junge Hannah Arendt war in ihrem politischen Denken und Handeln eine herausragende Persönlichkeit. Ihre Beiträge für den »Aufbau«, die in New York publizierte Zeitung des »German Jewish Club« für deutsche Emigranten, zeigen sie als wache Zeitzeugin und als engagierte Vertreterin des jüdischen Freiheitskampfes. Die Herausgeberin Marie Luise Knott hat die Texte ausführlich kommentiert und deren Bedeutung in ihrem Nachwort gewürdigt. »Arendts Kommentare zum Zeitgeschehen sind voller Leidenschaft und Verstandesschärfe.« Süddeutsche Zeitung
Arendt / Knott Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Die Rückkehr des russischen Judentums


(This Means You)

28. August (I) und 11. September (II) 1942

I


Außer dem Kampf um die jüdische Armee gibt es noch ein Politikum von entscheidender Bedeutung für die zukünftige Existenz des Volkes; es ist die Wiederverbindung mit den Juden der Sowjet-Union.[70] Mehr als ein Jahr ist verstrichen, seitdem die russischen Juden die ersten Schritte aus ihrer Isoliertheit heraustaten, und jeder dieser Schritte ist wichtig und bezeichnend. Das erste, was wir nach 25-jährigem Schweigen hörten, war ein Appell an das »Weltjudentum«, sich gegen Hitler und den Faschismus im Kampf zu vereinigen. Es folgte ein Aufruf an die noch in Sicherheit und Reichtum lebenden Juden der demokratischen Länder, der Roten Armee 500 Tanks und 1000 Flugzeuge bereitzustellen und den Waffen Namen aus dem großen Heer toter jüdischer Kämpfer zu geben.[71] Das letzte und in mancher Hinsicht besonders bemerkenswerte Faktum ist die Antwort der Moskauer Gemeinde, daß sie sich an dem von den amerikanischen Rabbinern ausgerufenen Fasttag beteiligt hat.

Das russische Judentum ist während der letzten 23 Jahre so oft und mit so eigensinniger Hartnäckigkeit totgesagt worden[72], daß es eigentlich keinen mehr zu wundern braucht, wenn es plötzlich höchst lebendig wieder versucht, sich an der Politik des jüdischen Volkes zu beteiligen. Denn in der Geschichte pflegen Völker und Institutionen eines von den Zeitgenossen unbemerkten Todes zu sterben, und in diesen Zusammenhängen ist sehr viel Geschrei sehr oft die unmittelbare Folge von sehr wenig Wollen. Wenn ein Teil unserer Politiker (und Statistiker) unter die Gelehrten ging und uns den Tod eines der wichtigsten und wertvollsten Teile unseres Volkes schwarz auf weiß bewies, so hatte dies politische Gründe, und ihre Wissenschaft entsprang politischen Ideologien und Interessen, die sehr wenig mit der Vorbereitung der Zukunft, aber sehr viel mit dem Versuch, die Vergangenheit festzuhalten, zu tun hatte.

Den Untergang des russischen Judentums hat die ganze Philanthropenwelt vorausgesagt, die sich weder vorstellen will noch kann, daß Juden auch ohne Wohltätigkeitskonzerne existieren können. Sie nahm ihre Zuflucht zur Religion, dem einzigen Faktor, der bekanntlich das jüdische Volk konstituieren darf, und sie muß heute erfahren, daß nach 25 Jahren Sowjetregime noch nicht einmal die jüdische Religion sich hat zugrunde richten lassen. Das russische Judentum hat ihnen eine wahrhaft erschreckende Lektion gelesen – es hat ihnen bewiesen, daß wir schlimmstenfalls auch ohne sie leben und sogar beten können.

Die verlorenen russischen Juden waren ferner das schlagkräftigste Argument jener merkwürdigen Nationalisten, die glaubten, daß ein Volk nur dank seiner Feinde existiert und infolgedessen von dem Aufhören des Antisemitismus nichts anderes als den Untergang des Judentums erwarten konnten. Sie sind hierin kurioserweise von ihren politischen Todfeinden, den jüdischen Kommunisten, bestärkt worden, welche so oft zu Recht oder Unrecht im Namen der Sowjet-Union gesprochen haben und die von dem »Untergang des Judentums« nur deshalb faselten, weil ihnen die uralte Angst vor dem Pogrom und das glücklicherweise nicht ganz so alte Strebertum jüdischer Assimilanten noch in den Knochen steckte. Der gespenstischen Theorie, daß säkularisierte Juden Antisemiten brauchen, um Juden zu bleiben, haben die Ereignisse des letzten Jahres jedenfalls ein ebenso erfreuliches wie drastisches Ende bereitet.

Wären unsere Propheten hüben wie drüben nicht so beschäftigt gewesen, allgemeinen und notwendigen – also unmenschlichen – Entwicklungstendenzen auf die Spur zu kommen, so wären sie vielleicht auf die banale, aber menschlichere Idee verfallen, unsere Juden einmal anzufragen, was sie nun eigentlich gerne sein möchten: Weißrussen oder Georgier oder Kirgisen oder Mongolen oder vielleicht Juden. Und sie hätten dann die gar nicht so erstaunliche Antwort erhalten, daß in einem Land, wo weder Assimilation noch Judesein die geringsten Vorteile einbringt, sich drei Millionen Menschen als Angehörige der jüdischen Nationalität deklariert haben, d. h. ungefähr 90% der faktisch in der Union lebenden Juden. (Vgl. das Heft über die Juden der USSR von dem Institute of Jewish Affairs.) In anderen Worten: Antisemitismus fördert die Selbstmordneigung der Juden; Aufhören staatlicher und sozialer Diskriminierung stärkt das jüdische Nationalbewußtsein. Juden sind Menschen und keine berufsmäßigen Schauspieler, die immerzu ihre Identität ändern müssen, um glücklich zu sein. Und nur unter unmenschlichen Bedingungen versuchen Menschen, die Farbe ihrer Haut oder die Form ihrer Nasen oder die Anzahl der Buchstaben ihrer Namen zu ändern. Läßt man sie zufrieden, so denken sie gar nicht daran, dem lieben Gott ins Handwerk zu pfuschen.

Ob dem russischen Judentum die letzten Jahre völliger Isoliertheit vom Weltjudentum genützt oder geschadet haben, werden Geschichtsprofessoren in ca. 50 Jahren ganz exakt entscheiden. Für uns ist wichtiger, daß wir heute mit einem Volksteil in Verbindung kommen, der die doppelte Knechtschaft durch Antisemitismus und Philantropenherrschaft nicht einmal mehr kennt.

Und wenn auch die russischen Juden politisch so unfrei sind wie alle Bürger der Union, so sind sie doch die ersten Juden der Welt, welche juristisch und gesellschaftlich »emanzipiert«, nämlich als Nationalität anerkannt und befreit sind.[73]

II


Es gibt keine menschlichen Institutionen, und es gibt keine noch so radikalen Revolutionen, die auf die Dauer die menschliche Freiheit sichern könnten. So gibt es auch keine Gesetze und keine noch so radikalen Maßnahmen, die auf die Dauer die Existenz und die Sicherheit des jüdischen Volkes verbürgen könnten. Dies ist einer der Gründe, warum es so müßig ist, sich über die »Lösung« der sogenannten Judenfrage den Kopf zu zerbrechen, und warum es so sinnvoll ist, die wirklich bestehende jüdische Politik, die ihren eigenen Bankrott heute überlebt, zu kritisieren und sich Gedanken über eine künftige Grundlegung der Politik unseres Volkes machen.

Soweit Sicherungen in unserer Zeit möglich sind und soweit Juden lokal gesichert werden können, insoweit sind die Juden der Sowjet-Union geschützt. Sofern eine Emanzipation von oben, ohne direkte politische Aktion der Juden, sinnvoll ist, insofern sind die russischen Juden emanzipiert. Die russische Revolution hat im Verfolgen ihrer Nationalitätenpolitik die von der französischen Revolution begonnene Emanzipation zu ihrem folgerichtigen Ende getrieben; sie ist heute verankert in der Verfassung der Union, die Antisemitismus dem Angriff auf eine der Nationalitäten der USSR gleichsetzt und ihn als Verbrechen gegen die Gesellschaft, wie Diebstahl oder Mord, verfolgt und bestraft. Läge die Sowjet-Union auf einem anderen Planeten und wäre das Schicksal der russischen Juden wirklich unabhängig von dem des Weltjudentums und umgekehrt, so hätte man selbst von einer nationalen Befreiung der russischen Juden sprechen können: Denn sie sind die ersten Juden, die als Nationalität und nicht als Individuen emanzipiert wurden, die ersten, welche bürgerliche Rechte nicht mit dem Verlust ihrer nationalen Zugehörigkeit zu bezahlen hatten.

Soweit es eine gesellschaftliche Normalisierung ohne ein jüdisches Siedlungsgebiet geben kann, insoweit sind die gesellschaftlichen Verhältnisse der russischen Juden normal. Zwar gibt es glücklicherweise in Rußland keine absolute Gleichheit der Lebensbedingungen: Aber es gibt auch nicht die übermäßige und daher unmenschliche Armut und den übermäßigen und daher unmenschlichen Reichtum, die zusammen seit zweihundert Jahren unser Volk demoralisieren. Kein Schnorrer kann mehr hoffen, durch Beziehungen so reich wie Rothschild zu werden; kein Philanthrop braucht mehr zu fürchten, durch Unglück so arm wie Rothschilds Almosenempfänger zu werden. Diese gesellschaftliche Normalisierung ist politisch wichtiger als die berufliche, welche in wenigen Jahrzehnten in Rußland so wenig wie in Palästina voll zu erreichen gewesen ist. Sicher ist die jahrtausendalte Trennung des jüdischen Volkes von der Bebauung des Bodens schlimm und sogar unmenschlich (und es ist das großartigste Verdienst des palästinensischen Jischuws, diese Trennung rückgängig gemacht zu haben); aber die jahrhundertealte Trennung jüdischer Armut von jüdischem Reichtum wie die zweifelhaften Beziehungen zwischen ihnen waren schlimmer und unmenschlicher.

Was alle diese Errungenschaften des russischen Judentums in unseren Augen immer fragwürdig gemacht hat, war seine Isolierung vom Weltjudentum. Es ist traurig und beschämend, daß es offenbar dieses Krieges bedurft hat, um Juden klar zu machen, daß es keinen lokal begrenzten Antisemitismus und kein lokal...


Arendt, Hannah
Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger, Bultmann und Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte sie nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 war sie als Lektorin, danach als freie Schriftstellerin tätig. Sie war Professorin für Politische Theorie in Chicago und lehrte ab 1967 an der New School for Social Research in New York. Zuletzt erschien bei Piper "Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?".

Knott, Marie Luise
Marie Luise Knott lebt als freie Journalistin, Übersetzerin und Publizistin in Berlin. Unter ihrer Herausgeberschaft erschienen bei Piper "Vor Antisemitismus ist man nur auf dem Monde sicher" und "Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?".



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.