Armfield | Gestalten der Tiefe | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 245 Seiten

Armfield Gestalten der Tiefe


1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-905574-39-5
Verlag: Kommode
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 245 Seiten

ISBN: 978-3-905574-39-5
Verlag: Kommode
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Meeresbiologin Leah sinkt bei einer Forschungsreise im U-Boot mit ihrem Team auf den Ozeanboden ab und bleibt nach dem Unfall sechs Monate lang verschollen. Als Leah wieder nach Hause kommt, ist ihre Frau Miri überglücklich. Doch schnell wird Miri klar, dass Leah sich verändert hat. Julia Armfield gelingt es, die Liebesbeziehung dieser zwei Frauen mit all ihren Facetten darzustellen: die Verleumdung aus Selbstschutz, die zarten Empfindungen, Rituale, Wut und Trauer um entschwundene Freuden, all die kleinen Momente, aus denen eine innige und dauerhafte Liebe besteht. Stilsicher, hervorragend und abgrundtief ehrlich.

Julia Armfield, geboren 1990 in London, schreibt Belletristik, gelegentlich Theaterstücke und hat einen Master in viktorianischer Kunst und Literatur von der Royal Holloway University. 2019 war Julia Armfield auf der Shortlist für den Sunday Times Young Writer of the Year. Sie wurde 2017 für den Moth Short Story Prize ausgezeichnet, stand 2018 auf der Longlist für den Deborah Rogers Award und gewann im selben Jahr den White Review Short Story Prize. Ihre erstes Werk 'salt slow' ist eine Sammlung von Erzählungen über den Körper und das Körperliche. Sie wurde 2020 mit dem Pushcart Prize ausgezeichnet. 'Gestalten der Tiefe' (Original: Our Wives Under The Sea, Picador 2022) war 2022 in der engeren Auswahl für den Foyles Fiction Book of the Year Award und 2023 für den Polari Book Prize. Die Autorin lebt in London.
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Dämmerzone


Miri.


Zu ihrem Abschied wurde eine Cocktailparty veranstaltet: Weißwein und Salzstangen. Abgehalten wurde die Feier in einem Konferenzraum eines Hotels in der Nähe des Centers für Meeresforschung. Auf einer Bühne beim Eingang spielten drei Männer in türkisfarbenen Anzügen Bossa Nova. Ich war für einen Großteil des Abends in einem endlosen Gespräch mit einem Mann gefangen, der sich auf Algen spezialisiert hatte (ich war nicht sicher, was genau er mit spezialisiert meinte, er hatte sich so vorgestellt, und ich hatte keine Lust gehabt, genauer nachzuforschen). Welcher ist Ihrer, fragte er irgendwann und zeigte in Richtung der am weitesten vom Buffet entfernten Gruppe, als würde er auf einen Jackenhaufen zeigen und mich fragen, welche mir gehört. Leah stand am äußeren Rand der Gruppe, hielt ein Glas und sprach in einem Tonfall, der von strahlender Autorität durchzogen schien, obwohl ich nicht nah genug stand, um zu hören, was sie eigentlich sagte. Sie trug ein weißes Kleid, das an ihr klebte wie Robbenhaut. Sie trug nicht oft Kleider, doch wenn sie es tat, wählte sie immer solche, die nach irgendetwas anderem aussahen: Kokons, gefaltetem Papier, Schildkrötenpanzern, Neoprenanzügen, Flügeln. Wie bei Mimikry betreibenden Insekten war aus der Ferne oft schwer zu erkennen, was man da eigentlich betrachtete. Kleidete sie sich für formelle Anlässe, dachte ich oft: Sie hüllt sich ein, um abzulenken. Sie mochte es nicht sonderlich, Blicke auf sich zu ziehen. Das kommt ja immer häufiger vor, sagte der Algenspezialist, als ich auf Leah zeigte und erklärte, was wir füreinander waren. Auch die Schwester von der Frau von meinem Bruder, wissen Sie. Genau dasselbe.

Der Veranstaltungsort war zu hell beleuchtet und mein Mund war wund, weil ich irgendwann am Nachmittag zu heißen Kaffee zu schnell getrunken hatte. Eine seltsame Atmosphäre – etwas wie Anspannung in den Wänden, in der Art, wie die Leute miteinander redeten. Ich fühlte mich zu vieler meiner Sinne beraubt, war besorgt um meinen Rhythmus, die genaue kleine Abfolge von Bewegungen, die nötig waren, um meine Hand auf Leahs Arm zu legen. Früher am Abend hatten wir uns gestritten, worüber genau weiß ich nicht mehr. Jedenfalls nicht darüber, dass sie weggehen würde, und auch nicht über meine möglichen Vorbehalte gegenüber der Forschungsreise. Wenn es möglich wäre, zurückzublicken und zumindest sicher zu sein, dass ich etwas vorausgeahnt hatte, eine ungünstige Planetenausrichtung festgestellt und meine Befürchtungen laut ausgesprochen hatte, wäre das ein gewisser Trost. Doch ich ahnte nichts. Leah war schon viele Male weggegangen und wiedergekommen, und ich hatte keinen Grund anzunehmen, dass es bei dieser Expedition anders sein würde. Wir mussten über etwas Banales gestritten haben, irgendetwas, an das man sich nicht erinnern kann und das leicht zu erraten ist: Leah wischte Oberflächen nur ab, wenn sie dazu aufgefordert wurde, Leah ließ mir nie auch nur zwei Sekunden, um einfach ins Leere zu starren, ohne mich zu fragen, was ich dachte. Sehr oft streiten Menschen, um Ängste und Frustrationen auszudrücken, die sie nicht laut aussprechen können. Es wäre wahrscheinlich leicht zu behaupten, Leahs bevorstehender Weggang sei der Grund dafür gewesen, dass ich unnötig oft Streit suchte, aber um ganz ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob das der Grund war. Mir kam schon öfters der Gedanke, dass Streiten für mich etwas ist, das einfach dazugehört, wie das Herumknibbeln an meiner Nagelhaut. Worüber auch immer wir stritten, der Höhepunkt war laut, heftig und schnell vergessen. Beim Streiten waren wir nie sehr leidenschaftlich – bissen und kratzten und langweilten uns dann, zu gewillt zu beschwichtigen und jeweils die Schuld bei uns selbst zu suchen. Das Problem bei Beziehungen zwischen Frauen ist, dass keine von beiden automatisch die benachteiligte Partei darstellt, was, ehrlich gesagt, einem Streit den Spaß nimmt.

In dieser Nacht stand unser Streit zwischen uns wie etwas Schmerzhaftes, aber Befriedigendes – empfindliches Zahnfleisch nach einem frisch gezogenen Zahn. Das Gefühl, dass etwas besser ist, nachdem es entfernt wurde. Ich fühlte mich gut, weil ich mich entschuldigt hatte. Ich bewegte mich auf der Party, registrierte den Schmerz zwischen uns und fühlte mich dankbar, aufgeregt, es fiel mir leicht, sie zu lieben. Sie brachte mir irgendein Getränk, holte die Haare, die mir am Rücken unters Kleid gerutscht waren, wieder hervor, küsste mich auf die Schläfe und schnaubte genervt, als sich eine Frau aus dem Center vorstellte, obwohl wir an diesem Abend schon mehrmals miteinander gesprochen hatten. Tut mir leid, sagte die Frau, als Leah sie darauf hinwies, es ist einfach einer dieser Abende. Ständig bla bla bla, hi hi hi, bullshit bullshit bullshit. Leah erklärte mir, dass sie auf der bevorstehenden Expedition Teamkolleginnen sein würden und schon früher zusammengearbeitet hätten. Ich lächelte und nickte und fragte die Frau, ob sie sich auf die Reise freute. So wie man sich auf den Pendelverkehr freut, antwortete sie, Leah lachte leise, den Arm um meine Taille gelegt. Jelka denkt, sie ist zum Schreien, sagte Leah, die Frau zuckte mit den Schultern und fragte mich, was ich beruflich mache. Ich weiß noch, wie es sich anfühlte, neben den beiden zu stehen, wie die Leute sich nach ihnen umdrehten und gelegentlich unser Gespräch unterbrachen, um ihnen die Hand zu schütteln. Ihr seid ja fast berühmt, stichelte ich, und Jelka verzog das Gesicht. Das sind einfach diese Leute, sagte sie, schaute zu Leah und zog eine Augenbraue hoch. Seltsame, sehr seltsame Leute. Das habe ich doch schon gesagt, als wir hier angefangen haben, stimmt’s? Leah lachte und lehnte sich noch mehr an mich. Du magst es einfach zu lästern. Ich wüsste nicht, was mit denen nicht stimmen sollte.

Am Ende des Abends gab es Reden, Glückwünsche für die Expedition und scherzhafte Ermahnungen, nicht zu lange wegzubleiben. Eine Frau schwafelte über den technologischen Fortschritt und die Forschungsmöglichkeiten, die das Center ermöglichte, da es sich auf dem allerneusten Stand befände. Die Atmosphäre, wenn auch gesellig, schien durchdrungen von etwas Undefinierbarem – einem seltsamen Gefühl, so etwas wie ein bestimmter Geruch in der Luft. Während der Reden sah ich mehrere Leute vom Center, die ihre Hände vor dem Körper oder unter dem Kinn verschränkt hielten, wie bei einer kirchlichen Veranstaltung. Ich stand neben Leah und fühlte, wie meine Anspannung langsam nachließ, wie das Aufziehen eines Reißverschlusses. Ich legte meinen Kopf an ihre Schulter und flüsterte, dass es mir leidtäte wegen des Streits.

~

Ich lese in einem Buch, das ich in einem Charity Shop gekauft habe. Ich blättere darin, in der Hoffnung, Notizen der vorherigen Besitzer zu finden, das ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Leah schenkte mir oft Bücher, die sie nur deshalb ausgewählt hatte. Das Kapital und Middlemarch, auf den Titelseiten gekritzelte Inschriften von Leuten, die ich nie treffen werde. Für Doreen, ohne Bedenken. Für Jack, zum Geburtstag und trotz seines Verhaltens. Das Buch, das ich gerade lese, ist ein Lehrbuch der menschlichen Anatomie, klebrig und mit Kaffeeflecken übersät, mit unregelmäßig unterstrichenen, langen Textabschnitten, die sich auf Nervenenden und inaktives menschliches Gewebe beziehen, als hätte der Vorbesitzer es genutzt, um in seinem Schuppen ein Monster zu bauen. »Strukturell betrachtet«, ich lese laut vor, einfach nur, weil es unterstrichen ist, »gibt es drei Kategorien von Sinnesrezeptoren: freie Nervenendigungen, verkapselte Nervenendigungen und spezialisierte Zellen. Freie Nervenendigungen sind freie Dendriten am Ende eines Neurons, die in ein Gewebe hineinragen. Schmerz, Hitze und Kälte werden über freie Nervenendigungen wahrgenommen.«

Leah ist seit mehr als zwei Stunden im Badezimmer. Ich höre, wie das Wasser läuft und vor allem die Klangmaschine, die die Wohnung mit einer schäumenden Geräuschkulisse erfüllt. An diesem Morgen habe ich sie nicht gebeten herauszukommen; ich habe mich umgedreht und mich geweigert aufzustehen, als ich sie um Viertel nach sechs am Waschbecken gehört habe. Nur heute, habe ich mir gesagt, mir die Decke über den Kopf gezogen und mir geschworen, dass ich morgen aufstehen und helfen würde. Ich muss mich erst noch an das Gästezimmer gewöhnen, meine Klamotten liegen auf dem Teppich verstreut, wie bei einem Besuch im Elternhaus zu Weihnachten, wenn man eine plötzliche Abneigung dagegen entwickelt, seine Wäsche zu waschen. Auf dem Tisch neben dem Bett stapeln sich Wassergläser, die ich mir für die Nacht ans Bett gestellt hatte; abgestanden, staubig und mit ertrunkenen Spinnen. Ich habe einige Bücher von ihrem Platz im Schlafzimmer entwendet und sie in den Türrahmen gestellt, damit die Tür nachts einen Spaltbreit offen bleibt. Ich habe das Gästezimmer nicht sofort nach Leahs Rückkehr in Beschlag genommen, sondern bin erst eines Nachts wütend umgezogen, als ich wach lag, weil Leah zwischen Schlafzimmer und Bad hin- und herschlafwandelte und sich nur hinlegte, um gleich wieder aufzustehen. Eigentlich wollte ich nur für eine Nacht im Gästezimmer bleiben, bin aber irgendwie nie wieder ins Schlafzimmer zurückgezogen. Das will ich gerade nicht genauer analysieren. Manchmal, wenn es dunkel ist, bilde ich mir ein, dass ich Leah klopfen höre, ein kleines, feines Klopfen gegen die Wand,...


Armfield, Julia
Julia Armfield wurde 1990 in London geboren. Sie schreibt Belletristik und gelegentlich Theaterstücke. Sie hat einen Master in viktorianischer Kunst und Literatur von der Royal Holloway University. 2019 war Julia Armfield auf der Shortlist für den Sunday Times Young Writer of the Year. Sie wurde für den Moth Short Story Prize 2017 ausgezeichnet, stand auf der Longlist für den Deborah Rogers Award 2018 und gewann den White Review Short Story Prize 2018. Ihr erstes Buch, salt slow, ist eine Sammlung von Erzählungen über den Körper und das Körperliche, in denen sie die Haut und Knochen ihrer Figuren durch ihre Erfahrungen mit Isolation, Besessenheit und Liebe abbildet. Sie wurde 2020 mit dem Pushcart Prize ausgezeichnet. Gestalten der Tiefe (Original Our Wives Under The Sea) war 2022 in der engeren Auswahl für den Foyles Fiction Book of the Year Award und 2023 für den Polari Book Prize.
Die Autorin lebt und arbeitet in London.



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