E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Arnautovic / Arnautovic Im Verborgenen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7117-5366-3
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-7117-5366-3
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ljuba Arnautovi?, geboren 1954 in Kursk (UdSSR), lebt nach wechselnden Aufenthalten in Wien, München und Moskau seit 1987 in Wien. Studium der Sozialpädagogik, Mitarbeit an Projekten des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW), Russisch-Übersetzerin, Rundfunkjournalistin. Zahlreiche Radiofeatures, Reportagen, Essays; Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Ljuba Arnautovi? hat mit einem bisher unveröffentlichten Text den 2. Platz des Literaturpreis Floriana 2018 gewonnen und war mit 'Im Verborgenen', ihrem ersten Roman, auf der Shortlist Debüt für den Österreichischen Buchpreis 2018.
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Wien erlebt die letzten milden Herbsttage, aber wenn die Sonne nicht scheint, wird es schlagartig kalt und die Menschen denken mit Schrecken an die vergangenen beiden Kriegswinter zurück. Sie haben Angst – vor der Kälte, die demnächst ihre Stadt in den Griff nehmen wird. Vor den Bomben, die immer öfter auch hier fallen. Und vor dem Hunger.
Eiligen Schrittes hat sich die Frau vom Fluss entfernt. Dort, wo der Donaukanal abzweigt, nimmt sie den rechten Uferweg und biegt nach etwa einer Stunde raschen Gehens nach rechts in die Innenstadt ab. Sie schafft es, ganz außer Atem, gerade rechtzeitig an ihre Arbeitsstelle. Zu ihren Aufgaben gehört es, die Kanzlei aufzusperren und die beiden anderen Angestellten, später dann die Besucher einzulassen. Sobald sie das Haus betritt, findet eine Verwandlung statt – die unscheinbar graue, geduckt gehende Gestalt richtet sich auf und wird ein völlig anderer Mensch.
Eva ist eine etwas füllige, nicht sehr große Frau um die vierzig. In ihrem hellhäutigen runden Gesicht verblassen allmählich die Sommersprossen. Über den hellgrünen Augen ziehen sich ihre Brauen leicht nach unten, was ihren Blick etwas melancholisch wirken lässt. Sie trägt stets dunkle, unmoderne Kleider und eine runde Hornbrille mit einem auffallend dicken linken Glas. Das dunkelblonde, zu dünnen Zöpfen geflochtene und zu einem Kranz über der Stirn gesteckte Haar zeigt an den Schläfen erstes Grau. Den Hinterkopf bedeckt eine handgestrickte schwarze Haube, die von einem eingenähten Haarreifen gehalten wird. Um ihren Hals hängen zwei breite schwarze Samtbänder, eines mit einem schweren silbernen Kreuz, das andere mit einer Lupe. Sie hält sich sehr gerade. Ihr Blick ist respekt-, um nicht zu sagen furchteinflößend. Man hat die Korrektheit in Person vor sich und spürt deutlich, dass diese Frau hier das Sagen hat. Von ihrem Schreibtisch aus überblickt Eva – wie von einem Wachturm – durch offen stehende Türen die angrenzenden Räume. In dem einen arbeiten eine Schreibkraft und der Kanzleibote, der andere, geräumigere, ist der Wartebereich gleich beim Eingang. Eine dritte Tür führt zum Zimmer ihres Chefs und ist meistens geschlossen. Niemand kann kommen oder gehen, ohne von der Sekretärin wahrgenommen zu werden. Ihre Arbeitskollegen wissen wenig über sie, mit ihnen spricht sie nur über Dienstliches. Niemals würde jemand wagen, ihr eine Frage zu ihrem Privatleben zu stellen. Gerade so viel glaubt man zu wissen: Sie ist das älteste Kind einer aus Mähren stammenden Familie (was ihre ausgezeichneten Tschechisch-Kenntnisse erklärt). Sie muss eine eifrige Schülerin gewesen sein (was ihre guten Rechtschreib- und Rechenkenntnisse erklärt), und sie muss eine gute Kinderstube gehabt haben (was ihre Umgangsformen und ihr sicheres Auftreten erklärt). Sie gilt als früh verwitwet und kinderlos; außerdem scheint sie tiefgläubig zu sein. Jener Handvoll Menschen, die sie als ihre Glaubensgeschwister anerkennt, gewährt sie die Anrede »Tante Eva«. Davon, wie sie ihr bisheriges Leben verbracht hat, weiß in diesem Umfeld fast niemand.
In Anbetracht der wenigen noch verbliebenen Aufgaben findet an den Wochentagen in der Kanzlei erstaunlich reger Parteienverkehr statt. Evas Aufgabe ist es, dieses Kommen und Gehen zu lenken. Sie weist die Besucher an zu warten und ruft sie zum Chef oder verkündet den Beginn einer Zusammenkunft. Sie geleitet die Teilnehmer in den Gruppenraum, manchmal serviert sie dünnen Tee und hartes Gebäck. In der Mehrzahl sind es Männer, die hier verkehren. Aufmerksamen Beobachtern würde auffallen, dass die Aktentaschen der Besucher, die an den nachmittäglichen oder abendlichen Bibelstunden teilnehmen, beim Weggehen oft praller gefüllt sind als beim Kommen. Als kirchliche Einrichtung ist der Ort unverdächtig. Beide christlichen Glaubensgemeinschaften, Katholiken wie Protestanten, haben sich vorauseilend schnell dem Naziregime angebiedert. Wer sich jetzt noch zu einer Religion bekennt, gilt als weltfremd oder dumm, man nimmt ihn nicht ernst.
In Friedenszeiten hat es hier viel zu tun gegeben. Es wurden die Kirchenbeiträge eingesammelt und an alle möglichen Einrichtungen verteilt. Von hier aus wurden die evangelischen Religionslehrerinnen, die an den Schulen in Wien und Niederösterreich tätig waren, zentral verwaltet. Hier war der Sitz der außerschulischen Jugendarbeit. Und es wurde die Schriftenreihe herausgegeben. Kirchenbeiträge sind abgeschafft; es gibt gerade noch zwei Religionslehrerinnen in der gesamten Region, die jetzt Niederdonau heißt; die Ferienheime dienen verschiedenen Zwecken, nur nicht der Erholung von Kindern und Jugendlichen; und der ist längst eingestellt, aus Mangel an Papier und an Nachfrage. Die verbliebenen Mitarbeiter der Kanzlei haben mittlerweile bitter erkennen müssen, dass sie dem falschen Messias gefolgt waren. Der Oberkirchenrat und seine Mitarbeiter, enttäuscht und beschämt, simulieren eine Art Normalität. Stillhalten ist die Parole. Einmal muss jeder Krieg enden, und ganz gleich, wie er ausgeht, die Evangelische Kirche möchte wieder eine Rolle spielen. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass diese Zeit nahe ist – sollten die Behauptungen der ausländischen Sender stimmen, deren Empfang streng verboten ist.
Eva zieht Mantel und Überschuhe aus und versucht, sich ihre innere Erregung nicht anmerken zu lassen. Sie geht an ihren Schreibtisch, sperrt die Schubladen auf, nimmt die Abdeckung von der Schreibmaschine. Routiniert verteilt sie die Aufgaben des Tages an die beiden Bürokräfte. Ihre Gedanken sind anderswo.
Erst zwei Tage sind vergangen, zählt sie nach und kann kaum glauben, was alles in der Zwischenzeit geschehen ist. An jenem Mittwoch betrat am frühen Vormittag ein Besucher die Kanzlei, und Eva spürte sofort, dass etwas passiert sein musste.
Sie kennt Walter, er kommt mehrmals die Woche, jedoch nie so früh wie heute – es ist noch nicht einmal zehn Uhr. Er ist gelernter Drogist und arbeitet in der Heilmittelstelle im dritten Bezirk. Als jüngster einer langen Geschwisterreihe bewohnt er zusammen mit der alten Mutter eine Mietwohnung. Wegen eines Geburtsfehlers, einer Lippen-Gaumen-Spalte, wurde er als wehrunfähig ausgemustert. Walter ist ein zurückhaltender, fast schüchterner Mensch. Eva empfindet Sympathie für den stillen Mann. Seine Gegenwart ist ihr angenehm. Nicht nur, weil er ihre Autorität niemals infrage stellen würde. Sie, die glaubt, ihr Herz Männern gegenüber längst verschlossen zu haben, empfindet jedes Mal eine kleine Freude, wenn der elegant Gekleidete durch die Eingangstür tritt und dabei seinen Hut abnimmt. Immer klopft er gegen die offen stehende Tür ihres Arbeitszimmers, wartet ihr Nicken ab, dann durchschreitet er den Raum, nimmt ihre Hand und deutet einen Handkuss an. »Meine Verehrung«, murmelt er dabei, und in letzter Zeit »Meine Verehrung, Tante Eva«, obwohl sie um ein paar Jahre jünger ist als er.
An jenem Mittwoch ist alles anders. Entgegen seiner Gewohnheit behält Walter den Hut auf. Sein Blick ist gehetzt, und er stürmt sofort herein, in der Faust ein Kuvert. In der Mitte des Raumes bleibt er abrupt stehen. Eva erhebt sich und geht rasch zu den beiden Türen, um sie zu schließen. Walter ist an ein Aktenregal getreten, lehnt sich mit der Schulter dagegen und atmet schwer. Sein Gesicht ist schweißnass. Erst jetzt zieht er sich den Hut vom Kopf und wischt sich mit einem Taschentuch die Stirn. Das Kuvert hat er auf den Schreibtisch gelegt. Wortlos bedeutet Eva ihm, sich zu setzen. Sie liest.
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