Arnold / Markus Siegfried Lenz
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96707-704-9
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neufassung
E-Book, Deutsch, Band 52 Neufassung, 136 Seiten
Reihe: TEXT+KRITIK
ISBN: 978-3-96707-704-9
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sein Roman "Deutschstunde" (1968) war der Bestseller der Nachkriegsliteratur – Siegfried Lenz.
Nun kommt auch aus den Mappen und Kisten im Nachlass des Literaturarchivs Marbach immer wieder Überraschendes zum Vorschein – wie "Der Überläufer", ein fast 400 Seiten starker Roman, der 1951 aus politischen Gründen abgelehnt wurde und dann in Vergessenheit geraten war. Nach seiner Wiederentdeckung wurde er 2016 mit 65-jähriger Verspätung zum Bestseller.
Die Beiträge der Neufassung des Heftes widmen sich jenen Teilen Lenz’ Œuvres, die bisher im Verborgenen blieben. Sie verorten die bisher unbekannten Texte im Gesamtwerk und lesen daraufhin Bekanntes in neuen literarischen und kulturellen Kontexten. Aufmerksamkeit erhalten Bereiche seines Schaffens, die lange unbeachtet waren – vom dramatischen Werk bis zu Gedichten. Auch Amos Oz’ Rede über seinen Freund Siegfried Lenz ist hier nachzulesen. Dabei zeigen sich die diffizilen Positionsbemühungen eines Autors, der sich produktiv mit modernistischen Schreibverfahren auseinandersetzt und nur widerwillig Teile seiner eigenen poetischen Tradition offenlegt.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
- Siegfried Lenz: Bertolt Brecht
- Eva Kissel: "Gesammelt und abgelegt und aufbewahrt". Der Nachlassvon Siegfried Lenz im Deutschen Literaturarchiv Marbach
- Günter Berg: "… da gibt’s ein Wiedersehen". Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Lenz’ Roman "Der Überläufer"
- Julia Benner: Honigkuchen und Krieg. Siegfried Lenz’ Beiträge zum Kinderprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks
- Anna Bers: Lenz’ Gedichte
- Heinrich Detering: Zwischen Sartre und Brecht: Siegfried Lenz und die 'Zeit der Schuldlosen'
- Stefan Descher: Lenz liest Steinbeck. Intertextuelle Bezüge zwischen Siegfried Lenz’ "Stadtgespräch" und John Steinbecks "The Moon is Down"
- Anna-Lena Markus: "Deutschstunde" mit Theodor Storm
- Katerina Kroucheva: "Ein gewisses Mysterium des Findens". Wissen und Glauben im letzten Roman von Siegfried Lenz
- Kai Sina: Westbindung und Nachkriegsliteratur. Zum Beispiel Siegfried Lenz’ "Amerikanisches Tagebuch"
- Auswahlbibliografie
- Biogramm
- Notizen
Günter Berg »… da gibt’s ein Wiedersehen«. Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Lenz’ Roman »Der Überläufer«
Die Entstehungs- und Publikationsgeschichte seines zweiten Romans »Der Überläufer« ist im Werk von Siegfried Lenz beispiellos. Bis zu seinem Tod im Oktober 2014 ist über diesen Roman nahezu nichts bekannt. Die wenigen Indizien, die rund um die Entstehungszeit auf sein geplantes Erscheinen im Frühjahr 1952 hingewiesen hatten, sind vergessen. Der Verlag Hoffmann und Campe hatte vehement gegen eine Veröffentlichung des Romans plädiert, hatte sich bei seinem Autor durchgesetzt, und in den Jahren danach gerieten auch die Teile des Manuskripts, die zunächst noch für eine Veröffentlichung in Betracht gezogen worden waren, in Vergessenheit. Siegfried Lenz ist 24 und schon fast zwei Jahre mit Liselotte verheiratet, als sein erster Roman »Es waren Habichte in der Luft« in der Tageszeitung »Die Welt« zwischen dem 24. Oktober und dem 25. November 1950 vorabgedruckt wird. Für Lenz ist die günstige Aufnahme seines Erstlings und die Zuversicht, die der Verlag Hoffmann und Campe mit seiner schriftstellerischen Arbeit verbindet, Anlass genug, sich auf sein Talent als Autor zu verlassen und künftig als freier Schriftsteller leben zu wollen: Er kündigt seine Stelle bei der »Welt«. Auch Liselotte Lenz verlässt ihre Anstellung bei der Tageszeitung, und so begründen die beiden in einer Mansarde in der Isestraße in Hamburg ihr gemeinsames Leben wie eine lebenslange, produktive Zusammenarbeit. Noch bevor die Buchausgabe seines ersten Romans erscheint, schließt Hoffmann und Campe Ende März 1951 den Vertrag für einen zweiten Roman mit dem Arbeitstitel »… da gibt’s ein Wiedersehen«. Es ist anzunehmen, dass Lenz mit der Arbeit daran unmittelbar nach der Rückkehr von einer Schiffsreise nach Nordafrika beginnt, wohin das junge Paar ab Sonntag, 15. April 1951, mit der M/S Lisboa ab Bremen gereist war; die Reise führte über Melilla und Tanger nach Casablanca.1 Die Arbeit währt über den ganzen Sommer. Der Verlag erhält im Oktober 1951 ein Exemplar der ersten Fassung, ein 276 Blatt umfassendes Typoskript, das Lilo Lenz getippt hatte.2 Der promovierte Literaturwissenschaftler Otto Görner, der Lenz bereits bei der Veröffentlichung der Buchausgabe von »Es waren Habichte in der Luft« betreut hatte, wird jetzt mit dem Lektorat des zweiten Romans betraut. Görner lebt seit Kriegsende in Karlsruhe und reist nur gelegentlich nach Hamburg, um Gespräche mit Verlagsmitarbeiter*innen oder Autor*innen zu führen. In seinem Verlagsgutachten zum »Überläufer«, das die Lektüre des Manuskripts voraussetzt, fasst Görner die Romanhandlung eher kursorisch zusammen. Insbesondere auf die »Bruchstelle« nach Kapitel 8 weist er dabei hin. Bei allen kompositorischen Mängeln, deren mögliche Behebung er an ausgewählten Stellen konkret aufzeigt, betont er doch auch eine »Tendenz« des Romans und bemerkt den Pazifismus der beiden Hauptfiguren. Alles in allem beurteilt Görner den Roman jedoch positiv: Die Geschichte sei so spannend wie gut geschrieben, sie lasse ihre Leser nicht mehr los. Ideologische Bedenken wie auch die Sorge vor einer ungünstigen öffentlichen Reaktion und die Hinweise auf formale oder kompositorische Schwächen des Manuskripts halten sich in seinem Gutachten an die Verlagsleitung und an den Verleger Kurt Ganske die Waage. Wesentliche Zweifel scheint es jedoch nicht gegeben zu haben: Görner schickt sein Exemplar des Typoskripts sogleich an den Feuilletonchef der »Neuen Zeitung« mit der Bitte, den Roman für einen Fortsetzungsdruck zu prüfen. »Die Neue Zeitung« ist das wichtigste Zeitungsprojekt der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland. Sie war in München als große, überregionale Zeitung initiiert worden (unter anderem vom aus dem Exil zurückgekehrten Hans Habe), erschien ab Mitte Oktober 1945 und war in ihrer Ausstrahlung und Bedeutung etwa mit der Tageszeitung »Die Welt« in der britischen Besatzungszone vergleichbar, für die Siegfried Lenz ja ab 1948 gearbeitet hatte und in der vor den »Habichten« einige seiner frühesten Erzählungen erschienen waren.3 Möglicherweise ist der Verlag unsicher, er gibt gleich mehrere Verlagsgutachten in Auftrag. Nach dem Lektor Görner wird die Literaturwissenschaftlerin Dr. Ursula Jaspersen mit der Lektüre der ersten Fassung des Manuskripts betraut.4 Auch sie kennt die »Habichte« und scheint schon dadurch geeignet, die neue Arbeit des Autors zu beurteilen. Offenbar sind für den Roman die Titelvarianten »Der Sumpf« und »… da gibt’s ein Wiedersehen« parallel in der Diskussion. Ursula Jaspersen rät zum ursprünglichen, bereits im Vertrag fixierten Titel für das neue Buch, der ihr wesentlich besser zur Handlung zu passen scheint. Bemerkenswert ist, wie Jaspersen den Roman in äußerst konziser Form zusammenfasst, dem Autor bescheinigt, sich von einigen in seinem Erstling noch spürbaren Fesseln befreit zu haben, um es sich nunmehr »leisten zu können«, derart frei mit der Handlungszeit und den Handlungsorten umzugehen. Sie glaubt an einen Erfolg des Romans und bewertet das Überläufergeschehen nur als einen von mehreren potenziell anstößigen Handlungszügen. Einen dritten Text verfasst Peter Dreessen, Autor von Sachbüchern über Deutschland und Europa bei Hoffmann und Campe, auch von Drehbüchern für TV-Features und Regisseur. Sein Lektoratsbericht ist weniger ein Gutachten über die Möglichkeiten einer Verbesserung des Manuskripts als vielmehr eine Einschätzung der Erfolgsaussichten des Romans. Dreessen windet sich aus dem literarischen Urteil heraus, sieht Stärken und Schwächen gleichermaßen, prophezeit eine »erregte […] den Verkauf fördernde Debatte« des Überläuferthemas und ist sich sicher, dass es »viel Lärm um dieses Buch geben kann«.5 Anders als Otto Görner, dem vor allem an den Möglichkeiten zur Verbesserung des Romans für die Publikation gelegen sein muss, und auch anders als Ursula Jaspersen, die das Potenzial der offenen Handlung und die Vielfalt der verwobenen Themen klar erkennt, warnt Dreessen den Verlag vor den Schwierigkeiten, die eine Publikation mit sich bringen würde, mutmaßt, dass der junge Autor sich möglicherweise über die Wucht seiner eigenen Geschichte nicht im Klaren sei, und fixiert nur mehr das »Thema« des Romans – in der Sorge, dass »das Gewebe der Geschichte reißt unter der Last der Problematik«. Von da an scheint vor allen Dingen das heikle Überläuferthema für Aufmerksamkeit gesorgt zu haben, aufgeworfen von einem jungen Autor, der sich der Tragweite der von ihm erzählten Geschichte nicht bewusst zu sein scheint. Görner und Jaspersen beschreiben die zu leistende Arbeit an dem Manuskript, Dreessen warnt vor der Publikation des Buchs überhaupt. Mitte November 1951 kommt es in Hamburg zu einem Treffen zwischen Otto Görner und dem Autor. Die Zusammenfassung dieses ausführlichen Manuskriptgesprächs über die vorliegende erste Fassung des Romans ist ein Brief, den der Lektor am nächsten Tag handschriftlich auf der Zugfahrt von Hamburg nach Karlsruhe verfasst und an den Verlag expediert. Dort wird dieser Brief des Lektors an den Autor abgetippt und, um weitere »Anlagen« ergänzt, erst zwei Wochen später, am Freitag, den 30. November »per Boten« an Siegfried Lenz geschickt.6 Auch verlagsintern wird intensiv über den neuen Roman diskutiert. Die drei vorliegenden Gutachten sind bekannt. Görners Vorschläge nach dem ausführlichen Gespräch mit dem Autor zirkulieren im Haus, Kopien im Verlagsarchiv von Hoffmann und Campe sind versehen mit handschriftlichen Notizen wie »Rücksprache Lenz/Soelter«, also mit dem Verlagsleiter Dr. Rudolf Soelter, und »KG«, dem Kürzel des Verlegers Kurt Ganske. Die ausführlichen Vorschläge, die Görner nach dem persönlichen Gespräch in seinem Brief festhält, mögen im Verlag zu diesem Zeitpunkt noch als Indiz gewertet werden, Bedenken durch eine gründliche Überarbeitung des Manuskripts zerstreuen zu können. Spätestens mit der Übermittlung der Stellungnahme des Lektors Görner zur ersten Fassung seines Romans Ende November 1951, vermutlich jedoch gleich nach dem Gespräch im Verlag am 12. November beginnt Lenz mit der Überarbeitung. In zwei Monaten intensiver Arbeit strafft und pointiert der Autor vor allem den zweiten Teil des Romans. Aus den ursprünglichen zwölf Kapiteln werden durch neu hinzugefügte Texte und Umstellungen die 16 Kapitel der endgültigen Fassung. Das Ergebnis seiner Überarbeitung schickt Lenz Mitte Januar 1952 an den Verlag, wo der neue Text außer von Görner von einer weiteren wichtigen Mitarbeiterin gelesen und begutachtet wird: Dieses vierte Gutachten, nunmehr zur Überarbeitung des Romans, stammt von Dr. Harriet Wegener, einer langjährigen Mitarbeiterin von Hoffmann und Campe und Vertrauten des Verlegers Ganske.7 Harriet Wegener fasst in ihrem Gutachten zusammen, was der Lektor Görner am 19. Januar 1952 in einem schließlich fünften Verlagsgutachten deutlich ausspricht: Der Roman solle, so wie er ist, nicht erscheinen. Die Überarbeitung, von der Lenz sich eine deutliche Verbesserung seines Manuskripts versprochen hatte, wird als solche nicht wahrgenommen. Wo der Autor die Motive seiner Figuren und die Begründungen ihrer weitreichenden Entscheidungen und damit seinen Roman insgesamt zu verbessern meinte, stehen nun genau diese Motive und Entscheidungen unter Verdacht. Die Vorschläge zur ersten Fassung des Romans, die Görner im...