E-Book, Deutsch, Band 6343, 224 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Assmann Der europäische Traum
5. Auflage 2019
ISBN: 978-3-406-75193-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vier Lehren aus der Geschichte
E-Book, Deutsch, Band 6343, 224 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-75193-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aleida Assmann ist Professorin em. für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Sie hat außerdem in Los Angeles, Princeton, Houston, Chicago, Wien und an anderen Orten gelehrt und geforscht und wurde vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Max-Planck-Forschungspreis (2009), Ernst-Robert-Curtius-Preis (2011), A.H.-Heineken-Preis für Geschichte (2014), Karl-Jaspers-Preis (mit Jan Assmann, 2017), dem Balzan Preis (mit Jan Assmann, 2017) sowie dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (mit Jan Assmann, 2018).
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Zweiter Teil: Fallbeispiele
1. Lehre: Friedenssicherung
Der 8. und der 9. Mai – Zwei europäische Gedenktage?
Am 9. Mai 1950 schlug der französische Außenminister Robert Schuman, der deutsche Wurzeln hatte und während der nationalsozialistischen Besetzung Frankreichs im Widerstand gekämpft hatte, in einer historischen Rede die europäische Produktionsgemeinschaft der Kohle- und Stahlindustrie vor. Der 9. Mai gilt deshalb als Grundstein der Europäischen Union. Für diesen Feiertag ist zwar immer wieder geworben worden, aber er konnte sich in der Bevölkerung der Mitgliedstaaten nie wirklich durchsetzen. Das mag auch daran liegen, dass er in der Erinnerung durch das Kriegsende in Deutschland mit der bedingungslosen Kapitulation vom 7.–9. Mai in den Schatten gestellt wird. Anders als der 9. Mai 1950, der Tag der Gründung der EU, hat der 8. Mai 1945 in Deutschland tiefe Spuren im biographischen Erfahrungs- und Familiengedächtnis hinterlassen, auch wenn seine Deutung längere Zeit umstritten war.
Der 8. bzw. 9. Mai 1945 wurde von den Alliierten, die den Sieg über Hitler-Deutschland und die Achsenmächte mit großen Verlusten errungen hatten, auf der ganzen Welt als Freudenfest gefeiert. In den USA, England und Frankreich ging dieses Datum als ‹V-Day› (‹V› für ‹victory›) in die Geschichte ein. Zu einem regelmäßigen Gedenktag ist der Tag während des Kalten Krieges zunächst jedoch nur in der Sowjetunion und den Ländern des Ostblocks geworden. Deutschland war damals ein vergangenheitspolitisch geteiltes Land: Während sich die DDR als Widerstandsstaat in die Gruppe der Sieger einreihte und den 8. Mai bis 1967 jährlich feierte, hatte Willy Brandt 25 Jahre nach Kriegsende mit seinem Antrag im westdeutschen Bundestag, dieses Datum 1970 öffentlich zu feiern, noch keinen Erfolg. «Niederlagen feiert man nicht!», wurde ihm damals entgegengehalten, und: «Schuld und Schande verdienen keine Würdigung!»[1] Es dauerte in Deutschland vier Jahrzehnte, bis Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer historischen Rede an die Nation den (West-)Deutschen am 8. Mai 1985 nahebrachte, an diesen Tag nicht mehr unter dem Vorzeichen der ‹Niederlage›, sondern unter dem Vorzeichen der ‹Befreiung› zu denken.
Aber dieser Gedenktag hat es in sich, denn er vereinigt in sich ganz unterschiedliche, ja konträre Perspektiven auf das Kriegsende. Für die einen symbolisierte er das Ende der Nazizeit, für die anderen das unheroische Ende eines heroischen Kampfes. Keine Frage: Die Gegner und Opfer des Nationalsozialismus haben das Kriegsende an der Seite der Alliierten als ersehnte Befreiung erlebt. Das waren die, die als Einzelne oder Gruppen Widerstand leisteten, ferner die, die durch Ausgrenzung und rassistische Verfolgung in den Konzentrationslagern gequält und ermordet wurden, sowie die, die als Zwangsarbeiter des Regimes versklavt und durch Arbeit vernichtet wurden. Die Mehrheit der Gesellschaft erlebte das Ende jedoch ganz anders: Sie fühlten sich nicht befreit, sondern in ihrer Ehre gekränkt, beschämt und vernichtend geschlagen. Götz Aly hat diese Ambivalenz des Befreiungsbegriffs erhellend analysiert: «Mit äußerster militärischer Gewalt und unter großen Opfern befreiten die alliierten Armeen in jenen Monaten nicht nur Millionen inhaftierte, versklavte und unterworfene Menschen vom deutschen Terror, sondern auch diejenigen, die diesen Krieg begonnen und verursacht hatten: die Deutschen. Sie mussten von sich selbst befreit werden, und viele verstanden das erst sehr viel später.»[2]
In der Erinnerung an das Kriegsende als Befreiung darf gerade in Deutschland die Frage nach der historischen Verantwortung für Millionen Tote und unermessliches Leid, das Hitlers Vernichtungskrieg über Europa gebracht hat, nicht ausgeblendet werden. In einer Rede anlässlich der Feierstunde im Berliner Bundestag am 8. Mai 2015 erinnerte auch der Historiker Heinrich August Winkler an diesen dunklen Untergrund des ‹Freudentages› der Befreiung und verknüpfte dies mit einem Hinweis auf neue Ausbrüche von Hetze und Gewalt. Das Datum sei eine Mahnung, so Winkler, «die eigentliche Lehre der deutschen Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 zu beherzigen: die Verpflichtung, unter allen Umständen die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen zu achten».[3]
In Frankreich wurde der 8. Mai seit Kriegsende kontinuierlich gefeiert. Im Gedenkkalender Englands spielt nach wie vor der 11. November 1918, der Tag des Sieges nach dem Ersten Weltkrieg, eine wesentlich größere Rolle. In den Niederlanden wurde der 5. Mai 1945 zum Gedenktag der Befreiung, an die bis heute mit zwei Schweigeminuten gedacht wird. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks war die Situation einheitlicher. Hier wurde der 8. Mai zu einem staatlichen Pflichttermin. Nach dem Auseinanderbrechen dieses Staatenbunds erlosch in den ehemaligen Ostblockstaaten das Interesse an dem verordneten ‹Tag der Befreiung›, der nun umgekehrt als Beginn einer neuen Okkupation angesprochen werden konnte. Die wirklichen Tage der Befreiung lagen für diese postkommunistischen Staaten in der Nähe des 9. November 1989. Mit ihrem Beitritt zur EU haben sie das sowjetische Befreiungsnarrativ mit ihren jeweiligen nationalen Befreiungsnarrativen überschrieben.
In Russland fällt der Tag der Kapitulation und des Sieges über Nazi-Deutschland aufgrund einer Zeitverschiebung auf den 9. Mai. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion musste sich Russland als Nation neu erfinden. Dabei hat sich der heilige Identitätskern des Landes vom ‹Mythos Lenin› auf den ‹Mythos Stalin› verlagert. Der Inbegriff dieses Zentrums, das heute die Einheit der Nation in Russland verbürgt, ist der alte Gedenktag des Sieges Stalins über Nazi-Deutschland, der 9. Mai 1945, der heute nur noch in Russland in der alten Form einer großen Militärparade mit schwerem Kriegsgerät und Aufmärschen, Fahnen und Orden gefeiert wird. Nach der Wende von 1991 lösten sich die Satellitenstaaten der ehemaligen Sowjetunion aus diesem Gedenkverbund. In Polen zum Beispiel wird inzwischen mit besonderer Emphase der europäische 8. Mai statt des russischen 9. Mai begangen.
Nach einer Zeit abflauender Begeisterung für den 9. Mai hat dieser Gedenktag in Russland in den letzten Jahren einen unverhofften Aufschwung erfahren. Der Stolz auf die Rote Armee und den Sieg über Hitler versetzt inzwischen die gesamte russische Bevölkerung in eine Hochstimmung, für die auch eine neue kulturelle Erinnerungspraxis erfunden wurde. Die Zahl der hochdekorierten Veteraninnen und Veteranen, die bisher bei den 9.-Mai-Feiern im Mittelpunkt standen, nimmt mit jedem Jahr ab. Inzwischen füllen die Nachkommen die Reihen auf, die im Gedenkzug mitmarschieren und dabei die Fotos ihrer verstorbenen Väter und Verwandten hochhalten zum Beweis, dass sie nun in deren Fußstapfen treten. Mit dieser neuen Erinnerungspraxis verwandeln sie ein an die körperliche Erfahrung der Akteure gebundenes Kurzzeitgedächtnis in ein nationales Langzeitgedächtnis. Das heroische Siegergedächtnis des 9. Mai hat mit der Übergabe des Staffelstabs an die jüngeren Generationen auch eine neue Aufladung erfahren. Die Heroisierung Stalins und der Kult des Sieges überstrahlen dabei die Erinnerung an Stalins Verbrechen. Die große Beliebtheit des Gedenktags ist auch dadurch zu erklären, dass er den einzigen kontinuierlichen Fixpunkt im historischen Gedächtnis darstellt, den die russische Nation ungebrochen aus der Sowjetzeit übernehmen und weiterpflegen kann.
Der 8. Mai ist ein in sich widersprüchlicher Gedenktag im transnationalen Gedächtnis Europas. Mit seinen gegensätzlichen Konnotationen – ‹Befreiung oder Niederlage?› – und unterschiedlichen Inszenierungsformen – ‹militärische Machtdemonstration oder Friedensfest?› – hat er die Menschen sowohl getrennt als auch verbunden. Die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg haben den Tag seit 2015 als gesetzlichen Feiertag eingeführt, in anderen Bundesländern wird er nur an ‹runden› Jahrestagen begangen. In Österreich, wo jährlich am Befreiungstag des KZ Mauthausen am 5. Mai ein Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus stattfindet, ist der 8. Mai zur symbolischen Beute der deutsch-nationalen Burschenschaften geworden, die diesen Tag am Wiener Heldenplatz am Grabmal des unbekannten Soldaten im Geist der Trauer...




