E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Atwood Der Salzgarten
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-97741-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Short Storys
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-492-97741-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit. Ihr »Report der Magd« wurde für inzwischen mehrere Generationen zum Kultbuch. Zudem stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Pen-Pinter-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Margaret Atwood lebt in Toronto.
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Bedeutende Augenblicke im Leben meiner Mutter
Als meine Mutter klein war, schenkte ihr jemand einen Korb mit Küken zu Ostern. Sie sind alle gestorben.
»Ich wusste nicht, dass man sie nicht herausnehmen darf«, sagt meine Mutter. »Die armen kleinen Dinger. Ich habe sie alle in einer Reihe auf ein Brett gelegt, ihre kleinen Beine so steif wie Feuerhaken, und sie danach lange beweint. Ich hatte sie totgeliebt.«
Vielleicht will meine Mutter mit dieser Geschichte bloß veranschaulichen, wie dumm sie war, und wie sentimental. Sie will uns damit zu verstehen geben, dass sie heute so etwas nicht mehr tun würde.
Vielleicht ist es eine Erläuterung der Liebe; aber da ich meine Mutter kenne, halte ich das für unwahrscheinlich.
Der Vater meiner Mutter war Landarzt. In den Tagen, bevor es Autos gab, fuhr er mit einem Pferdegespann und einem Wagen in seinem Gebiet herum, und in den Tagen vor den Schneepflügen kutschierte er mit einem Pferdegespann und einem Schlitten mitten in der Nacht durch Schnee und Regen zu Häusern, in denen Öllampen brannten und Wasser auf dem Holzherd kochte und über dem Tellerbord Flanelltücher zum Wärmen hingen, für die Babys, denen er verhalf, das Licht der Welt zu erblicken, und die nach ihm benannt wurden. Seine Praxisräume waren im Haus, und als Kind sah meine Mutter die Leute über die vordere Veranda an seine Tür kommen, mit Teilen von sich, die sie fest umklammert hielten – Daumen, Finger, Zehen, Ohren, Nasen –, die sie bei einem Unfall verloren hatten und die sie an die rohen Stümpfe ihrer Körper pressten, als könnten diese abgetrennten Teile wie Teig darangeklebt werden, in der meist vergeblichen Hoffnung, mein Großvater würde sie ihnen wieder annähen und so die klaffenden Wunden, von Äxten, Sägen, Messern und dem Schicksal verursacht, zu heilen imstande sein.
Meine Mutter und ihre jüngere Schwester lungerten so lange dicht beim Eingang zur Praxis herum, bis man sie verjagte. Hinter der Tür konnte man Stöhnen, erstickte Schreie, Hilferufe hören. Für meine Mutter waren Krankenhäuser nie etwas Schönes, und Krankheiten haben nie Aufschub oder Ferien bedeutet. »Werdet bloß nie krank«, sagt sie und meint es ernst. Sie selbst wird fast nie krank.
Nur einmal wäre sie fast gestorben. Das war, als sie einen Blinddarmdurchbruch hatte. Mein Großvater musste die Operation selbst durchführen. Hinterher sagte er, dass er dies eigentlich nicht hätte tun dürfen: Seine Hände hatten viel zu sehr gezittert. Das war eines seiner wenigen Eingeständnisse von Schwäche, von denen meine Mutter je berichtet hat. Meist wird er als ernst dargestellt, als jemand, der alles im Griff hat. »Wir hatten Respekt vor ihm«, sagt sie. »Alle hatten Respekt vor ihm.« (Das ist ein Wort, das seit der Kindheit meiner Mutter etwas an Wert eingebüßt hat. Früher war es sogar noch wichtiger als .)
Die Geschichte von der Bisamfarm meines Großvaters erzählte mir jemand anders: Wie er und ein Onkel meiner Mutter den Sumpf im hinteren Teil ihres Anwesens einzäunten und die Ersparnisse einer unverheirateten Tante meiner Mutter in Bisamratten investierten. Sie hatten die Idee, diese Bisamratten sich vervielfältigen zu lassen und zu Bisampelzmänteln zu verarbeiten, aber ein Nachbar mit einer Apfelfarm pflegte seine Spritzgeräte ein Stück weiter flussaufwärts zu waschen, und das Gift brachte die Bisamratten alle um, so dass sie mausetot waren. Das war zur Zeit der Depression und gar nicht witzig.
Als sie noch jung waren – das kann heutzutage so gut wie alles bedeuten, aber ich nehme an, es war mit sieben oder acht –, hatten meine Mutter und ihre Schwester ein Haus in den Bäumen, wo sie einen Teil ihrer Zeit mit ihren Puppen verbrachten, um mit ihnen Tee zu trinken und so. Eines Tages fanden sie eine Schachtel mit niedlichen kleinen Fläschchen vor der Apotheke meines Großvaters. Die Fläschchen waren zum Wegwerfen, aber meine Mutter (die schon immer gegen Verschwendung war) hob sie für ihr Puppenhaus auf. In den Flaschen war eine gelbe Flüssigkeit, die sie drinließen, weil es so hübsch aussah. Wie sich herausstellte, waren es Urinproben.
»Das hat vielleicht ein Donnerwetter gegeben«, sagt meine Mutter. »Aber woher sollten wir das wissen?«
Die Familie meiner Mutter lebte in einem großen weißen Haus in Neuschottland neben einem Obstgarten mit Apfelbäumen. Es hatte eine Scheune und einen Wagenschuppen und in der Küche eine Speisekammer. Meine Mutter kann sich noch an die Zeit erinnern, als es noch keine Backwaren zu kaufen gab, als man das Mehl noch in Fässern aufhob und das Brot zu Hause gebacken wurde. Sie kann sich noch an die erste Rundfunksendung erinnern, die sie gehört hat und die mit irgendwelchen Songs für Socken warb.
Dieses Haus hatte viele Zimmer. Obwohl ich dort war, obwohl ich das Haus mit eigenen Augen gesehen habe, weiß ich noch immer nicht, wie viele es waren. Ein Teil des Hauses war verschlossen, jedenfalls hatte es den Anschein, und da waren Hintertreppen. Gänge, die irgendwo hinführten. In ihm lebten fünf Kinder, zwei Eltern, zwei Hausangestellte, ein Mann und ein Mädchen, deren Namen und Gesichter ständig wechselten. Die Struktur des Hauses war hierarchisch, mit meinem Großvater an der Spitze, aber sein heimliches Leben – das Leben ungefüllter Pasteten, sauberer Laken, der Schachtel mit Flicken in der Wäschekammer, den Brotlaiben im Ofen – war weiblich. Das Haus und alle Gegenstände darin knisterten vor statischer Elektrizität, es war von Sogen unterspült, die Luft erfüllt von Dingen, die jeder kannte, über die aber niemand sprach. Es hallte wie ein hohler Baumstamm, eine Trommel, eine Kirche, so dass Gespräche, vor sechzig Jahren flüsternd darin geführt, selbst heute noch halb vernehmbar sind.
In diesem Haus blieb man am Tisch sitzen, bis der Teller leer gegessen war. »Denkt an die hungernden Armenier, pflegte Mutter zu sagen. Ich sah nicht ein, womit ich ihnen auch nur im Geringsten half, wenn ich meine Brotrinde aufaß.«
In diesem Haus sah ich zum ersten Mal Haferhalme in einer Vase stehen, jeder Einzelne mit kostbarem Silberpapier umwickelt, das man von einer Schachtel Schokolade sorgfältig aufbewahrt hatte. Für mich war es das Schönste, das ich je gesehen hatte, und so fing auch ich an, Silberpapier aufzuheben. Aber ich bin nie dazu gekommen, Haferhalme einzuwickeln, und außerdem hätte ich sowieso nicht gewusst, wie. Wie so viele andere Kunstformen vergangener Zivilisationen ist auch diese Technik verloren und lässt sich nicht völlig nachvollziehen.
»Zu Weihnachten gab es Orangen«, sagt meine Mutter. »Sie kamen den ganzen weiten Weg von Florida; sie waren sehr teuer. Das war das Höchste: eine Orange in der Zehe deines Strumpfes zu finden. Es ist komisch, dass ich mich noch heute daran erinnere, wie gut sie damals geschmeckt haben.«
Als meine Mutter sechzehn war, hatte sie so lange Haare, dass sie darauf sitzen konnte. Inzwischen hatten die Frauen angefangen, sich ihre Haare kurz zu schneiden; die zwanziger Jahre hielten ihren Einzug. Meine Mutter sagt, ihre Haare hätten ihr Kopfschmerzen bereitet, aber mein Großvater, der sehr streng war, verbot ihr, sie abzuschneiden. Sie wartete bis zu einem Samstag, als sie wusste, dass er einen Termin beim Zahnarzt hatte.
»Vereisen gab es damals noch nicht«, sagt meine Mutter. »Und der Bohrer wurde mit einem Fußpedal in Gang gesetzt und machte . Der Zahnarzt selbst hatte braune Zähne: Er kaute Tabak, und den Tabaksaft spuckte er in einen Spucknapf, während er sich an deinen Zähnen zu schaffen machte.«
An dieser Stelle ahmt meine Mutter, die gut imitieren kann, die Geräusche des Bohrers und des Tabaksafts nach: »Rrrr! Rrrr! Rrrr! Phtt! Rrrr! Rrrr! Rrrr! Phtt! Das war die reinste Höllenqual. Und als das Gas kam, war es wie eine Erlösung des Himmels.«
Meine Mutter ging in die Zahnarztpraxis, in der mein Großvater schmerzensbleich auf dem Stuhl saß. Sie fragte ihn, ob sie sich die Haare schneiden lassen dürfte. Er sagte, von ihm aus könne sie tun, was sie wollte, wenn sie nur endlich verschwinden und ihn nicht länger plagen würde.
»Und da bin ich sofort losgelaufen und hab sie mir abschneiden lassen«, sagt meine Mutter fröhlich. »Hinterher war er wütend, aber was konnte er tun? Er hatte sein Wort gegeben.«
Meine eigenen Haare werden im Keller meiner Mutter in einem Pappkarton in einer Schiffstruhe aufbewahrt, und ich stelle mir vor, wie sie jedes Jahr immer stumpfer und spröder werden, vielleicht von Motten zerfressen; inzwischen sehen sie wohl aus wie die verblassten Kränze auf den viktorianischen Gräbern. Oder vielleicht haben sie auch trockenen Schimmel angesetzt; an der Innenseite des Seidenpapiers, in das sie eingewickelt sind, ist ein mattes Glühen in der dunklen Truhe. Ich glaube, meine Mutter hat ganz vergessen, dass sie da drin sind. Zu meiner Erleichterung wurden sie abgeschnitten, als ich zwölf war und meine Schwester geboren wurde. Davor trug ich es in langen Locken: »Denn sonst«, sagt meine Mutter, »wäre dein Haar nur ein einziger Knoten gewesen.« Meine Mutter kämmte es jeden Morgen, indem sie es um ihren Zeigefinger wickelte, aber als sie im Krankenhaus war, wurde mein Vater einfach nicht damit fertig. »Er kriegte es nicht um seine kurzen dicken Finger«, sagt meine Mutter. Mein Vater sieht hinunter auf seine Finger. Verglichen mit den langen eleganten Fingern meiner Mutter, die sie als knochig bezeichnet, sind sie tatsächlich kurz und dick. Er setzt ein Miezekatzenlächeln auf.
So kam es, dass meine Haare abgeschnitten wurden. Ich saß in meinem ersten Schönheitssalon und sah zu, wie meine...