Auerbach / Bormuth / Müller | Mimesis | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 593 Seiten

Auerbach / Bormuth / Müller Mimesis

Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur
12. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7720-0155-0
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur

E-Book, Deutsch, 593 Seiten

ISBN: 978-3-7720-0155-0
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Erich Auerbach (1892-1957) lehrte Romanische Philologie an der Universität Marburg, bevor er im nationalsozialistischen Deutschland seine Professur verlor und einem Ruf nach Istanbul folgte. Im türkischen Exil entstand - ohne eine europäische Forschungsbibliothek - sein Hauptwerk 'Mimesis'. Nach seinem Erscheinen 1946 wurde es zu einem internationalen Klassiker der Literaturgeschichte. Das Buch ebnete Auerbach den Weg in die Vereinigten Staaten, wo er noch ein Jahrzehnt in Princeton und Yale wirkte. 'Mimesis' bietet eine Reihe souveräner Einzeldarstellungen, die bei Homer und der Bibel einsetzen und die Entwicklung der realistischen Literatur in der westlichen Welt seit der Antike umreißen. Auerbach erkundet im Horizont des Passionsmotivs stilkritisch das Verhältnis von Nachahmung und Wirklichkeit. Nach Dante, Montaigne und Cervantes erscheinen in 'Mimesis' vor allem die französischen Realisten als Vorläufer der modernen Mimesis. Die 'vielfältigen Bewusstseinsspiegelungen' von James Joyce, Marcel Proust und Virginia Woolf bilden auch das Selbstverständnis des Literaturhistorikers Erich Auerbach. Seine späte Antwort an seine Kritiker beschließt die Neuausgabe, der auch eine philologische Einleitung sowie ein ideengeschichtliches Nachwort beigegeben sind.

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II Fortunata


Non potui amplius quicquam gustare, sed conversus ad eum, ut quam plurima exciperem, longe accersere fabulas coepi sciscitarique, quae esset mulier illa, quae huc atque illuc discurreret. Uxor, inquit, Trimalchionis, Fortunata appellatur, quae nummos modio metitur. Et modo, modo quid fuit? Ignoscet mihi genius tuus, noluisses de manu illius panem accipere. Nunc, nec quid nec quare, in caelum abiit et Trimalchionis topanta est. Ad summam, mero meridie si dixerit illi tenebras esse, credet. Ipse nescit quid habeat, adeo saplutus est; sed haec lupatria providet omnia et ubi non putes. Est sicca, sobria, bonorum consiliorum, est tamen malae linguae, pica pulvinaris. Quem amat, amat; quem non amat, non amat. Ipse Trimalchio fundos habet qua milvi volant, nummorum nummos. Argentum in ostiarii illius cella plus iacet quam quisquam in fortunis habet. Familia vero babae babae, non mehercules puto decumam partem esse quae dominum suum noverit. Ad summam, quemvis ex istis babaecalis in rutae folium coniciet. Nec est quod putes illum quicquam emere. Omnia domi nascuntur: lana, credrae, piper, lacte gallinaceum si quaesieris, invenies. Ad summam, parum illi bona lana nascebatur; arietes a Tarento emit, et eos culavit in gregem … Vides tot culcitras: nulla non aut cochyliatum aut coccineum tomentum habet. Tanta est animi beatitudo. Reliquos autem collibertos eius cave contemnas; valde succossi sunt. Vides illum qui in imo imus recumbit; hodie sua octingenta possidet. De nihilo crevit. Modo solebat collo suo ligna portare. Sed quomodo dicunt – ego nihil scio, sed audivi – quom Incuboni pilleum rapuisset, thesaurum invenit. Ego nemini invideo, si quid deus dedit. Est tamen subalapo et non vult sibi male. ltaque proxime casam hoc titulo proscripsit: C. Pompeius Diogenes ex Calendis Iuliis cenaculum locat; ipse enim domum emit. Quid ille qui libertini loco iacet, quam bene se habuit! Non impropero illi. Sestertium suum vidit decies, sed male vacillavit. Non puto illum capillos liberos habere …

DIESER Absatz stammt aus dem Roman des Petronius, von dem nur eine Episode, das Gastmahl bei dem reichen Freigelassenen Trimalchio, vollständig erhalten ist. Das hier Abgedruckte ist Kapitel 37 und ein Teil von 38. Der Erzähler, Encolpius, erkundigt sich während des Mahles bei seinem Tischnachbarn, wer denn die Frau sei, die durch den Saal hin und her laufe, und erhält Antwort, die ich im folgenden, möglichst stilgerecht, deutsch wiederzugeben versuche:

Das ist Fortunata, Trimalchios Frau, die das Geld mit dem Scheffel mißt. Und früher, was glauben Sie wohl, was die gewesen ist? Nehmen Sie es mir nicht übel, Sie hätten aus ihrer Hand kein Stück Brot genommen. Aber jetzt ist sie mir nichts dir nichts ins Paradies abgeschwommen, und ist dem Trimalchio sein ein und alles. Also ich sage Ihnen, wenn die ihm am hellen Mittag sagt, es ist dunkel, er glaubt es. Der weiß gar nicht, wieviel er hat, so steinreich ist er; aber sie, das Luder, paßt auf, auch wo man es gar nicht vermuten sollte. Sie trinkt nicht, ist sparsam, und weiß immer Rat; dabei aber ein Schandmaul, eine richtige Elster. Wen sie mag, den mag sie, und wen sie nicht mag, den mag sie nicht. Der Trimalchio hat Grundstücke, so weit die Falken fliegen, unzählige Millionen. Im Keller von seinem Portier liegt mehr Geld als andere Leute überhaupt im Vermögen haben. Und das Sklavenpersonal! Ich glaube nicht, daß auch nur der zehnte Teil davon je seinen Herren zu sehen kriegt. Also ich sage Ihnen, neben dem kann jeder von den Maulaffen hier einpacken. Und glauben Sie nicht, daß der irgendwas zu kaufen braucht; alles ist eigene Produktion: Wolle, Wachs, Pfeffer – und wenn Sie Hühnermilch haben wollten, sie wäre da. Also ich sage Ihnen, er hatte nicht genug eigene Produktion an guter Wolle; da hat er sich Widder aus Tarent gekauft, und sie in seine Herde gesteißt … Sie sehen, wieviel Kissen hier herumliegen; da ist keines dabei, das nicht mit Purpur- oder mit Scharlachwolle gefüllt wäre: da können Sie sehen, was für ein glücklicher Mann das ist. Auch seine Mitfreigelassenen sind nicht zu verachten. Die haben ihr Schäfchen im Trocknen. Sehen Sie den letzten da hinten? Der hat heute seine Achtmalhunderttausend. Er hat mit nichts angefangen. Es ist noch gar nicht lange her, da schleppte er Holz. Aber wie die Leute erzählen – ich weiß es nur vom Hörensagen – er hat einem Heinzelmännchen die Kappe stiebitzt, und dann hat er einen Schatz gefunden. Na, ich bin nicht neidisch, wenn Gott es einem gibt. – Er ist übrigens erst eben freigelassen und hat noch große Rosinen im Kopf (?). Neulich hat er in einer Anzeige seine Wohnung zum Vermieten angeboten: «C. Pompeius Diogenes vermietet zum 1. Juli seine Wohnung; er hat sich nämlich ein Haus (vielleicht auch: eine elegante Wohnung) gekauft.» Und der da auf dem Platz des Freigelassenen, wie gut ist es dem früher gegangen! Ich will nichts Böses von ihm sagen, er hat mal eine Million gehabt, aber dann ist es schief gegangen, und jetzt gehören ihm, glaube ich, nicht mal mehr die Haare auf seinem Kopf …

Die Antwort, die in der gleichen Art noch eine Weile fortgeht, ist also recht ausführlich geworden. Nicht nur die Frau, nach der sich Encolpius erkundigt hat, sondern auch der Gastgeber und mehrere Gäste werden behandelt, und überdies schildert der Sprecher auch sich selbst – seine Sprache und die Bewertungsmaßstäbe, die er anlegt, geben einen deutlichen Begriff von seiner Persönlichkeit. Die Sprache ist der ordinäre, etwas breiige Jargon eines ungebildeten städtischen Geschäftsmanns, voll von Klischees (nummos modio metitur, ignoscet mihi genius tuus, noluisses de manu illius panem accipere, in caelum abiit, topanta est, ad summam – man müßte beinah alles abschreiben) – und sie wird vorgetragen mit jenem sanguinischen Akzent, der lebhafte, aber triviale Affekte ausdrückt: Staunen, Bewunderung, Beteuerung, Achselzucken, Wichtigtuerei – kurz, in ihrer sprachlichen Form verraten die tam dulces fabulae, wie sie gleich darauf genannt werden, unverkennbar das, was sie sind, nämlich ordinärer Klatsch, obgleich ein guter Teil ihres Inhalts wahr sein mag; und sie verraten zugleich, wer der Mann ist, der sie ausspricht, nämlich jemand, der vollkommen in das Milieu hineinpaßt, das er schildert. Dafür zeugen auch seine Bewertungsmaßstäbe. Denn ganz selbstverständlich liegt all seinen Worten die Überzeugung zugrunde, daß Reichtum das höchste Gut ist, je mehr desto besser (tanta est animi beatitudo), daß die Güter des Lebens nichts sind als Überfluß an Waren bester Qualität und gemeinster Genuß derselben, und daß jeder Mensch ganz selbstverständlich in diesem Sinne nach seinem materiellen Vorteil handelt. Und bei alledem ist er selbst wohl nur ein kleiner oder mittlerer Mann, der die ganz Reichen ehrlich bewundert. So schildert der Gute nicht nur Fortunata, Trimalchio und ihre Tischgenossen, sondern zugleich, ohne es zu wissen, sich selbst. Er hat zwar, wie wir sehen, einen etwas einseitigen Standpunkt, spricht auch mehr gefühlsmäßig und in Assoziationen als logisch, aber er spricht ausführlich und sozusagen plastisch – er macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, und sagt alles, was zur Sache gehört. Er läßt nichts im Dunkel, er schwatzt sich aus, wie bei Homer ergießt sich helles, gleichmäßiges Licht über die Menschen und Gegenstände, die er behandelt; er hat, wie Homer, Muße genug zur Ausformung; was er sagt, ist eindeutig, und es bleibt nichts Hintergründig-Verborgenes ungesagt.

Freilich bestehen auch bedeutende Unterschiede gegen die Art Homers. Zunächst ist die Ausformung ganz subjektiv; denn was uns vorgeführt wird, ist nicht etwa der Kreis Trimalchios als objektive Wirklichkeit, sondern als subjektives Bild, so wie es sich im Kopf jenes redenden Tischnachbarn, der aber auch selbst zu dem Kreise gehört, darstellt. Petronius sagt nicht: dies ist so – sondern er läßt einen Ich, der weder mit ihm, noch auch nur mit dem fingierten Erzähler Encolpius identisch ist, den Scheinwerfer seines Blicks auf die Tischgesellschaft werfen – ein höchst kunstvolles, perspektivisches Verfahren, eine Art doppelte Spiegelung, die in der erhaltenen antiken Literatur, ich wage nicht zu sagen einzig, aber doch jedenfalls sehr selten ist. Die äußere Form dieses perspektivischen Verfahrens ist zwar keineswegs neu, denn selbstverständlich sprechen überall in der antiken Literatur die Personen über ihre Erlebnisse und Eindrücke. Aber das ist entweder, wie in den Erzählungen des Odysseus bei den Phäaken oder des Äneas bei Dido, nur eine Form der Exposition und durchaus objektiv behandelt – oder aber es handelt sich um die Stellungnahme einer Person gegenüber Menschen oder Ereignissen, von denen sie, im Rahmen einer Handlung, gerade betroffen wird, und wo also das Subjektive unvermeidlich und auch ganz kunstlos natürlich ist. Hier aber handelt es sich um schärfsten Subjektivismus, der noch durch die Individualsprache hervorgehoben wird, einerseits – und um eine objektive Absicht andererseits, denn die Absicht zielt auf objektive Schilderung der Tischgesellschaft, den Sprecher eingeschlossen, vermittels des subjektivistischen Verfahrens. Das Verfahren führt zu einer sinnlicheren und konkreteren Lebensillusion – indem der Tischnachbar die Tischgesellschaft schildert, zu der er, innerlich und äußerlich, selbst gehört, wird der Blickpunkt ins Bild hinein versetzt, dieses gewinnt Tiefe, und von einem seiner Orte selbst scheint das...



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