Augustin | Der Kopf | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 538 Seiten

Augustin Der Kopf

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-406-69164-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 538 Seiten

ISBN: 978-3-406-69164-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ernst Augustins Romanerstling „Der Kopf“ (1962) gehört zu den großen existenzialistischen Romanen der Nachkriegszeit. Augustin erhielt den Hermann-Hesse-Preis dafür, die Öffentlichkeit staunte. Der Ton war neu, er klingt so: "Menschenskind, dachte er, das ist ja ungeheuerlich. Er saß draußen unter freiem Himmel, und nun erst überfiel ihn Rührung. Das Gras anzufassen." Bevor die Katastrophe eintrat, hatte Türmann alle Vorahnungen durchlitten. Als Freidenker hatte er Angst vor seiner eigenen Vorstellungsgabe: "Wenn wirklich alles, was ich hier um mich sehe, nur meinem eigenen Kopf entspringt, dann könnte sich ja alles ereignen, was ich denke." Folglich denkt Türmann die größtmögliche Katastrophe, die sich im ersten Teil von Ernst Augustins Roman auch prompt ereignet.

Im zweiten Teil, „Der Keller“, erzählt Augustin die Geschichte der Überlebenden. Asam war einmal Lehrer. Jetzt kämpft er sich, nach einem langen Kellerleben, zum ersten Mal ans Tageslicht zurück. Wo einst die Menschen in Städten lebten, ist nurmehr Wüstenei, stehen allenfalls noch fensterlose Mauern. Es gibt nicht einmal den Trost der Bäume!

Im dritten Teil, „Der Turm“ genannt, belebt sich die Welt. Asam heiratet und verliert sein Dorfmädchen an seinen Rivalen Popow.

Das Ende des Romans läuft wieder in seinen Anfang zurück. Erneut wartet Versicherungskaufmann Rudolf Türmann auf seinem Balkon „auf das herannahende Übel“ und hat plötzlich Angst, selbst „nicht genügend gedacht zu werden.“

Mit dieser Ausgabe wird Augustins Debüt, das Jahrzehnte lang vergriffen und zum Geheimtipp geworden war, erstmals wieder zugänglich.

Augustin Der Kopf jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


1


Türmann stand auf seinem Balkon und fühlte sich bedroht. Unten fuhren die Verdecke der Autos, verkürzte Leute gingen auf dem Bürgersteig, Frau von Elriss überquerte verkürzt die Straße und betrat den Milchladen gegenüber. Türmann stand fünf Stockwerke hoch. Allein. Nach vorn schützte ihn die eiserne, mit einem Kranz von Blumenkästen versehene Balkonbrüstung – im Rücken das Wohnzimmer, das ihn durch die geöffnete Tür andunstete.

Er war in der Lage, die Ereignisse auf der Straße genau zu beobachten. Es traten ein Briefträger, zwei junge Mädchen, ein Herr im hellen Überzieher und ein Mann mit zwei Eimern aus dem Haus, dann ein älterer Herr, dessen Kopf von oben wie ein Auge mit einer weißen Pupille aussah. Es gingen hinein Frau von Elriss und ein Schüler, heraus kam Nolde. Na ja.

Türmann überdachte seine Lage: Er befand sich in sicherer Höhe, er war durch vier unter ihm liegende Stockwerke von der Straße getrennt. Von dort zu seinem Standpunkt auf dem Balkon zu gelangen, schien unmöglich, da die Front des Hauses nur wenig Vorsprünge aufwies, die einen Halt geboten hätten. – Nun gab es zwar im Hintergrund dieses Wohnzimmer, dahinter den Flur mit der Tür zum Treppenhaus. Aber letzteres zählte nicht. Mit dem Treppenhaus hatte es – wie sich noch zeigen wird – eine besondere Bewandtnis: es war unbeschreitbar, wenn man den Begriff nicht allzu eng faßt, es fiel als Zugang aus. Tatsächlich war Türmann auf seinem Balkon ziemlich sicher; er stand der Straße zugewandt an der Brüstung, zwar nicht mit voller, aber, immerhin, mit einer den Umständen angemessenen Rückendeckung. Vor ihm die Straße. Es fuhr vorbei ein Auto mit grünem Verdeck, ein … Es gingen ins Haus drei Kinder, vier Kinder … verließen das Haus.

Und nun begab es sich.

Ein Mann kam die Straße entlang; er ging auf dem diesseitigen Bürgersteig wie immer, und er war pünktlich wie immer – ging dicht an den eisernen Zäunen entlang, welche hier die lächerlich schmalen Vorgärten begrenzten, ging gleichmäßig, vielleicht etwas schneller als gewöhnlich. Er hielt sich hart rechts, streifte fast die Zäune, hielt einen so knappen Abstand zur Hauswand, daß er genau die Stelle passieren mußte, wo ein von Türmanns Balkon herabfallender Stein ihn treffen würde. – Türmann stand oben und hatte den Stein in der Hand. Der Mann näherte sich mit gleichmäßigen Schritten, sein Haupthaar war sackfarben oder rötlich, soweit sich dies aus einer Höhe von fünf Stockwerken erkennen ließ.

Türmann sprach ihn an.

«Asam», sagte er, «du weißt, daß ich im Recht bin, wenn ich dich treffe. Dieser Stein ist nicht schwer, aber er wird durch den Fall aus einer Höhe von fünf Stockwerken genügend Wucht erreichen, um dein Haupt zu zerschmettern.» Dabei hielt er den Stein locker über die Stelle der Brüstung, wo er, losgelassen, den Asam treffen mußte, wenn dieser bei gleichbleibender Richtung und Geschwindigkeit senkrecht unter ihm angelangt war.

Der Mann hatte noch acht Schritte zurückzulegen. «Ich bin mir über alle Folgen im klaren – wenn ich dich treffe, wird es das Ende bedeuten, nicht nur für dich, sondern auch für mich. Es wird sein, als ob der Stein aus halber Höhe zurückkehrt und in mein eigenes Auge fällt, gerade so. Es wird so sein, als hättest du selbst den Stein geworfen. Aber das wird mich nicht hindern.»

Sechs Schritte.

Türmann hielt den Stein mit Daumen und Zeigefinger über die Brüstung. Dann ließ er ihn los, so daß er in der Zeit, in welcher der Mann Asam sechs Schritte vollführte, unten anlangen und seinen Schädel zerschmettern mußte.

Er hatte ihn losgelassen.

«Jetzt bist du bereits tot», sagte Türmann, «obwohl du noch sechs Schritte lang lebst. Hörst du mich, Asam?»

Aber Asam konnte ihn aus einer Höhe von fünf Stockwerken schwerlich hören. Er war nicht tot, der Stein wurde nicht losgelassen, und der Mann hieß auch nicht Asam – es gab niemanden, der Asam hieß.

Asam war Lehrer. Wenn er vorgestellt wurde, fragten Gebildete: «Egid Quirin oder Cosmas Damian?», jedoch war ihm dieser Scherz längst bekannt und lästig. Falls jemand so fragte, lächelte er um keinen Preis, sondern nannte ernsthaft seinen wirklichen Vornamen: Friedrich.

An diesem Morgen ging er sehr eilig zur Schule.

Asam war vierunddreißig Jahre alt. Er hatte keine Frau, führte in seiner Pension ein geregeltes Leben, ohne irgendwelche Anstößigkeiten, und war bei jedermann als höflicher Mensch bekannt, der zuvorkommend grüßte.

An diesem Morgen jedoch war es zweimal geschehen, daß er gute Bekannte, die ihm auf der Straße begegneten, überhaupt nicht sah. Es hatte den Anschein, als ob er absichtlich starr geradeaus blickte wie ein Mann, der sich fürchtet, unterwegs eine bestimmte Person zu treffen. Er ging sehr schnell. Er lief beinahe. – Asam hatte einen kräftigen, untersetzten Körper, dem man regelmäßige Leibesübungen ansah. Morgens stellte er sich für gewöhnlich nackt mitten in sein möbliertes Zimmer im zweiten Stock der Pension und machte zwanzig Kniebeugen, sieben oder acht Liegestütze, Atemübungen und derlei mehr. Außerdem erteilte er neben seinen Hauptfächern Latein und Biologie auch Turnunterricht. Vor dem Schlafengehen pflegte er im Badezimmer im Erdgeschoß eine kalte Dusche zu nehmen, wobei er so laut prustete, daß seine Wirtin, eine ältere Dame, jedesmal erschauerte, wenn sie es hörte.

Für gewöhnlich betrug sein Weg zur Schule etwa zehn bis zwölf Minuten und führte ihn über zwei Kreuzungen am Justizgebäude vorbei, dem einzigen hervorstechenden Bauwerk am Wege; alle übrigen unterschieden sich höchstens in der Farbe oder durch die Art des Verputzes oder durch die Anordnung der Fenstersimse, die niemals auf gleicher Höhe lagen, obwohl alle Häuser ohne Zwischenräume in einer Reihe standen. Die Simse waren hier etwas schmaler und höher, dort etwas breiter und tiefer; ferner gab es einige, die in sich eine gekehlte oder gekerbte Struktur aufwiesen. Außer seiner Pension kannte Asam nur noch ein Haus von innen. Ein roter Läufer führte dort im Treppenturm bis vor ein weißes Emailleschild: Dr. Wenske, Zahnarzt. Vor den Häusern lagen Vorgärten, oft nicht viel breiter, als eine Tür hoch ist. Davor standen schmiedeeiserne Zäune, manche gelappt mit eisernen Spitzen, manche spiralig gedreht, wieder andere wie eine Galerie von Spießen, in handbreiten Abständen oder mit Kelchformen abwechselnd: Spieß, Kelchform, Spieß. Zwölf Minuten lang – mit Ausnahme der dreißig Meter, welche das Justizgebäude einnahm – auf jeder Straßenseite ein Zaun, und zwischen beiden Zaunfronten ging Asam heute schneller als sonst, da er befürchtete, dieses Mädchen zu treffen. Else.

Er war ein stattlicher Mann. Der Direktor pflegte bei Schulfeierlichkeiten zu sagen: «Wer läßt denn antreten? – Am besten Herr Asam», weil er kräftig aussah und Stränge am Hals hatte, wenn er laut sprach. Als im letzten August nach den Sommerferien die Schule wieder begann, war Asam mit einem Bart erschienen. Sie saßen im Lehrerzimmer, als er eintrat, Herr Nolde, Herr Schirrmacher, Herr Kollege Czibulka, und alle erröteten für ihn. Diesen Bart – genau wie das Haupthaar leicht fuchsig im Ton – trug Asam als kurzgeschnittenen runden Henry IV; nur an den Schläfen und an der Kehle rasierte er ihn etwas. Böttcher erklärte, er habe damit einen unbedingt flämischen Ausdruck bekommen, den er früher nicht an ihm bemerkt habe. Böttcher war sein Freund.

Als er an diesem Morgen die Schule betrat, empfand er ein starkes Schlafbedürfnis, noch ehe er die Vorhalle mit den roten Backsteinsäulen durchquert hatte. Das große Treppenhaus hallte vom Geschrei der Schüler, die vor Beginn des Unterrichts umherrannten und laut klapperten, pfiffen oder brüllten. Manche sahen ihn nicht einmal, nur die ihm unmittelbar entgegenrannten, hielten plötzlich im Brüllen inne und warteten, bis er vorüber war – etwa zehn Schritte lang –, brüllten dann weiter. Asam zog, indem er langsam die Treppe hinaufstieg, diesen gewissen schallverdünnten Raum mit sich, der sehr wichtig für den Lehrer ist, da sein Ausmaß in direkte Beziehung zum Respekt gesetzt werden kann. Asam verbreitete einen vergleichsweise mittelgroßen Raum, der Direktor einen nur wenig größeren, Czibulka gar keinen und Nolde den größten, der ...


Ernst Augustin, geboren 1927, war in seinem Beruf als Arzt und Psychiater an damals entlegensten, exotischen Orten tätig, unter anderem in Kandahar, Afghanistan, das sich in biblischem Zustand befand. Heute lebt und schreibt er in noch verbliebenen Innenwelten. In München. Von ihm ist im Verlag C.H.Beck lieferbar: „Die Schule der Nackten“ (2003), „Mahmud der Bastard“ (Neuausgabe, 2003), „Raumlicht: Der Fall Evelyne B.“ (Neuausgabe, 2004), „Der Künzler am Werk“ (2004), „Der amerikanische Traum“ (Neuausgabe, 2006), „Badehaus Zwei“ (Neuausgabe, 2006), „Schönes Abendland“ (Neuausgabe, 2007), „Robinsons blaues Haus“ (2012), „Gutes Geld“ (Neuausgabe, 2013). „Robinsons blaues Haus“ stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste und auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2007 erschien auch eine Ausgabe „Romane und Erzählungen“ in acht Bänden in einer Schmuckkassette. Literaturpreise: Hermann-Hesse-Preis, Kleist-Preis, Tukan-Preis (Literaturpreis der Stadt München), Mörike-Preis, Lübecker Literaturpreis von Autoren für Autoren. Ernst Augustin ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.