E-Book, Deutsch, Band 15, 287 Seiten
Awe / Falke / Fieberg GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten - Nr. 15
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7485-9422-2
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 15, 287 Seiten
Reihe: GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten
ISBN: 978-3-7485-9422-2
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Herausgeber Michael J. Awe und Andreas Fieberg treibt es schon seit längerem auf dem Gebiet der Science Fiction und Phantastik um.
Autoren/Hrsg.
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Raven E. Dietzel
SCIURUS
Als ich die Stufen zum Parkplatz hinunterstieg, wurde mir klar, dass es vorbei war. Ich hatte es geschafft!
Der Regen prasselte schwer, und das Wasser war kalt, dennoch trug ich meinen Schirm geschlossen in der Hand. Meine Laune war … ach, ich fühlte mich unbeschreiblich.
Die paar Schritte zu meinem kleinen, alten Wagen waren schnell getan. Links stand ein Polizeiauto und rechts die Fahrzeuge von zwei anderen Lehrern, die noch drinnen waren und Aussage machten. Aber die meisten hatten nichts zu sagen gewusst und waren längst nach Hause gefahren. Ich selbst hatte nur unter einem Vorwand bis eben bleiben können. Der entgeisterte Tonfall der Polizisten hatte mich interessiert.
Ich entriegelte die Tür, öffnete sie schwungvoll und schlüpfte ins Wageninnere. Pfeifend steckte ich den Schlüssel ins Schloss, erkannte das Lied, das ich gedankenverloren geträllert hatte, und wollte es plötzlich hören. Also ließ ich den Wagen an, ließ Scheinwerfer aufleuchteten, denn es herrschte bereits trübe Winterdämmerung, und schob die Kassette in den Schlitz. Ich spulte ein wenig, verfehlte den Anfang, und hörte einfach mittendrin.
Das Scheinwerferlicht tastete über den schwimmenden Asphalt, spiegelte sich in der Dunkelheit mühsam und doch widerstandslos. Bäume säumten die Straße, denn der Schulhof grenzte direkt an den Wald. Ich fuhr nach links, passierte das Ortsausgangsschild, beschleunigte, schaltete im Takt der Musik. Gleich wäre ich im fünften Gang …
Da erfasste mein Lichtkegel eine Gestalt am Straßenrand. Der Rücken unter der hellen Regenjacke war krumm, die Schultern eingesunken. Das unsichtbare Gewicht der Niederlage schien tonnenschwer auf ihnen zu lasten.
Mein erster Impuls war, an mein Lenkrad zu tippen. Es interessierte mich, ob es Simon in die Luft schleudern würde, wenn ich ihm von hinten in die Kniekehlen fuhr. Vielleicht überschlug er sich lustig, wie eine Puppe, die ein eifriges Kind in den blauen Sommerhimmel warf, um ihr das Fliegen beizubringen. Wie die freudigen Kinderhände würde meine Motorhaube ihn fangen. Oder ob ich genug Tempo hatte, ihn bis auf Höhe meines Dachs zu schleudern? Wenn ich noch etwas Gas gab, würde es vielleicht …?
Aber wahrscheinlich würde ihn der Stoß nur einige Meter nach vorne werfen, und dann würden die Räder auf meiner rechten Seite ihn überrollen, erst das vordere und dann das hintere. Es würde mit Sicherheit rumpeln, vielleicht gab es ein lautes Geräusch, wenn sein Kopf an irgendein Metallteil stieß. Die Regenjacke könnte sich am Auspuff oder an der Anhängerkupplung verfangen, sodass ich ihn eine Weile mitschleifte. Aber so starker Regen würde die rote Spur doch bestimmt bald fortspülen… In solche Gedanken war ich versunken, und ich achtete gar nicht darauf, was ich in Wirklichkeit tat. Erst das Knarren des Handbremsenzugs machte mich darauf aufmerksam, dass ich angehalten hatte.
Nun im Bann des Rücklichts erschien die Regenjacke rot, und auch das Gesicht unter der Kapuze leuchtete in derselben Farbe. Simon beschleunigte seinen Schritt, um zum Wagen aufzuschließen. Je näher er kam, desto stärker verfremdete die Beleuchtung seine Züge. Vermutlich war es ganz und gar unmöglich, in den scharf schattierten Augenhöhlen eine kummervolle Miene zu erkennen, doch meine Phantasie schmückte sie entsprechend aus.
Ich drehte die Musik leise. Er war inzwischen neben dem Auto, fasste nach dem Griff und zog die Tür auf. Die Innenbeleuchtung ging an und sein Gesicht desillusionierte mich mit einem Ausdruck hoffnungsvoller Dankbarkeit, wie ihn Menschen üblicherweise zur Schau tragen, wenn ein gnädiger Autofahrer sie aus eiskaltem Sturzregen rettet. Allerdings hielt das nur einen winzigen Moment. Dann erkannte er mich und fuhr zusammen.
»Bevor du die Tür zuwirfst«, hielt ich ihn von einer übereilten Reaktion ab, »denk nach!«
Wozu er sein Gesicht verzog, war beinahe Hass. Aber eben doch nur beinahe. »Was soll das hier?«, fuhr er mich an. »Warum hast du mich nicht einfach überfahren?«
Ich verzichtete auf eine Antwort auf seine zweite Frage und erklärte auf die erste: »Ich biete dir an, dich mitzunehmen. Das soll das hier.«
Er zögerte. Sein Geist und seine Gesinnung sagten ihm natürlich, dass er sich aufrichten und seinen Weg zu Fuß fortsetzen sollte. Aber das Wasser rann ihm unablässig übers Gesicht und tropfte ihm von der Nase, und seine klammen, notdürftig in den Ärmeln versenkten Hände verrieten, wie kalt ihm war. Ach, wie ich solche Situationen liebte! Wenn der Gute zwischen Stolz und Bedürfnis entscheiden musste …
»Klammer aus, dass es eine Versuchung ist«, bot ich an, um die Entscheidung leichter zu machen. »Betrachte mich als einen … barmherzigen Samariter.« Aufmunternd fügte ich hinzu: »Ich habe eine Heizung.« Und drückte auf den entsprechenden Schalter.
Man sah Simon genau an, wie er sich zwingen musste, sich nicht dem warmen Luftstrom entgegenzubeugen. »Du verlangst keine Gegenleistung?«, vergewisserte er sich misstrauisch.
»Doch nicht an so einem Abend!«, lachte ich und winkte ab. »Im Übrigen: Es macht keinen Märtyrer aus dir, wenn du an einer Lungenentzündung stirbst.«
Widerwillig nickte er, und mit dem Blick eines gebrochenen Menschen stieg er ein. Das Knallen der Autotür sperrte den Regen aus. Ich löste die Handbremse und fuhr zufrieden los.
Noch immer murmelte in den Lautsprechern die Musik, doch ich dachte gar nicht daran, sie lauter zu stellen. Mir war danach zu plaudern. Ach, ich war so gut gelaunt!
»Ist fast eine Sintflut da draußen«, bemerkte ich.
Teilnahmslos hob Simon die Schultern.
»Nein, die Sintflut war nicht so kalt«, übernahm ich es also selbst, mir zu widersprechen. »Aber wem sage ich das? Du bist ja selbst darin ertrunken!« Ich lachte so laut, dass Simon wohl glaubte, ich überhörte seine leise Bemerkung. Aber nachdem ich meiner Heiterkeit Luft gemacht hatte, nahm ich mich zusammen und bestätigte: »Das stimmt natürlich: Nicht nur du. Es war ein ulkiges Patt damals, nicht wahr?«
Er gab keine Antwort, aber ich sah seiner Miene deutlich an, dass Simon es gar nicht ulkig gefunden hatte. Ich glaube, er war damals wie ein Wahnsinniger gepaddelt und hatte versucht, ein kleines Kind über Wasser zu halten. Und zugegebenermaßen hatte auch ich es nicht besonders genossen, in Schlammmassen zu ersaufen. Aber es war lange her, und an einem Abend wie diesem stand ich weit über allen Todeserfahrungen. »Weißt du schon, was du jetzt machen wirst?«, erkundigte ich mich fröhlich.
»Sterben«, knurrte Simon missmutig.
»Ach? Warum denn schon?« Weil im Scheinwerferlicht eine scharfe Kurve auftauchte, bremste ich ein wenig ab. »Du könntest die freie Zeit nutzen und das Leben genießen.«
»Genießen?«, stieß Simon scharf aus. »Ich soll ein Zeitalter genießen, das von dir beherrscht wird?«
»Warum nicht? Umgekehrt funktioniert es doch auch.« Oft genug war es vorgekommen, dass ich Simons Sieg überlebt hatte und noch einen Gutteil der verbleibenden Zeit als simpler Mensch verbringen musste – als ein bösartiger natürlich, und ob meiner Niederlage meist auch recht gehässig. Ich hatte stets das Beste daraus gemacht. Einmal war ich ein ganz hervorragender Massenmörder geworden, dessen Namen man bis heute ehrfürchtig nannte. Man hatte mich nie in die Finger bekommen, um mich aufzuhängen, wie es zu der Zeit Sitte war. Stattdessen war ich reich und alt geworden und am Ende fett in einem Bett gestorben. Es war einer der angenehmsten Tode, an die ich mich erinnern konnte, und das in einem Jahrhundert, das sehr schlecht angefangen hatte …!
»Hab einfach ein bisschen Spaß«, riet ich gönnerhaft.
»Weißt du, Nathan«, setzte Simon an. »Spaß und Genuss sind dein Metier.«
»Dann verschaffst du dir eben …«, ich rang um ein Wort, dass Simons Wesensart treffen mochte, »… Freude. Wo ist das Problem?«
»Ich freue mich nicht, wenn Böses herrscht!«
»Ach, ja … Ich habe auch keinen Spaß an deinen langweiligen guten Werken«, stellte ich dem gegenüber. »Aber, Simon, ich habe eine Menge Spaß daran, ein paar gute Dinge zu verderben.« Bei dem Gedanken daran kribbelten mir üblicherweise die Handflächen, aber heute merkte ich gar nichts, denn schon die ganze Zeit war dasselbe Kribbeln in meinem ganzen Körper. Ich wäre am liebsten auf meinem Sitz herumgehüpft, aus Genugtuung über das böse Werk, dass vor ein paar Stunden zu einem Abschluss gelangt war. All die kleinen Boshaftigkeiten, die ich als Mensch zu vollbringen in der Lage war, waren nichts gegen den Moment, in dem ich das Spiel gewann; jenen Augenblick, in dem der Mensch, um den Simon und ich gerungen hatten, sich entschied. Nicht immer war das Ergebnis ein Massaker, wie es heute stattgefunden hatte. Genauso reichte es aus, dass ein Mann endlich die Hand erhob und seine Frau ein paarmal heftig gegen die Wand schmetterte. Manchmal ging es sogar nur um eine lächerliche Unterschrift auf irgendeinem Papier. Es kam nicht darauf an, wie groß oder klein die Tat war, es ging nur darum, dass es sich um die freie Entscheidung eines Menschen für das Gute oder das Böse handelte – ein...