Bachér Theodor Storm fährt nach Würzburg und erreicht seinen Sohn nicht, obwohl er mit ihm spricht
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-943941-41-8
Verlag: Dittrich Verlag ein Imprint der Velbrück GmbH Bücher und Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 184 Seiten
ISBN: 978-3-943941-41-8
Verlag: Dittrich Verlag ein Imprint der Velbrück GmbH Bücher und Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Geboren 1930 in Rostock, aufgewachsen in Berlin, lebt in Düsseldorf und Italien, arbeitete als Journalistin und für den Rundfunk, schrieb Hörspiele und Fernsehspiele, Erzählungen und Romane. 1958 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, gehörte seitdem zur Gruppe 47, wurde später Mitglied des westdeutschen PEN-Zentrums und in den Jahren 1995/96 dessen Präsidentin. Von ihren Romanen wurden besonders bekannt 'Das Paar' und 'Woldsen oder Es wird keine Ruhe geben'. Weitere Veröffentlichungen: 'Schliemanns Zuhörer', das 2003 in einer englischen Ausgabe erschienen ist, und 'Sarajewo 96' mit Bildzeichen von Günther Uecker. 'Sieh da, das Alter - Tagebuch einer Annäherung', 2003 und 'Liebesverrat', 2005 erschienen im Dittrich Verlag. 'Das Kind und die Katze', Erzählung mit Bildern von Rotraut Susanne Berner, 2010. Im Herbst 2011 erschien im Dittrich Verlag 'Die Grube'.
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II
Am nächsten Morgen ließ Storm schon frühzeitig Hans eine Nachricht bringen, er erwarte ihn um elf Uhr im Julius-Spital, eben dann, wenn der Operationskurs und die ersten Vorlesungen beendet seien. Auch hoffe er, bei dieser Gelegenheit einen der Professoren anzutreffen, um Auskunft über Hans einzuholen. Immer fürchtete er ein Versagen, eine Schuld seines Sohnes, wie Hans wohl wusste. Der Verdacht blieb lebendig, er könnte sein Leben verfehlen, ihm könnte keine Existenz gelingen, die nur als eine bürgerliche von seiner Familie gedacht werden konnte. Woldsen teilte diese Vorstellung nicht, doch war er von ihr geschwächt. Er hatte lange gebraucht, um sich selber darüber klarzuwerden, und würde das niemals seinem Vater deutlich machen können. Noch immer bekam er Briefe mit Fragen wie dieser: »Wie stehst Du mit Deinen Gestrengen?«
Ich denke gut, hatte er geantwortet und dabei gewusst, der Vater würde es nicht glauben.
Frau Eichenauer, seine Zimmerwirtin, hatte die Nachricht, die aus dem Hause Strecker früh um halb sieben gebracht worden war, liegengelassen, bis sie hörte, dass Woldsen sich in seinem Zimmer rührte, das war gegen halb elf. Erst dann, fast zu spät schon, brachte sie ihm das Billett, blieb bei ihm stehen, bis er sich angezogen hatte und nun eilig den Schal umband und die dicke Jacke überzog.
Es ist kalt draußen, sagte sie, der Nachtwächter hat einen Erfrorenen gemeldet, einen Betrunkenen, der sich versehen hat und an der Rückfront von St. Petri eingeschlafen war. Doch wäre er vielleicht auch sonst gestorben. Sie sah sich in seinem Zimmer um, das sie selten betrat, weil er verpflichtet war, es selber in Ordnung und reinlich zu halten. Die Leintücher bedeckten kaum die Seegrasmatratze. Neben dem Bett lag Wäsche auf dem Boden, und Bücher waren dort gestapelt und auf dem Tisch. An der Wand hingen Kleidungsstücke an Haken, und neben der Kommode, auf der die Schüssel mit Waschwasser stand und die Kanne, war eine hölzerne Reisekiste mit Metallbeschlägen. Sie stand offen auf dem Boden, gefüllt mit Papieren. Eine Radierung von Piranesi hing über dem Bett. Es war eines der Blätter aus der Carceri-Serie. Woldsen hatte sie schon zu Beginn seiner Studienzeit gekauft. Sie war der einzige Schmuck dieses Zimmers geblieben, das dürftig war, wie es einem Mieter entsprach, dem allzu lange schon die Familie das Studium bezahlte. Wenn Sie in die Küche kommen wollen, sagte Frau Eichenauer. Es war dort geheizt, und sie erlaubte ihren Mietern zuweilen, sich dort aufzuwärmen. Auch konnte Hans seine Pflanzen, die er züchtete, in den kalten Monaten bei ihr auf der Fensterbank deponieren. Eine Freundlichkeit, die er mit Ratschlägen vergalt, wenn sie krank war.
Er ging über den fensterlosen Vorflur und die Stiege hinunter. Sein Körper war hager und asketisch, weswegen sie ihn fremdartig fand. Aber sie hatte eine gewisse Hochachtung vor ihm, was nicht nötig war, wie sie sich selber sagte, denn schließlich zahlte sein Vater für ihn das Zimmer direkt an sie und wenig genug und nie etwas extra.
Heute bleibe ich fort, rief er schon unten auf der Treppe, rückwärtsgewandt. Das drückende Dunkel im Haus machte sie unkenntlich für ihn, der jetzt hinaustrat, hoffte, es hell zu finden, ein aufreißender Tag. Doch war der Himmel so grau wie leer, und nichts und niemand hatte einen Schatten. So blieben sie alle, die auf der Straße ihren Geschäften nachgingen, frostig und für sich.
Etwas zu spät für seine Verabredung bog Woldsen durch das große Portal in das Julius-Spital ein, durchquerte die Schmalseite des Gebäudes und kam zum großen Platz, dem Innenhof. Jenseits, unter den Arkaden sah er die Männer stehen. Er lief aber nicht über das gepflasterte und schneeverkrustete Feld, sondern nahm den Weg um es herum, entfernte sich so von der Gruppe, um sich ihr langsam zu nähern.
Es waren vier Männer in schwarzen Mänteln. Drei von ihnen hatten Hüte auf dem Kopf, nur sein Vater trug eine Fellmütze. Vielleicht war es das Schwarz im diesigen Grau oder die Geschlossenheit der Gruppe, was ihn auf den Gedanken brachte, er müsse erblinden, würde er sich dazugesellen. Sogleich fand er das übertrieben, nannte sich selber empfindlich wegen der langen Nacht, die er draußen gewesen war. Nichts war zwanghaft notwendig. Auch konnte er sich noch abwenden, wie Besucher es sonst taten, die täglich kamen und die perfekten Symmetrien, die Schönheit und Nützlichkeit der gesamten Anlage bewunderten. Meistens wanderten sie dann auch noch in den Park hinein bis zum Anatomietheater, in dem Professor Bergmann, der Chirurg, mit Demonstrationen an Leichen seinen Unterricht abhielt. Er war der einzige Professor, den Woldsen verehrte, weil er seiner Position ganz entschieden weniger Bedeutung zumaß als seiner Arbeit und aufrichtig genug war, um auch öffentlich Zweifel zu äußern.
Mit einer entschlossenen Wendung ging Hans jetzt auf die Gruppe zu und stieß dabei fast mit einem Studenten zusammen, der vorbeilief.
Gehst du mit? rief Anselm und wies in Richtung zur Küche, die neben den Badestuben lag. Woldsen winkte ab und sah seinen Vater an.
Es war die ihm bekannte Erscheinung, und doch war er wieder überrascht von ihr. Er musste wohl ein Phantom in Erinnerung gehabt haben, das aus vielen übereinandergelagerten Bildern entstanden war, und daraus löste sich ein Einzelner heraus, ein weißbärtiger Mann mit rosigem Gesicht und vertrauten Zügen. Woldsen fühlte eine zärtliche Nachsicht mit ihm, so wie früher, als er selber noch ein Kind gewesen war und der Vater oft kränklich und gefährdet gewirkt hatte, so umgetrieben von Geistern, schwermütig und verletzbar, ein dünner Mensch, der mit diesem Alten dort, der leicht gebeugt stand, keine Verwandtschaft haben konnte – und doch erinnerte sich der Sohn bei seinem Anblick an den anderen, den er geliebt hatte.
So ruhig in Schwarz gekleidet wirken die Männer wie Bauern, die Sonntagmittags nach dem Kirchgang vor der Tür stehen, dachte Hans, und fügte damit seine eigenen Emotionen in etwas Allgemeines ein.
Storm kam auf ihn zu, sobald er ihn erblickt hatte, ungeniert ob der Zuschauer, lief er fast im großen Überschwang. Auch Woldsen ging die letzten Schritte hastig, um die Entfernung schneller zu überwinden, und war fast verlegen, als er die Umarmung des Vaters erwiderte. Der Alte hielt lange seinen Arm, drängte sich ihm nah an die Seite, betrachtete ihn und begann zu fragen: ob es ihm gut gehe, ihm nichts fehle, und wie das Asthma sei, vor allem heute, an solch einem frostig trüben Tag. Storm sprach viel, ohne dass er die Stimme anhob oder die Antwort schon hören wollte. Er wandte sich dann wieder zu den drei Männern, mit denen er zuvor geredet hatte. Nun wird mich, wenn Sie erlauben, mein Sohn entführen. Da er endlich gekommen ist, sagte er und sah ihn an, der ihn um Kopfeslänge überragte, mit Stolz und Genugtuung, die er sich sonst selten gönnte. Doch hob in diesem Augenblick die Freude alles andere auf.
So als könne er nicht erwarten, mit ihm allein zu sein, hakte Storm sich bei ihm unter, nachdem sie sich von den Herren verabschiedet hatten, und schlug mit ihm die Straße zum »Weinbäck« ein. Er hatte vorgesehen, dort zu essen. Das Mittagmahl, so war es mit Lina Strecker ausgemacht worden, würde er zuweilen außerhalb einnehmen, um ihren Haushalt zu entlasten und um Gelegenheit zu haben, seinen Sohn zu treffen oder auch um andere Verabredungen einzugehen. Es waren nun für ihn besondere Tage, Ferientage, wie er sie sich nicht oft hatte nehmen können, und die er ausgiebig zu nutzen vorhatte. Ihr erstes Gespräch miteinander nach so langer Zeit glich keinem Kampf, eher einem Tanz umeinander herum, ein vorsichtiges Kräftemessen, Vorfühlen, Zurückschrecken. Zu vieles war zu bedenken, was nicht ausgesprochen werden sollte, was ferngehalten werden musste, um jedes direkte Aufeinandertreffen zu vermeiden. Es galt, die Schwierigkeiten zu überlisten, sie lächelnd beiseite zu lassen, um vielleicht doch, und sei es nur einen Augenblick lang, im Einverständnis miteinander zu sein. Nichts sollte das Wiedersehen stören, auch nicht der Anlass, weswegen Storm gekommen war.
Noch ist es eine halb spielerische Verfolgungsjagd, dachte Hans. Man hört, wenn man geht, dass der andere hinter einem hergeht, und man hört, wie er läuft, wenn man selber läuft. Und bleibt man stehen, steht auch der andere schon und blickt mit gespielter Harmlosigkeit sich selber um, als könnte sonst irgend jemandem hier an einer Verfolgung gelegen sein, deren Opfer sie dann beide sein müssten. Storm bestellte gekochtes Fleisch mit Meerrettichsoße und Wein, der aus der Gegend kam, den offenen, schmackhaften, wie er verlangte, obwohl er davon nicht viel Ahnung hatte. Nur an diesem Tag, setzte er scherzend hinzu.
Sie hatten im »Weinbäck« einen Tisch für sich alleine gefunden. Noch waren kaum Gäste in der Wirtsstube, die heimelig war und gut geeignet für ein solches Gespräch, das herzlich und versöhnend sein sollte. Ja, es galt, eine Versöhnung zu feiern, denn dem Sohn hatte das...