Bätschmann | Das Kunstpublikum | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 25, 200 Seiten

Reihe: Hatje Cantz Text

Bätschmann Das Kunstpublikum

Eine kurze Geschichte

E-Book, Deutsch, Band 25, 200 Seiten

Reihe: Hatje Cantz Text

ISBN: 978-3-7757-5528-3
Verlag: Hatje Cantz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Neben Produktion und Verbreitung ist die Rezeption das dritte große Forschungsgebiet der Kunstgeschichte. In der Regel erfolgt dabei eine Fokussierung auf die individuelle Rezeption. Das Kunstpublikum. Eine kurze Geschichte untersucht dagegen erstmals die Bedeutung eines notwendigen, aber meist u¨bersehenen Akteurs im Kunstbetrieb. Bildliche und schriftliche Zeugnisse aus allen Zeiten dokumentieren das Verhalten des Publikums und die unterschiedlichen Beurteilungen durch Ku¨nstlerinnen und Ku¨nstler, Sammlerinnen und Sammler sowie Kritikerinnen und Kritiker.
Bätschmann zeigt auf, dass die Sachverständigen im Kunstsystem stets zwischen zwei Extremen schwanken: Sie stehen dem Publikum entweder skeptisch gegenu¨ber und verachten dessen Geschmack oder sie schmeicheln der Masse und wollen ihren Applaus.
OSKAR BÄTSCHMANN (*1943) gehört zu den wichtigsten Kunsthistorikern unserer Zeit. Er lehrte in Zu¨rich, Freiburg i.Br., Gießen und Bern und hatte längere Forschungsaufenthalte am Getty Center, Santa Monica, an der Bibliotheca Hertziana, Rom, sowie am Center for Advanced Study in the Visual Arts an der National Gallery of Art, Washington, D.C. Bätschmanns Bu¨cher, darunter Einfu¨hrung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik und Ausstellungsku¨nstler, gelten als Klassiker des Fachs.
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Weitere Infos & Material


Cover
Title
Copyright
Contents
Prolog
Der Anteil des Publikums
Hierarchische Kategorien
Das Apelles-Problem
Teilung des Publikums
Sensationelle Attraktionen
Genuss, Bildung und Erhöhung
Das fruchtbare Publikum
Empfindsame und Gerührte
Grinsen, Lachen, Spotten
Die Massen
Trauernde Mengen
Geschätztes Publikum
Die Befragung in Dresden 1871
Ästhetische Erziehung
Große Player
Epilog
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur
Bildnachweis
Dank


Der Anteil des Publikums 1989 entdeckte der Photograph Thomas Struth in Wien das Museumspublikum als Sujet und dokumentierte fortan Besuchergruppen und einzelne Personen vor Gemälden und Skulpturen.1 1990 entstanden Aufnahmen in den Vatikanischen Museen, unter anderen die Photographie des Publikums vor Raffaels Borgobrand.2 Der Photograph nimmt einen erhöhten Standpunkt hinter der Gruppe ein, die in Rückenansicht anonym bleibt, allein der Kunstführer und zwei weitere Personen sind im Profil erfasst. Die Besucher sind durch biedere Mäntel einander angeglichen, nur eine Dame trägt ein Pelzcape. Der verhüllte Haufen kontrastiert mit den bewegten nackten Figuren in der gemalten Basis. Der Photograph ist der unbemerkte Beobachter des Publikums, der abwartet, bis sich eine günstige Konstellation für seine Aufnahme einstellt. Indem wir seine Photographie betrachten, treten wir in seine Rolle als Beobachter ein.3 Im Museo del Prado in Madrid entstanden 2005 einige Aufnahmen aus schrägem Blickwinkel (Abb. 1), sodass Velázquez’ Gemälde Las Meninas an den Rand und das Publikum in die Mitte rückt. Wie auf vielen Aufnahmen Struths ist das Publikum gemischt. Vor den Meninas bearbeiten und diskutieren Internatsschülerinnen ihre Aufgaben und Notizen zum Gemälde. Ein Mädchen stellt sich allein vorne vor das Gemälde, was zu einem Vergleich mit der Infantin Margarita Teresa und ihren Hofdämchen im Bild einlädt. Links ist zahlreiches Publikum aus Frauen und Männern aufgereiht, darunter sind eine Frau mit Photoapparat, ein Kunstgelehrter und eine Galerieführerin zu erkennen. Weiter hinten hebt ein Mann einen Apparat in die Höhe. Ein Paar studiert die Erläuterung des Museums zum Gemälde. Die Aufmerksamkeit des Publikums gehört ganz den Meninas, und auf das Gemälde der Infantin links daneben fällt kein Blick. Wie in vielen Museumsphotographien Struths handelt es sich um interessierte Museumsbesucher, nicht um Touristen, die einem Werk nur zwanzig Sekunden widmen bevor sie weiter schlendern. Manchmal nimmt Struth eine einzelne Person auf: eine Photographie von 1989 z. B. zeigt einen weißhaarigen Mann als Betrachter im Kunsthistorischen Museum in Wien vor zwei Gemälden von Rembrandt.4 Der Mann ist bekleidet mit einem dunkelblauen Regenmantel, hält die Hände hinter den Rücken und umfasst mit der Rechten drei Finger seiner linken Hand. Es ist unvermeidlich, bei diesem konzentrierten Betrachter an das alter ego des anderen Thomas zu denken, den keifenden Reger, dem sich im Kunsthistorischen Museum vor Tintorettos Gemälde Weißbärtiger Mann all der Ekel über Österreich und die Welt hochwürgt.5 In der Alten Pinakothek in München stellt sich ein einzelner Mann vor Albrecht Dürers Selbstbildnis von 1500, das frontal an der Wand gezeigt ist, während vom Betrachter in der blauen Jacke nur der linke Arm, etwas von der Hose und vom Kinn zu sehen ist.6 Die Betrachter der Porträts von Rembrandt und Dürer bleiben anonym wie die von hinten aufgenommenen Gruppen. Dagegen wendet sich der Photograph für die Aufnahmen in der Galleria dell’ Accademia in Florenz von 2004 dem Publikum zu, das sich staunend vor Michelangelos kolossalem David gruppiert.7 Die Kleidung verrät die Touristen: die Männer in Shorts, die Frauen in Jeans und Shirts. Zuweilen platziert Struth für seine Aufnahmen auch Statisten, wie etwa im Berliner Pergamonmuseum, wo sie in kleinen Gruppen sitzen, stehen oder eine Gesprächssituation vorspielen. In einer Aufnahme vom Art Institute in Chicago stehen sieben Personen vor der Absperrung der Grande Jatte von George Seurat und wiederholen die Beziehungslosigkeit der Figuren im Gemälde. Die Aufnahmen zeigen den gleichartigen Gebrauch der Gemälde und Skulpturen durch das Publikum, das sich ordnungsgemäß verhält. Alle Museen und Ausstellungshallen versuchen das Verhalten der Besucherinnen und Besucher durch Gebote, Verbote und Erlaubnisse zu steuern. In Italien verlangen die Reglemente der Museen noch immer angemessene Bekleidung und schickliches Verhalten.8 Diese Wünsche sind Relikte aus der Vergangenheit, als die Damen und Herren im Deux-Pièces, Hut und Handschuhen oder mit Anzug und Krawatte in die Museen gingen. Das Règlement de visite für den Louvre, erlassen vom Président-Directeur, umfasst 36 Artikel, wovon Nr. 3 detailliert die Verbote aufzählt, wie z. B. Essen und Trinken, Rauchen, Schreien, Rennen, Berühren. In Italien und im Louvre ist das Mitbringen von Waffen untersagt; in großen Häusern wird ein »security check« vorgeschrieben; erlaubt ist das Photographieren ohne Blitz, Stativ oder Stick; auf den Diebstahlalarm und die Videoüberwachung wird aufmerksam gemacht, die Benützung der Garderobe ist vorgeschrieben usw. Überall werden dem Publikum Vorschriften gemacht und Sanktionen angedroht. Struth deckt weder ein Fehlverhalten auf, noch karikiert er die Besucher. An seinen sachlichen Photographien von Einzelnen und Gruppen können wir zur Frage überleiten, ob wir das Kunstpublikum für eine Vervielfältigung der Betrachterin oder des Betrachters halten: kann der »Anteil des Betrachters« addiert werden zu einem »Anteil des Publikums«, oder müssen wir diesen etwa nach Geschlechtern, Ethnien und Dynamik neu und anders bestimmen? Die Rezeptionsästhetik erkennt den Anteil des Betrachters am Kunstwerk in Wahrnehmung und Empfindung. Sie begreift das Kunstwerk »als Ergebnis einer Interaktion von Werk und Betrachter« und analysiert die Mittel, »die dieses dialogische Verhältnis auslösen«.9 Ließe sich analog ein Anteil des Publikums annehmen? Könnte man sich ein »dialogisches Verhältnis« einer Menge vorstellen, die sich vor einem Gemälde versammelt, und wie wäre das Ergebnis zu fassen? Wenn man von einer Betrachterin oder einem Betrachter spricht, meint man eine einzelne Person oder ein Kollektivsingular und ist ein kollektiver oder ein privater Gebrauch eines Werkes impliziert? Ein Privatgebrauch kann von einem Auftraggeber intendiert oder vom Besitzer gewollt sein, wie etwa bei erotischen Darstellungen. Bekanntlich erwarb der osmanische Diplomat Khalil Bey in Paris erotische Gemälde und ließ das schamloseste, das Gustave Courbet für ihn malte, mit einer abnehmbaren harmlosen Landschaft verdecken.10 Im Gegensatz zu diesen privaten Lustobjekten sind die Ausstellungsbilder Courbets für das Publikum bestimmt, für »le public« oder »le grand public« – die breite Öffentlichkeit.11 Martin Disler, der als Maler, Plastiker, Schriftsteller und Dichter rastlos tätig war und 1996 im Alter von 47 Jahren an einem Hirnschlag starb, malte 1981 in einer wilden Aktion über Tage und Nächte das Kolossal-Panorama Die Umgebung der Liebe im Format von 4,4 ? 140 Metern für den Württembergischen Kunstverein in Stuttgart.12 1983 schrieb er für sein Buch Bilder vom Maler zwei Parabeln über die Beziehung von Publikum und Künstler sowie ein Märchen über das Volk als Künstler. In den Parabeln verhält sich das Kunstpublikum genau wie das Massenpublikum der Sportanlässe.13 Das Märchen erzählt von einem Maler, der unter dem Druck der Öffentlichkeit und dem Zwang der Farbe steht. Diese hat Gewalt über ihn, der nicht mit dem Malen aufhören darf, weil sonst die Farbe für immer versiegt. Von den Milliarden Bildern, die bald das Land überschwemmen, ist das Volk begeistert, doch König und Minister fühlen sich bedroht und lassen die Bilder von fünftausend Reitern zertrampeln. Die Attacke lenkt den Maler ab, die Farbe versiegt und die Kunst ist am Ende. Der Maler flieht, der König triumphiert, doch das Volk trauert und verwandelt sich selbst in den Maler. Die Verwandlung des Kollektivs Volk in den Maler folgt der Vorstellung vom Staat als Kompositkörper, wie ihn das Frontispiz von Thomas Hobbes’ Leviathan von 1651 zeigt: ein Riese der kirchlichen und staatlichen Gewalt, gebildet aus unzähligen gleich ausgerichteten Menschenkörpern.14 Die Parabeln handeln vom Künstlerstar: in der einen zieht der Künstler eine Supershow in einem Sportstadion vor fünfzigtausend Zuschauern ab, in der anderen hetzt das blutgierige Publikum den Künstler-Gladiator zu Tode. Der Maler rennt mit fünf riesigen Pinseln im Stadion umher und erfüllt in weltrekordlerischer Geschwindigkeit die Wünsche, Sehnsüchte und Ängste der Zuschauer. Die Menge gerät außer sich, und über achtzig Fernsehstationen ermöglichen es der halben Menschheit, ihre millionenfachen Wünsche und Ängste live zu übermitteln: Der Maler verarbeitete Millionen und Abermillionen Wünsche der halben Menschheit. Er lief mit dem roten Pinsel, er lief mit dem schwarzen Pinsel, er lief mit dem gelben, dem blauen, dem weißen. Das Publikum johlte. Die Spannung stieg ins Unerträgliche. Die Wünsche vergifteten die Luft. Die Sehnsucht umnebelte den Maler. Die Angst der Millionen erhellte das Stadion. Auf den Maler als ein vom johlenden Publikum umtosten Star folgt die Parabel vom Künstler, den das Publikum zum Tod verurteilt und hinrichtet. Der Maler wird an einen Computer angeschlossen, die Augen werden ihm, der wie ein Opfer Kafkas nicht ahnt, dass er getötet wird, mit einer schwarzen Binde verbunden. Dann zappelt er an den Elektroden und stolpert über die Farbfässer, während das Publikum sich in einen Blutrausch steigert und den Maler in der Arena zu Tode...


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