Bangert | Entgrenzte Ähnlichkeit im Milieu des Surrealismus | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 8, 947 Seiten

Reihe: Undisziplinierte Bücher

Bangert Entgrenzte Ähnlichkeit im Milieu des Surrealismus

Konturen, Vorgeschichte und Konjunktur eines ästhetischen Konzepts

E-Book, Deutsch, Band 8, 947 Seiten

Reihe: Undisziplinierte Bücher

ISBN: 978-3-11-076788-9
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Ähnlichkeit ist ein zentrales, doch theoretisch oft marginalisiertes ästhetisch-epistemologisches Paradigma, das Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaften aktuell vermehrt in den Blick nehmen. Wird sie dabei meist als epistemologisch vormodern eingeschätzt, so wurde auf eine moderne „Ästhetik des Ähnlichen" (Funk et al., 2001) verwiesen. Ausgehend von dem Befund, dass Ähnlichkeit gerade im Milieu des Surrealismus eine bemerkenswerte Konjunktur entfaltet, wird untersucht, wie sie in dessen transversaler Programmatik von rationalen, repräsentationalen und identitären Maßstäben freigesetzt wird. Anschließend an Überlegungen zu einer theoretischen Konturierung der Ähnlichkeit werden die Vorgeschichte der modernen Ästhetik und Epistemologie des Ähnlichen skizziert und konzeptuelle Dimensionen der Ähnlichkeitskonzepte Metapher, Metamorphose, Simulacrum und Mimikry erarbeitet. Im zweiten Teil wird deren ‚entgrenzter‘ Einsatz in Texten und Bildern André Bretons, Max Ernsts, René Magrittes und Roger Caillois’ aufgezeigt. Die Studie bietet einen Überblick über Ähnlichkeitsreflexionen seit der Antike und versteht sich als Teil der Forschungsbemühungen um eine Re-Evaluierung der Ähnlichkeit und ihrer Persistenz in der ästhetischen Moderne.
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Einleitung
Das Denken in Ähnlichkeiten ist alles andere als genuin modern, sondern wird oft als vormodern und als modern nicht erkenntnisfähig qualifiziert. Obwohl sie seit der Antike als fundamental für Erkenntnis und ästhetisches Handeln konzipiert wird, ist der Ähnlichkeit nicht nur die Philosophie überwiegend „ausgewichen“1, auch die Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaften haben sie „weitgehend umschifft oder marginalisiert“2 oder „das Konzept als heikel apostrophiert und eine eingehende Beschäftigung damit als aporetisches Unterfangen ausgeklammert.“3 Als „topic that has been important in the history of aesthetics but that has been marginalized by various critiques of it since the 1960s“4 verdient Ähnlichkeit jedoch eine Neubewertung: Dem Befund folgend, dass sie in der ästhetischen Moderne eine bemerkenswerte Produktivität entfaltet, wird hier Ähnlichkeit als zentrales ästhetisch-epistemologisches (Meta-)Konzept im Milieu des Surrealismus untersucht. Dabei mag die These einer modernen ‚Konjunktur‘ der Ähnlichkeit zunächst überraschen, denn sie scheint, ausgetrieben aus der philosophischen Erkenntnistheorie, der wissenschaftlichen Theoriebildung und künstlerischen Mimesiskonzepten und verdrängt durch die Repräsentationskritik und das Paradigma der Differenz, in der Moderne vielfach totgesagt. Demgegenüber argumentieren diese Überlegungen im Einklang mit einer Reihe aktueller Forschungsarbeiten für die „Persistenz“5 der Ähnlichkeit als ästhetisch-epistemologisches Paradigma. Dafür konturieren sie im ersten Teil Ähnlichkeit als epistemologischen und ästhetischen Grundbegriff, rekonstruieren Quellen der Ähnlichkeitsreflexion und die Vorgeschichte der modernen „Ästhetik des Ähnlichen“6 und erarbeiten konzeptuelle Zugänge zu den im zweiten Teil analysierten surrealistischen Ähnlichkeitskonzepten. Dieses mehrschrittige Vorgehen zielt nicht nur auf eine angemessen komplexe Perspektivierung der surrealistischen Ästhetik und Epistemologie des Ähnlichen, sondern zugleich auf eine theoretische Reevaluierung der Ähnlichkeit. Entgegen dem vermeintlichen Abschied der Moderne von der Ähnlichkeit zeigt eine genauere Betrachtung, dass sie als ein grundlegendes Phänomen der „ästhetische[n] Erfahrung“7, der Wahrnehmung, des Denkens, der Imagination, der Erinnerung, des (Wieder-)Erkennens, der Mimesis, der Sprache und der „Bildgebung“8 so wenig auszutreiben wie theoretisch zu bewältigen ist: Ähnlichkeiten zu erkennen und zu bilden ist als Grundoperation menschlichen In-der-Welt-Seins und „Grundkategorie menschlichen Denkens sowie der Wirklichkeitserfassung“9 so basal wie die Fähigkeit zur Unterscheidung. Das phänomenale Kontinuum der Welt wird nicht nur durch das differenzierende,10 sondern, wie bereits Platon und Aristoteles betonen, ebenso durch das Ähnlichkeiten (er-)findende Denken strukturiert. „Es ist eine philosophische Binsenweisheit, dass der Begriff der ‚Ähnlichkeit‘ der zentrale Begriff ist, um die Einheit der menschlichen Erfahrung zu garantieren, er wird als solcher niemals geleugnet.“11 Dennoch genießt Ähnlichkeit weit geringere theoretische Aufmerksamkeit als die Leitbegriffe Identität und Differenz. „Wer vom Ähnlichen spricht, weiß offenbar nichts Genaues“12, so das Vorurteil, und begnüge sich mit einer „Hermeneutik des Vorläufigen“, für die es scheinbar „weniger diakritische[r] Energie als für die Herstellung von Identität oder gänzlicher Andersheit“ bedarf.13 Dass jedoch, so Umberto Eco, „Menschen auf der Grundlage von Urteilen über Identität und Ähnlichkeit denken, läßt sich nicht bezweifeln.“14 Daher spielt der Ähnlichkeitsbegriff seit jeher „im Zusammenhang mit dem Erkenntnisproblem eine große Rolle.“15 So intuitiv evident sein Stellenwert erscheint, so komplex, unbestimmt und klärungsbedürftig ist er jedoch: Schwierigkeiten entstehen gerade dort, wo die theoretische Reflexion Ähnlichkeit auf den Begriff zu bringen sucht: „Zunächst einmal gibt es keine überkommene Theorie mit dem Titel Ähnlichkeit.“16 Zwar sind es „die Quellen selbst, die uns die herausragende Bedeutung der ‚Ähnlichkeitsfrage‘ von Aristoteles bis Foucault und Deleuze vor Augen führen.“17 Doch die so lange wie vielstimmige, teils explizite, teils „latente Tradition von Ähnlichkeitsphilosophemen“18 von Platon und Aristoteles über Tommaso Campanella, David Hume, John Stuart Mill, Gottfried W. Leibniz und Immanuel Kant bis hin zu Fritz Mauthner, Walter Benjamin und Ludwig Wittgenstein ist von Beginn an von begrifflichen Schwierigkeiten geprägt, die zu einem großen Teil aus der charakteristischen Unschärfe des Ähnlichkeitsbegriffs entstehen. Ähnlichkeit ist ein so universaler und ubiquitärer wie vager und proteischer ‚Begriff‘, der der Verbegrifflichung widersteht.19 Betrachten daher Philosophie und Wissenschaften Ähnlichkeit nicht nur als epistemologisch fundamental, sondern vielfach auch als Stein des Anstoßes und Quelle der Täuschung, so verhandeln neben ästhetischer Theorie, Poetik und Kunstprogrammatik gerade auch die Kunst und Literatur selbst Ähnlichkeitsphänomene, -wahrnehmungen und -assoziationen einerseits als epistemologisch valide, ingeniös und schöpferisch, andererseits als potenziell trügerisch, täuschend, phantastisch, wahnhaft und unheimlich. So lassen sich dem weiten Begriffsfeld der Ähnlichkeit nicht nur Begriffe wie Vergleich, Mimesis, Imitation, Nachahmung, Realismus, Repräsentation, Analogie, Assoziation, Modell, Kopie, Abduktion, Metapher, Symbol, Allegorie, Korrespondenz, Entsprechung oder Verwandtschaft zuordnen, sondern etwa auch Begriffe wie Unähnlichkeit, Simulation, Täuschung, Fälschung und Fake; vielbeklagt ist seit Platon ihr Potential zur Täuschung insbesondere der visuellen Wahrnehmung: Ähnlichkeit erscheint als „Begriff der evidentesten, aber auch verworrensten visuellen Beziehung, mit der wir im Alltagsleben wie in unserer Erfahrung der Bilder der Kunst Bekanntschaft machen können.“20 Wird alltagspragmatisch meist durchaus sicher „zwischen relevanten Ähnlichkeiten und solchen, die zufällig und illusorisch sind“, unterschieden, so sind dort, wo Kriterien der Unterscheidung und Maßstäbe der Bestimmung relevanter Ähnlichkeitsbezüge fehlen, dem Ähnlichkeitssehen, der Pareidolie oder einem paranoischen Interpretationssyndrom Tür und Tor geöffnet – zumal „jeder ein unanzweifelbares und von vielen Semiologen und Sprachphilosophen illustriertes Prinzip verinnerlicht hat: Unter einem bestimmten Gesichtspunkt hat jedes Ding Analogie-, Kontiguitäts- und Ähnlichkeitsbeziehungen zu jedem anderen.“21 Das Problem, dass „auf einer hinreichend allgemeinen Ebene jede Vorstellung mit jeder anderen in einem Verhältnis der Ähnlichkeit“ steht und alle „einander zu ‚berühren‘ vermögen“22, begleitet die Ähnlichkeitsreflexion von Platon bis Nelson Goodman. Während theoretische Ansätze diese Problematik mittels der Bestimmung von Relevanzkriterien sowie der Modellierung der Kontextabhängigkeit von Ähnlichkeitsurteilen rational zu begrenzen suchen – „[b]ereits die im Zeitalter der Aufklärung veröffentlichten Überlegungen zu Ähnlichkeit und Unähnlichkeit legen nämlich die Annahme nahe, dass es gerade die ‚constraints‘ sein könnten, durch die das Denken in Ähnlichkeiten produktiv wird“23 –, thematisiert und provoziert die ästhetische Praxis vielfach gerade eine Entgrenzung der Ähnlichkeit. Niklas Dommaschk spricht von einem „Überborden des Ähnlichen“ als Kehrseite der „Offenheit der Ähnlichkeit“, insofern „dem Herstellen von Ähnlichkeitsbeziehungen durch das Konzept selbst keine Grenzen gesetzt sind“.24 Literarische und bildkünstlerische Beispiele inszenieren die Produktivität der Ähnlichkeitswahrnehmung als Quelle der Imagination und Kreativität, aber auch die Fallstricke der Täuschung, des wissenschaftlichen Dilettantismus und des Wahns, denen Figuren verfallen, die überall trügerische Ähnlichkeiten sehen, Relevanzkriterien nicht nach Maßgabe der Logik oder Konvention auswählen und die Welt ungewöhnlich ordnen: Angesichts der „wilden Ähnlichkeit“25 drohe die „Relationalität des Ähnlichen […] ihr Erkenntnispotential gänzlich einzubüßen“.26 Die ästhetische Thematisierung eines potentiell entgrenzten Denkens in Ähnlichkeiten verweist dabei auf die grundlegende epistemologische und ästhetische Bedeutung der Ähnlichkeit, deren Konzeptualisierung sich in die Antike zurückverfolgen lässt: Seit den philosophischen Großkonzepten Platons und Aristoteles’ wird Ähnlichkeit als erkenntnistheoretisches und ontologisches, topisches und dialektisches, mimetisches und tropologisches Konzept diskutiert, das zwischen Identität (dem Einen, Selben) und Differenz (dem Anderen, Verschiedenen) steht und so nicht nur zwischen grundlegenden onto-epistemologischen Größen vermittelt, sondern auch zur logischen Grundlage von Begriffsbildung und Kategorisierung wird.27 Zugleich fasst eine weite, abstrakte Definition der Ähnlichkeit als...


Dr. Sara Marie Bangert, Universität Tübingen.

Sarah Bangert
, University of Tübingen, Germany.


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