E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Banzer / Quaderer / Paulmichl Literatur sichten
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-99037-123-7
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Südtirol | Alto Adige | "alto fragile", Eine Anthologie. Jahrbuch 15, Literaturhaus Liechtenstein
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
            ISBN: 978-3-99037-123-7 
            Verlag: Folio
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 0 - No protection
Mit Texten von Giovanni Accardo, Eeva Katarina Aichner, Rut Bernardi, Massimiliano Boschi, Maria Elisabeth Brunner, Roberta Dapunt, Gabriele Di Luca, Maddalena Fingerle, Sabine Gruber, Maria C. Hilber, Teseo La Marca, Kurt Lanthaler, Selma Mahlknecht, Felix Maier, Sepp Mall, Julian Peter Messner, Gentiana Minga, Josef Oberhollenzer, Maxi Obexer, Tanja Raich, Anna Rottensteiner, Nadia Rungger, Sonja Steger, Matthias Vieider, Erika Wimmer Mazohl, Stefano Zangrando, Jörg Zemmler Illustrationen Arnold Mario Dall'O
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Vorwort
Giovanni Accardo: Vincenzo und Lissy
Eeva Katharina Aichner: Tamisch – Versuch über eine Tiroler Wesensart
Rut Bernardi: Unheilbar
Massimiliano Boschi: Das Opfer
Maria E. Brunner: Die vielen Seiten der Geschichte
Roberta Dapunt: Beißt doch die Zeit sich fest an diesem Ort des immer Gleichen.
Gabriele Di Luca: Ohne die anderen leben
Maddalena Fingerle: Du hast mich spielen sehen
Sabine Gruber: Journalgedichte
Maria C. Hilber: Hintergrundstrahlung
Teseo La Marca: Vieles ist anders hier
Kurt Lanthaler: Pi, oder: Von der Rundung der Welt
Selma Mahlknecht: Das sanfte Wachsen des Grases
Felix Maier: An den gelben Enzian
Sepp Mall: Weiterwandern, niemanden zurücklassen
Julian Peter Messner: engel der freundschaft
Gentiana Minga: Sie beide allein
Josef Oberhollenzer: Traumschaften
Maxi Obexer: Das Draußen sagt mir alles
Tanja Raich: Unscheinbare Kulissen
Anna Rottensteiner: Amadou, Kofler, Kaser und ich
Nadia Rungger: heute, oder
Sonja Steger: raptoren
Matthias Vieider: Logbucheinträge
Erika Wimmer Mazohl: Kindermoden
Stefano Zangrando: Köstenweg
Jörg Zemmler: John Cage erzählt eine Kriminalgeschichte
Biografien
Vincenzo und Lissy
„Lissy! Lissy!“
Der da ruft, beinahe schreit, ist Vincenzo. Er ist zwischen Dominikanerplatz und Waltherplatz unterwegs, mit der unvermeidlichen grauen „coppola“, der typischen sizilianischen Mütze auf dem Kopf und dem Schal, der ihm fast bis zum Kinn reicht.
Vincenzo ist neunundzwanzig Jahre alt, kommt aus Sizilien, hat aber normannische Wurzeln, wie er gern sagt, denn er ist blond und hat blaue Augen. Er wohnt seit fünf Jahren in Bozen und hat ständig die Arbeit gewechselt, bis er sich in den vom Gesundheitsbetrieb organisierten Kurs für Sozialbetreuer eingeschrieben und in einer Privatklinik Arbeit gefunden hat. Er hat einen Jahresvertrag mit einem Monatsgehalt von 1500 Euro. Lissy hat er in dem Kurs kennengelernt. Sie ist sechsundzwanzig Jahre alt, in Brixen geboren und wohnt in Bozen, seit sie neunzehn ist. Eigentlich heißt sie Elisabeth, doch alle haben sie stets Lissy genannt. Wer weiß, woher dieser deutsche Name kommt, hat sich Vincenzo das erste Mal gefragt, vielleicht aus den Straßen der Brixner Altstadt, wo man sich wie in Österreich vorkommt. Denn trotz des deutschen Namens ist sie Italienerin und Tochter von Italienern, die Mutter stammt aus Venetien, der Vater aus den Abruzzen.
Vincenzo hasst den Winter, die Kälte lähmt ihn, er weiß nie, was anziehen, und manchmal hat er auch keine Lust, aus dem Haus zu gehen. Da er sich aber immer die Wohnung mit jemandem geteilt hat, zeitweise auch das Zimmer, war Ausgehen oft ein unverzichtbarer Fluchtweg. Sein Horizont war das Meer, ein offener Horizont, der ihm die Lungen durchströmt. Der Schnee dagegen ängstigt ihn, dieses ganze Weiß erscheint ihm wie eine Drohung, ein Feind, der ihn einkreist und ihm den Atem nimmt. Er hat nichts gegen die Berge, doch sie sind ihm nie in Fleisch und Blut übergegangen, auch nicht, als er mit Zimmerkollegen zusammenwohnte, die ihn im Sommer zum Wandern in den Wäldern oberhalb von Bozen mitnahmen.
Lissy hält das Fahrrad an und wartet auf Vincenzo. Sie wirkt ungeduldig, braune Augen, schwarze, lange krause Haare. Sie wird sehr leicht nervös, das hat Vincenzo mittlerweile gelernt, und in der Tat weiß er nie, wie er sie nehmen soll. In der Schule geriet sie oft mit den Professoren aneinander, hat sie ihm erzählt, und deshalb hat sie die Schule mit zwei Jahren Verspätung an einer Bozner Abendschule abgeschlossen. Ihre letzte Arbeit war Verkäuferin in einem Geschäft für Heimtierbedarf. Jetzt arbeitet sie in einem Seniorenheim.
Was Vincenzo an Sizilien am meisten fehlt, außer seinen Freunden, ist das Zuhause: bequem, geräumig, mit seinem Zimmer voller Gerüche und Erinnerungen an die Kindheit und Jugend. Vor allem aber sieht er von seinem Haus auf das Meer, und wenn er will, ist er in zwei Minuten am Strand: zum Spazieren im Winter, zum Baden im Sommer. Mehrmals war er versucht, Bozen zu verlassen und in sein Dorf zurückzukehren, besonders wenn er beinahe einen Monat lang kein Geld und keine Arbeit mehr hatte. Zum Glück sind jener Schulungskurs, eine kleine Studienbeihilfe und Lissy gekommen, die ihn eines Abends geküsst und durcheinandergebracht hat. Nach dem ersten Mal haben sie sich noch öfter geküsst, meist am Ende des Nachmittagsunterrichts, im Stehen, wie zwei Kinder. Allerdings hat sie sich gleich als schwieriges Mädchen erwiesen. Manchmal blieb sie nach dem Unterrichtsende gern bei ihm, häufig aber war sie nervös und zornig, da redete man sie besser nicht an. Vincenzo sah ihr zu, wie sie in den ersten Bus stieg oder sich aufs Fahrrad schwang, ohne ein Wort zu sagen. Mit ihren Eltern hat sie sich zerstritten und seit ein paar Jahren fährt sie nicht mehr nach Brixen. In Bozen ist sie zu einer Casapound*-Aktivistin geworden, deshalb schimpft sie gegen die Einwanderer, hat etwas gegen die Deutschen, weil sie sich weigern, Italiener zu werden, demonstriert für die faschistischen Denkmäler. Die Slogans haben vielen Boznern gefallen, sodass Casapound bei den Kommunalwahlen 2016 drei Stadträte gestellt hat, und am Tag der Amtseinführung sind die Aktivisten mit der Trikolore zum Rathaus marschiert. Einige hat das an den Aufmarsch der Faschisten im Jahr 1921 erinnert, als ein faschistisches Kommando mit Schusswaffen und Handgranaten einen Trachtenumzug überfallen und Panik verbreitet hatte. Ein Volksschullehrer war beim Versuch, seine verängstigten Schüler zu beschützen, gestorben.
„Wohin gehst du?“, fragt Vincenzo sie.
„Zur Kundgebung.“
„Welche Kundgebung?“
„Gegen die Lager im Bahnhofspark.“
„Welche Lager?“
„Die der Einwanderer, mittlerweile ist dieser Park ihr Zuhause geworden, sie essen dort, schlafen dort, pinkeln dort und vor allem handeln sie mit Drogen. Sie nehmen unsere Stadt in Besitz.“
In den letzten Jahren sind viele Einwanderer gekommen, die vor Kriegen fliehen und nach Deutschland oder Nordeuropa wollen. Österreich jedoch verbietet ihnen die Durchreise, und so steigen sie am Bahnhof Bozen aus und warten auf ein Visum, ein Permit, einen Platz zum Bleiben. Vincenzo befasst sich nicht mit Politik, die Auswanderung ist aber Teil seiner Geschichte: Sein halbes Dorf lebt und arbeitet in Deutschland, in der Schweiz, in Norditalien; sein Vater hat einige Jahre in einer Fabrik in Stuttgart gearbeitet.
„Auch ich bin ein Migrant“, sagt er also.
„Du bist aber Italiener“, erwidert Lissy, „du bist hier zu Hause.“
„Mein Zuhause ist in Sizilien. Ich bin nur deshalb nach Bozen gekommen, weil es hier Arbeit gibt.“
Lissy wohnt mit zwei Freundinnen in einem jener elf- oder zwölfstöckigen zementfarbenen Mehrparteienhäuser in der Europaallee, bei deren Bau man am Material gespart hat, sodass man vom eigenen Zimmer die Gespräche und Fernsehgeräte der Nachbarn hört, auch wenn sie sich anscheinend nicht darum kümmert.
Eines Abends hatte Vincenzo sie besucht und plötzlich, aber erst nach dem Abendessen, hatte er einen seiner heftigen Migräneanfälle bekommen. Für einen Augenblick war ihm schwarz vor den Augen geworden, und er konnte nicht mehr sprechen. Lissy war erschrocken. Er hatte ihr mit einem Handzeichen zu verstehen gegeben, sie solle ruhig bleiben, sie aber hatte nicht aufgehört zu fragen, was los sei. Als er wieder sprechen konnte, mit gestammelten Worten, die mühsam einen Satz bildeten, hatte er sie gebeten, sich einen Moment hinlegen zu dürfen. Sie hatte ihn in das Zimmer begleitet, das sie sich mit einer der Mitbewohnerinnen teilte. Vincenzo war vom Schmerz übermannt, er konnte nicht einmal die Augen offen halten. Er hatte gehört, wie Lissy ihre Zimmergenossin gefragt hatte, ob er zum Schlafen dort bleiben könne, dann war er in einen narkoseähnlichen Schlaf gesunken. Nachts war er aufgewacht, und der Schmerz war weg. Draußen regnete es, man hörte den Regen auf die Scheiben des halb heruntergelassenen Rollladens klopfen. Lissy schlief neben ihm, der Wand zugekehrt. Er erinnerte sich auch nicht, sich ausgezogen zu haben und unter die Decke geschlüpft zu sein, vielleicht hatte sie das getan. In dem an die gegenüberliegende Wand gerückten Bett hatte er das andere Mädchen atmen gehört. Vincenzo hatte ein wunderbares Gefühl der Leichtigkeit verspürt, fast des Rausches, ohne jenen schrecklichen Schmerz, der ihn in ein schwarzes Loch gestürzt hatte. Er hatte sich geborgen gefühlt wie nie zuvor, in Sicherheit. Wer weiß, vielleicht fühlte man sich so im Mutterschoß, im Fruchtwasser schwimmend. Er glaubte sogar, dass sich sein Leben nach jener Nacht ändern würde, doch als er morgens wieder aufwachte, war jenes intensive Wohlbefinden, ein seltenes Glücksgefühl, nur noch Erinnerung.
Nach dem Gymnasium hatte Vincenzo in Palermo das Studium der Rechtswissenschaft begonnen, es nach fünf Prüfungen aber abgebrochen. Nach Palermo begab er sich gelegentlich, besuchte wenige Vorlesungen, und der Vater hielt ihm vor, dass er ihm unnützerweise die Miete für ein Zimmer bezahlte. Als er sagte, dass er nicht mehr studieren wolle, wurde der Vater zornig und fragte ihn, was er denn zu tun gedenke, mit seinen zweiundzwanzig Jahren.
„Ich suche eine Arbeit“, gab Vincenzo zur Antwort.
„Und wo willst du eine Arbeit finden“, fuhr ihn der Vater an, «da in der Provinz Agrigent die Arbeitslosigkeit doch auf 40 Prozent gestiegen ist?» Und so war er denn für sechs Monate als Sekretariatshilfe in einer Mittelschule in Como gelandet, dann in Saronno und schließlich in Sondalo in der Provinz Sondrio, von wo er, dem Rat eines Lehrers folgend, nach Bozen gezogen war.
„Ich muss eine Wohnung in der Pfarrhofstraße besichtigen“, sagt er zu Lissy.
Inzwischen hat sich ein muskelbepackter Aktivist genähert, von dem Vincenzo eines Abends beinahe einen Faustschlag verpasst bekommen hat; er umarmt Lissy und küsst sie auf die Lippen. Vincenzo bebt, ballt die Fäuste in den Handschuhen.
Ein Jahr zuvor, an einem Abend im Februar 2018, hatte ihn Lissy...





