E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Barceló Das schwarze Brautkleid
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-492-96043-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-492-96043-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Elia Barceló, in Elda bei Alicante geboren, lebt seit vielen Jahren in Innsbruck, wo sie an der Universität spanische Literatur unterrichtet hat. Sie ist mit einem Österreicher verheiratet und hat zwei Kinder. Bereits mit ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Buch »Das Geheimnis des Goldschmieds«, dem die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen »unwiderstehlichen Sog« bescheinigte, gelang ihr ein großer Erfolg, an den sie mit ihren weiteren Büchern anknüpfen konnte.
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Eins
Ich lernte sie bei der Milonga kennen, während der Sturm in jener Aprilnacht den Geruch des Flusses und der feuchten Wälder in die von Bergen umgebene Stadt trug, in der ich wieder einmal beruflich unterwegs war.
Als ich ankam, war es schon nach elf und die Stimmung so kläglich, dass ich fast kehrtgemacht hätte. Eigentlich hätte ich mich im Hotel ausruhen sollen, nachdem ich so viele Stunden vor dem Bildschirm gesessen und mich damit abgemüht hatte, in das Chaos dieser Firma ein wenig Ordnung zu bringen. Aber die Leidenschaft siegte, ich war noch nicht zur Tür herein, als Gardels Stimme zu den ersten Liebesschwüren anhob – »Si supieras que aún dentro de mi alma conservo aquel cariño que tuve para ti« –, und im selben Augenblick wusste ich, dass ich bleiben würde, zumindest solange er sang, solange sich eine Frau schweigend an mich schmiegte und vom Zauber des Tangos forttragen ließ.
Die Frauen waren wie immer in der Überzahl, sie lehnten verträumt oder sehnsüchtig an der Wand oder standen rauchend in einer Ecke des Saals, im sanften Licht von ein paar mit rosa Stoff verhangenen Glühbirnen. In der Mitte, auf der runden Fläche zwischen den Tischen, tanzten einige Paare in Straßenkleidung, ernst und mit geschlossenen Augen.
Ich war nicht zum ersten Mal auf so einer Veranstaltung, es war ein typischer Gemeindesaal mit an die Wände gerückten Tischen, Pappbechern und Thermoskannen mit Erfrischungsgetränken irgendwo in einer Ecke und hohen Fenstern, die im nächtlichen Wind klapperten. Es rührte mich jedes Mal wieder von Neuem, dass sich in einer mitteleuropäischen Kleinstadt an einem Werktag Leute wie ich fanden, die wertvollen Schlaf opferten, um ihre Tanzleidenschaft auszuleben, und sei es in einem hässlichen, seelenlosen Saal mit einem Gettoblaster und einem Stapel CDs.
Ich hatte Innsbruck immer als trist empfunden, vielleicht weil ich die Stadt nur abends kannte, wenn die Sonne schon untergegangen war, oder frühmorgens, bevor sie aufging. Eine graue Stadt voller grauer Menschen, als würde die jahrhundertealte Geschichte mitsamt ihren Toten wie eine Steinplatte auf ihnen lasten und ihre Blicke, ihr Gemüt und ihre Stimmen dämpfen. Für einen kurzen Moment kam ich mir vor wie in einer Gespensterrunde, aber das lag am Tango, der eine ähnlich benebelnde Wirkung hat wie der Alkohol. Und dennoch war der Gedanke an Gespenster nicht verkehrt, denn nachts bei der Milonga kam eine Seite von mir zum Vorschein, die mich tagsüber nicht weiter beschäftigte, und mit meinem nächtlichen Ich die Sehnsucht nach einer Zeit, die ich nicht erlebt hatte, und nach einer Frau, die auch nie in La Boca auf mich gewartet hatte.
Niemand begrüßte mich. Als ich den Mantel ablegte und mir im Sitzen die Tanzschuhe anzog, taxierten mich mehrere Frauen und schlossen von meinen langsamen, gezielten Bewegungen auf mein Können, voller Erwartung, wie gewandt meine Schritte über die Tanzfläche gleiten, wie sicher meine Arme sie führen würden.
Bei keiner anderen zivilisierten menschlichen Tätigkeit ist es möglich, dass ein Mann eine Frau so führt und sie sich ihm so bedingungslos fügt. Der argentinische Tango ist der einzige Pakt, der nicht gebrochen werden kann. Vielleicht war ich ihm deshalb so leidenschaftlich verfallen, seit ich ihn vor langer Zeit bei einem Aufenthalt in Buenos Aires entdeckt hatte.
Mein nächtliches Ich, der Tangobesessene, der Milonguero, den niemand aus meinem Tagleben kannte, stand auf, es war immer das gleiche Spiel, mein Körper war wie verwandelt, hatte auf einmal ein sicheres Gespür für sein Gewicht, die Balance, die leichte Reibung der Ledersohle über dem glattem Parkett, die Drehung in den Hüften, die Brust, die sich zur Frau öffnet.
Da erblickte ich sie. Sie stand ganz hinten im Saal, mit der Schulter an eine Tür gelehnt, die einen Spalt offen stand, sodass der hereinfegende Wind einen Zipfel ihres engen, seitlich geschlitzten Satinrocks hob und ein von schwarzer Seide umspieltes Bein entblößte. In ihrer feinen Hand lag eine Zigarette, die neben ihrem Schenkel vor sich hin qualmte. Sie trug hohe Tanzschuhe mit gekreuzten Riemchen.
In dem schwachen Licht konnte ich ihr Gesicht nicht ausmachen, das zudem nach draußen gewandt war, als blickte sie auf etwas jenseits der Tür, ich sah kaum mehr als ihre langen schwarzen Haare, die mit einem altmodischen, mit funkelnden Strasssteinchen besetzten Kamm hochgesteckt waren, und die goldenen Ohrringe.
Sie war einem alten Album entschlüpft, ein Foto in Sepia, eine Frau, wie es sie nur in den Geschichten gab, die ich mir, angeregt von den Tangotexten, abends vor dem Einschlafen erzählte. Neben ihr erschienen mir auf einmal alle anderen Frauen blass, überflüssig, was, bitte schön, war leidenschaftlich an diesen Mitteleuropäerinnen, die in dem abgedunkelten Saal für ein paar Stunden ihren Alltag als Zahnärztinnen, Sekretärinnen, Hausfrauen vergaßen; von dieser mir allzu bekannten Möchtegernleidenschaft wollte ich nichts mehr wissen, das war passé, nichts im Vergleich zu der betörenden, unmöglichen Wirklichkeit dieser Frau, die auf mich zu warten schien, auf niemand anderen als diesen Unbekannten, der wie in einem Film von anno dazumal plötzlich da war, als hätte ihn der Wind hergeweht.
Sie sah mich nicht kommen. Eigentlich konnte sie mich auch nicht gehört haben, dennoch ließ sie bei den ersten Takten von Volver die Zigarette fallen, drehte sich zu mir um, und ihre Augen verschlangen mich. Schwarze, wie Spiegel glänzende Augen zwischen langen Wimpern. Eine Sekunde später tanzten wir.
Es war wie Fliegen, wie Schweben in einem tiefen, warmen Gewässer, durch das sich der schleppende Rhythmus eines alten, süßen Schmerzes zieht, einer vagen, in der Zeit verlorenen Erinnerung. Es war, als hätte ich etwas wiedergefunden, das ich hatte vergessen müssen, um weiterleben zu können – jetzt war es in seiner ganzen überwältigenden Unermesslichkeit wieder da. Ich hatte geglaubt, ich hätte mir das alles nur über die Jahre zusammenphantasiert, doch es war so intensiv, so betörend, so unerhört echt.
Sie umhüllte mich wie ein Seidentuch, und bei jeder molinete, die sie um mich herum drehte, stieg mir ihr Duft in die Nase, der Hauch eines Parfüms, und ihre ernsten Augen funkelten zwischen ihren lustschweren Lidern wie Juwelen. Es war, als läse sie meine Gedanken, als wüsste sie, noch bevor ich eine Bewegung andeutete, was ich von ihr wollte, als wären wir eins, ein einziger Körper, der in zwei Hälften getrennt gewesen und von der Musik wieder vereint worden war.
Wir sprachen kein Wort. Es war nicht nötig. Was hatten wir uns zu sagen, was nicht schon unsere Füße mit ihren Figuren ausdrückten, unsere sich dem ewigen Rhythmus hingebenden Körper. Hätte ich sie auf Deutsch angesprochen, wäre der Zauber zerstört worden, aber nicht weniger schreckte mich die Vorstellung, ich würde sie auf Spanisch ansprechen und sie mich nicht verstehen oder mir mit deutschem Akzent ein paar in Abendkursen erlernte Standardsätze antworten.
Im ersten Moment hielt ich sie für eine Spanierin oder Lateinamerikanerin und erwog, mit ihr durch die Tür, an der sie gelehnt hatte, in den verlassenen Garten zu schlüpfen, wo wir eine Zigarette hätten rauchen und uns in unserer Sprache unterhalten können. Aber dann wären unweigerlich die Fragen nach Namen und Beruf gekommen und damit der ernüchternde Moment, an dem sich diese bildschöne, göttlich tanzende Frau, die aus einem Gemälde von Quinquela Martín hätte stammen können, als eine im Exil lebende argentinische Psychologin oder dominikanische Unterwäscheverkäuferin entpuppt hätte.
Ihre Lippen streiften meine unrasierte Wange, und ich wusste, dass wir das Gleiche dachten: dass wir zum Tanzen gekommen waren, dass die Nacht uns gehörte, dass wir uns wie durch ein Wunder zu dieser späten Stunde in Mitteleuropa getroffen hatten, um uns von der Magie des Tangos forttragen zu lassen. Das genügte.
Wir tanzten ohne Pause ein Stück nach dem anderen, Milongas, bei denen sie ihre Anmut spielen ließ, einige Tangos von Piazzolla, deren schrill tönender Schmerz sie kurz zu überraschen schien.
Ich weiß nicht, wie lange wir blieben, denn die Zeit, die die Uhren messen, ist nicht die wahre Zeit.
Irgendwann tauchte ein junger Afrikaner auf, einer dieser fliegenden Händler, die plötzlich mit einem gewaltigen Strauß langstieliger roter Rosen im Arm dastehen und ein weißes Lächeln aufsetzen, ein Riss in dem Gesicht, das müde ist von den vielen Ablehnungen, von den vielen ausweichenden Blicken in teuren Restaurants und Lokalen.
Verzückt sah sie die Blumen an, und ein vorsichtiges Lächeln erschien auf ihren Lippen, dunkelrot wie die Rosen, die der junge Mann anbot. Ohne meinen Arm von ihrer Taille zu nehmen, zog ich ein paar Scheine aus der Hosentasche und gab sie ihm lächelnd. Er begutachtete den Strauß, als fiele ihm die Wahl schwer, dann zog er eine makellose Rose mit fast noch geschlossener Blüte heraus und reichte sie ihr. Sie sah mich an, berührte die Rose mit den Lippen, brach den überlangen Stiel ab, steckte sie sich in den Ausschnitt, schloss die Augen und gab sich meiner Umarmung hin.
Wir tanzten. Wir tanzten und vergaßen den erbärmlichen Gemeindesaal, die gewöhnlichen Paare, die die Schritte zählten oder sich leise die Figuren vorsagten, als könnten sie ohne das Hilfsmittel der Worte die Musik nicht in Tanz verwandeln, wir vergaßen die beleidigten Blicke der umstehenden Frauen, die Uhr, die irgendwo die Sekunden dieser Nacht zählte und meinen Wunsch zunichtemachte, diese Nacht möge nie zu Ende...




