E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Barker Die Stille der Frauen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95762-271-6
Verlag: Lago
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Epische Nacherzählung des Mythos von Booker-Prize-Gewinnerin Pat Barker
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-95762-271-6
Verlag: Lago
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pat Barker hat ihre literarische Karriere erst in ihren Vierzigern gestartet, als sie einen Kurzgeschichtenkurs besucht hat. Von ihrer Schreiblehrerin Angela Carter wurde sie ermutigt, weiterzuschreiben, weswegen sie ihre Geschichten an Verleger geschickt hat. 35 Jahre später hat sie nun 15 Romane veröffentlicht und viele Preise gewonnen, u. a. den höchsten Preis Großbritanniens, den Booker Prize.
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1
Großer Achill. Glänzender Achill, strahlender Achill, gottgleicher Achill … Wie sich die Epitheta häufen. Wir nannten ihn nie so; wir nannten ihn »den Schlächter«.
Leichtfüßiger Achill. Dieses Beiwort ist interessant. Mehr als alles andere, mehr noch als sein Glanz, mehr als seine Größe machte ihn seine Geschwindigkeit aus. Laut einer Geschichte jagte er einst den Gott Apoll über die Ebenen von Troja. Als er ihn schließlich stellte, soll Apoll gesagt haben: »Du kannst mich nicht töten, ich bin unsterblich.« »So«, antwortete Achill. »Aber wenn du nicht unsterblich wärst, wärst du jetzt tot, das wissen wir beide.«
Kein anderer durfte je das letzte Wort haben, nicht einmal ein Gott.
Ich hörte ihn, noch bevor ich ihn sah: sein Schlachtruf hallte um die Mauern von Lyrnessos.
Wir Frauen – die Kinder natürlich auch – waren angewiesen worden, zur Zitadelle zu gehen, und wir nahmen etwas frische Kleidung und so viel zu essen und zu trinken mit, wie wir tragen konnten. Wie alle ehrbaren verheirateten Frauen verließ ich nur selten das Haus – zugegeben, in meinem Fall war das Haus ein Palast – und so fühlte ich mich wie an einem Festtag, als ich im hellen Tageslicht die Straße entlangging. Beinahe. Unter dem Gelächter und den Ermunterungen und den Scherzworten, die wir einander zuriefen, glaube ich, hatten wir alle Angst. Ich zumindest hatte Angst. Wir wussten alle, dass die Männer zurückgedrängt wurden – der Kampf, der ehemals am Strand und rund um den Hafen stattgefunden hatte, tobte nun direkt vor den Toren. Wir hörten Rufe, Schreie, das Klirren von Schwertern auf Schilden, und wir wussten, was uns erwartete, sollte die Stadt fallen. Und doch fühlte sich die Gefahr unwirklich an – für mich zumindest, und ich bezweifle, dass die anderen besser begriffen, was uns drohte. Wie sollte es möglich sein, dass diese hohen Mauern, die uns unser ganzes Leben lang geschützt hatten, nun fielen?
Aus den engen Gassen der Stadt strömten kleine Gruppen von Frauen mit Babys auf dem Arm oder kleinen Kindern an der Hand auf den Hauptplatz. Grelles Sonnenlicht, heftige Windstöße, der schwarze Schatten der Zitadelle griff nach uns, um uns aufzunehmen. Als ich vom hellen Licht ins Dunkle trat, sah ich einen Augenblick nichts und stolperte. Die einfachen Frauen und die Sklaven wurden im Untergeschoss zusammengepfercht, während Angehörige der königlichen und adeligen Familien das Obergeschoss erhielten. Bis ganz nach oben stiegen wir die gewundene Treppe hinauf, kaum konnte man auf den schmalen Stufen den Fuß aufsetzen, herum und herum und herum, bis wir endlich unvermittelt in einen großen, kahlen Raum traten. Auf dem Boden lagen in Abständen Lichtpfeile aus den Fensterschlitzen, die Ecken des Saales blieben im Dunklen. Langsam blickten wir uns um, wählten Stellen aus, wo wir uns niederließen, unsere Habseligkeiten ausbreiteten und mit dem Versuch begannen, etwas zu schaffen, das einem Zuhause ähnelte.
Zunächst war es kühl, doch als die Sonne höher stieg, wurde es heiß und muffig. Stickig. Nach wenigen Stunden war der Geruch von schwitzenden Körpern, Milch, Babyscheiße und Menstruationsblut fast unerträglich geworden. Babys und Kleinkinder wurden in der Hitze quengelig. Mütter legten ihre jüngsten Kinder auf Laken und fächelten ihnen Luft zu, während ihre älteren Brüder und Schwestern aufgeregt herumsprangen und nicht recht begriffen, was hier geschah. Einige Jungen, zehn oder elf Jahre alt, zu jung zum Kämpfen, formierten sich oben an der Treppe und taten so, als drängten sie Angreifer zurück. Die Frauen blickten einander ständig an, sie hatten trockene Münder und sprachen nicht viel, während draußen die Rufe und Schreie lauter wurden und die Schläge gegen die Stadttore begannen. Wieder und wieder ertönte jener Schlachtruf, so unmenschlich wie das Heulen eines Wolfes. Ausnahmsweise beneideten die Frauen mit Söhnen diejenigen mit Töchtern, denn Mädchen würde man am Leben lassen. Jungen wurden, wenn sie auch nur entfernt im kampffähigen Alter waren, üblicherweise niedergemetzelt. Sogar schwangere Frauen wurden manchmal umgebracht, man stach ihnen einen Speer durch den Leib, auf gut Glück, für den Fall, dass ihr Kind ein Junge sein würde. Ich sah Ismene, die im vierten Monat mit dem Kind meines Mannes schwanger war und sich die Hände fest auf den Bauch drückte, im Versuch, sich davon zu überzeugen, dass man ihr die Schwangerschaft noch nicht ansah.
In den letzten paar Tagen hatte ich oft bemerkt, wie sie mich anschaute – Ismene, die einst so bedacht darauf gewesen war, meinem Blick niemals zu begegnen –, und ihr Gesichtsausdruck hatte deutlicher als Worte gesprochen: Nun ist die Reihe an dir. Wollen wir doch mal sehen, wie es dir gefällt. Er schmerzte, dieser aufdringliche, starre Blick. Ich stammte aus einer Familie, in der man die Sklaven mit Güte behandelte, und als mein Vater mich mit Mynes, dem König, vermählte, führte ich diese Tradition in meinem eigenen Haushalt fort. Ich war freundlich zu Ismene gewesen, zumindest glaubte ich das, aber vielleicht war zwischen Herren und Sklaven gar keine Freundlichkeit möglich, nur unterschiedliche Grade von Brutalität? Ich schaute durch den Raum hinweg zu Ismene und dachte: Ja, du hast recht. Nun ist die Reihe an mir.
Niemand sprach von Niederlage, obgleich wir sie alle erwarteten. Nun, bis auf eine alte Frau, eine Großtante meines Mannes, die darauf beharrte, dass es eine rein taktische List sei, sich bis zu den Stadttoren zurückdrängen zu lassen. Mynes mache nur zum Schein mit, sagte sie, er werde sie täuschen und in die Falle locken. Wir würden siegen und die räuberischen Griechen ins Meer jagen – und ich denke, einige der jüngeren Frauen glaubten ihr vielleicht. Aber dann erklang wieder dieser Schlachtruf, und noch einmal, jedes Mal näher, und wir alle wussten, wer es war, aber niemand sprach seinen Namen aus.
Schwer lag die Vorahnung dessen in der Luft, was uns bevorstand. Mütter umarmten Mädchen, die schon herangewachsen, aber noch nicht reif für die Ehe waren. Mädchen von neun und zehn Jahren würden nicht verschont bleiben. Ritsa beugte sich zu mir hin. »Na, wenigstens sind wir keine Jungfrauen.« Sie grinste, als sie das sagte, und legte die Lücken in ihrem Gebiss frei, verursacht durch die langen Jahre der Schwangerschaften – ohne dass sie ein lebendes Kind vorweisen konnte. Ich nickte und rang mir ein Lächeln ab, aber ich sagte nichts.
Ich machte mir Sorgen um meine Schwiegermutter, die es vorgezogen hatte, im Palast zurückzubleiben, statt sich in einer Sänfte in die Zitadelle tragen zu lassen. Ich war besorgt und ärgerte mich über mich selbst, dass ich besorgt war, denn wären unsere Rollen umgekehrt verteilt gewesen, hätte sie sich um mich sicherlich nicht gesorgt. Vor einem Jahr war sie an einem Leiden erkrankt, das ihren Bauch anschwellen und sie bis auf die Knochen abmagern ließ.
Endlich beschloss ich, dass ich zu ihr gehen musste und zumindest nachsehen, ob sie genug Wasser und Essen hatte. Ritsa wäre mit mir gekommen, sie war schon aufgestanden, aber ich schüttelte den Kopf. »Ich bin gleich wieder da«, sagte ich.
Draußen holte ich tief Luft. Selbst in diesem Augenblick, als die Welt kurz davorstand, um mich herum zu versinken, war ich erleichtert, die unverdorbene Luft zu atmen. Sie war heiß und staubig und brannte sengend heiß im Hals – doch nach dem stinkenden Dunst des Saales roch sie frisch. Der schnellste Weg zum Palast führte mitten über den Hauptplatz, aber dort sah ich Pfeile verstreut im Staub liegen, und während ich noch hinblickte, schnellte einer über die Mauern und blieb zitternd im Boden stecken. Besser kein Risiko eingehen. Ich rannte eine Seitengasse hinunter, die so eng war, dass die Häuser sich über mir auftürmten und kaum Licht hineinließen. Als ich die Mauern des Palastes erreichte, trat ich durch eine Seitenpforte ein, die unverschlossen geblieben sein musste, als die Dienerschaft geflüchtet war. Zu meiner Rechten wieherten Pferde in den Ställen. Ich überquerte den Hof und lief rasch einen Gang entlang, der in die Haupthalle führte.
Er kam mir fremd vor, dieser riesige, erhabene Raum, an dessen hinteren Ende Mynes’ Thron stand. Diesen Raum hatte ich zum ersten Mal am Tag meiner Hochzeit betreten, nach Einbruch der Dunkelheit in einer Sänfte aus dem Haus meines Vaters getragen, begleitet von Männern mit lodernden Fackeln. Mynes und seine Mutter, Königin Maire, hatten mich erwartet, um mich zu begrüßen. Sein Vater war im Jahr zuvor gestorben. Mynes hatte keine Brüder und es war entscheidend, dass er einen Erben bekam. So wurde er verheiratet, viel früher, als die Männer normalerweise heiraten, obwohl er sich zweifellos bereits durch die Frauen im Palast gearbeitet hatte, mit ein paar Stallburschen als genüssliche Dreingabe. Was für eine Enttäuschung muss ich...




