E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Barker Die Stimme der Frauen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95762-325-6
Verlag: Lago
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Epische Nacherzählung des Mythos aus Sicht einer starken Frau
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-95762-325-6
Verlag: Lago
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pat Barker hat ihre literarische Karriere erst in ihren Vierzigern gestartet, als sie einen Kurzgeschichtenkurs besucht hat. Von ihrer Schreiblehrerin Angela Carter wurde sie ermutigt, weiterzuschreiben, weswegen sie ihre Geschichten an Verleger geschickt hat. 35 Jahre später hat sie nun 15 Romane veröffentlicht und viele Preise gewonnen, u.a. den höchsten Preis Großbritanniens, den Booker Prize.
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1
Im Bauch des Pferdes herrscht Hitze, Dunkelheit, Schweiß, Angst. Die Männer sind hineingestopft wie Oliven in einen Krug, es ist eng und überfüllt. Er verabscheut die Berührung anderer Leiber, das ist immer schon so gewesen. Selbst bei sauberen, wohlriechenden Leibern wird ihm fast übel – und diese Männer hier stinken. Es wäre vielleicht nicht so schlimm, wenn sie sich nicht bewegen würden, aber das tun sie. Jeder regt sich, verlagert sein Gewicht von hier nach da und versucht, die Schultern so auszurichten, dass er ein klein wenig mehr Platz bekommt. Alle sind ineinander verschlungen und winden sich wie die Würmer in der Pferdescheiße.
Rotwurm.
Das Wort schleudert ihn in eine Spirale der Erinnerung, immer weiter herab, hinunter, in die Vergangenheit, zurück ins Haus seines Großvaters. Als Junge – einige der Männer hier scheinen zu glauben, er wäre noch immer einer – ist er jeden Morgen zu den Ställen hinuntergelaufen. Er rannte den Weg zwischen den großen Hecken entlang, sein Atem bildete Wölkchen in der kalten Luft, die nackten Zweige schimmerten im rötlichen Morgenlicht. Sobald er die Biegung hinter sich hatte, sah er den armen alten Rufus am Gatter des ersten Sattelplatzes stehen – oder vielmehr lehnen. Er hatte auf Rufus reiten gelernt. Das hatten sie fast alle, denn Rufus war ein außergewöhnlich zuverlässiges Pferd. Kein Witz: Wenn man ins Rutschen kam, streckte er den Huf aus und schob einen wieder hinauf. Er hatte nur glückliche Erinnerungen an das Reitenlernen. Also kraulte er Rufus ausgiebig an allen Stellen, die er selbst nicht erreichen konnte, dann blies er ihm sanft in die Nüstern, und ihr Atem vermischte sich in einem schnaubenden, warmen Laut. Der Klang von Sicherheit.
Wie sehr er dieses Pferd geliebt hat! Mehr als seine Mutter, mehr sogar als seine Amme, die man ihm ohnehin genommen hatte, als er sieben war. Rufus. Selbst der Name hatte ein Band zwischen ihnen geschaffen: Rufus – Pyrrhos. Beide Namen bedeuten »rot« – und sie waren beide ungewöhnlich rothaarig. Zugegeben, das Fell von Rufus war eher kastanienbraun als rötlich. Als junges Pferd hatte sein Fell geschimmert wie die ersten Rosskastanien im Herbst, aber er wurde natürlich älter. Und krank. Schon im letzten Winter hatte ein Pferdeknecht gesagt: »Er ist ein bisschen mager, man sieht seine Rippen.« Seitdem war Rufus von Monat zu Monat dünner geworden; Schulter- und Beckenknochen drangen scharf und spitz durchs Fell, und er begann, ausgemergelt auszusehen. Nicht einmal das saftige Sommergras hatte ihn Fett ansetzen lassen. Eines Tages beobachtete Pyrrhos, wie ein Stallknecht einen Haufen lockerer Pferdeäpfel zusammenschaufelte, und er fragte: »Warum sieht das so aus?«
»Rotwurm«, antwortete der Mann. »Der arme alte Kerl ist voll davon.«
Rotwurm.
Und dieses Wort versetzt ihn zurück in die Hölle.
Zuerst gestattet man ihnen Wachslichter, mit der strengen Mahnung, sie augenblicklich zu löschen, sobald sich das Pferd zu bewegen beginnt. Schwache, flackernde Lichter, doch ohne sie hätte ein Pelz von Dunkelheit und Angst ihn erstickt. Jawohl, Angst. Er würde es abstreiten, wenn ihn jemand fragen würde, aber die Angst ist da, unverkennbar, in seinem trockenen Mund und in der Unruhe in seinen Gedärmen. Er versucht zu beten, aber kein Gott hört ihn, und so schließt er die Augen und denkt: Vater. Das Wort fühlt sich unbeholfen an, wie ein neues Schwert, wenn sich die Finger noch nicht an den Griff gewöhnt haben. Hat er seinen Vater je gesehen? Falls dem so ist, dann ist er damals ein Baby gewesen, zu jung, um sich an die wichtigste Begegnung seines Lebens zu erinnern. Er versucht es stattdessen mit: Achill – und tatsächlich ist es leichter, den Namen zu verwenden, den das ganze Heer benutzen kann.
Er blickt die Männer an, die sich eng an eng neben und vor ihm auf den Bänken drängen. Jedes Gesicht ist von unten her beleuchtet, winzige Flammen tanzen in ihren Augen. Diese Männer haben Seite an Seite mit seinem Vater gekämpft. Da ist Odysseus: dunkel, schlank, frettchenhaft, der diese ganze Unternehmung erdacht hat. Er hat das Pferd entworfen, seinen Bau überwacht, einen trojanischen Prinzen gefangen genommen und gefoltert, um Einzelheiten über die Verteidigungsmaßnahmen der Stadt zu erfahren – und zum Schluss hat er sich die Geschichte ausgedacht, mit deren Hilfe sie durch die Stadttore kommen sollen. Wenn dieser Plan fehlschlägt, werden alle wichtigen Krieger des griechischen Heeres in einer einzigen Nacht umkommen. Wie kann man eine solche Verantwortung nur aushalten? Und doch scheint Odysseus nicht im Mindesten beunruhigt. Ohne es zu wollen begegnet Pyrrhos seinem Blick, und Odysseus lächelt. Oh ja, er lächelt, er ist scheinbar freundlich, aber was denkt er wirklich? Wünscht er sich, Achill wäre hier, und nicht sein Sohn, dieser unnütze kleine Kümmerling? Nun, falls er es sich wünscht, hat er recht, Achill sollte eigentlich hier sitzen. Er hätte keine Angst gehabt.
Als er seinen Blick weiterwandern lässt, sieht er Alkimos und Automedon nebeneinander. Früher sind sie die maßgeblichen Berater von Achill gewesen, nun sind sie seine. Nur ist »Berater« nicht ganz das richtige Wort. Sie sind die Herren der Lage. Vom Moment seiner Ankunft an unterstützen sie einen Anführer, der über keinerlei Erfahrung verfügt, sie sorgen dafür, dass seine Fehler in Vergessenheit geraten, sie sind stets darum bemüht, dass er in den Augen der Männer gut dasteht. Nun, das alles wird sich am heutigen Tag, oder vielmehr in der heutigen Nacht, ändern. Nach dieser Nacht wird er den Männern, die an Achills Seite gekämpft haben, in die Augen schauen und nichts erblicken als Respekt – Respekt vor dem, was er in Troja erreicht hat. Natürlich wird er nicht damit prahlen, wahrscheinlich wird er es nicht einmal erwähnen, das wird nicht notwendig sein, denn jeder wird Bescheid wissen. Das ist immer so. Er merkt, wie die Männer ihn manchmal anblicken und an ihm zweifeln. Aber nach dieser Nacht nicht mehr. Heute Nacht wird er …
Du liebe Zeit, er muss scheißen. Er setzt sich aufrechter hin und versucht, die Schmerzen im Darm zu ignorieren. Als sie in das Pferd geklettert waren, hatte es eine Menge Witze darüber gegeben, wohin man die Latrineneimer stellen sollte. »Ans Ende, wo der Arsch ist«, sagte Odysseus, »wohin sonst!« Es hatte großes Gelächter auf Kosten derer gegeben, die hinten im Pferd saßen.
Niemand hat die Eimer bisher benutzt, und er will auf keinen Fall der Erste sein. Alle werden sich die Nase zuhalten und sich mit den Händen Luft zufächeln. Es ist nicht fair, es ist einfach nicht fair. Er sollte lieber an wichtige Dinge denken, daran, dass der Krieg für ihn heute Nacht ruhmreich zu Ende gehen wird. Jahrelang hat er sich darauf vorbereitet; seit er alt genug gewesen ist, um ein Schwert zu heben. Sogar früher schon, als er fünf oder sechs war, hat er mit angespitzten Stöcken gekämpft. Es gab keinen Augenblick, in dem er nicht gekämpft hätte, und er schlug mit den Fäusten auf seine Amme ein, wenn sie ihn zu beruhigen versuchte. Und nun geschieht es tatsächlich, es passiert endlich alles wirklich – und alles, woran er denken kann, ist: Und wenn ich mir in die Hosen scheiße?
Der Druck scheint ein wenig abzuklingen. Vielleicht geht ja alles gut.
Draußen ist es sehr still geworden. Seit Tagen hat Lärm geherrscht: Die Schiffe wurden beladen, die Männer sangen, es wurden Trommeln geschlagen, Schwirrhölzer sirrten, die Priester stimmten Sprechchöre an – und das alles so laut wie möglich, denn die Trojaner sollten es hören. Sie mussten glauben, die Griechen würden tatsächlich abziehen. Es durfte nichts in den Hütten zurückbleiben, denn als Erstes würden sie Späher zum Strand aussenden, um zu überprüfen, ob die Griechen das Feldlager tatsächlich aufgegeben hatten. Es reichte nicht, nur die Männer und die Waffen abzuziehen. Frauen, Pferde, Möbel, Vieh – alles musste fort sein.
Im Pferd wird nun ein unbehagliches Murmeln laut. Die Stille gefällt ihnen nicht. Es fühlt sich an, als hätte man sie verraten und aufgegeben. Pyrrhos verdreht sich auf der Bank und späht durch einen Spalt zwischen zwei Holzplanken, aber er kann nichts erkennen. »Was zum Henker ist da los?«, fragt jemand. »Keine Sorge«, antwortet Odysseus, »die kommen wieder.« Und tatsächlich hören sie nur Minuten später Schritte vom Strand herauf auf sie zukommen, gefolgt von einem Ruf: »Alles klar da drinnen?« Ein Knurren als Antwort. Dann, es scheint, als wären Stunden vergangen, obwohl es wahrscheinlich nur Minuten sind, bewegt sich das Pferd mit einem Ruck. Sofort hebt Odysseus die Hand, und eines nach dem anderen erlöschen die Wachslichter.
Pyrrhos schließt die Augen und stellt sich die verschwitzten Rücken der Männer da draußen vor, wie sie sich...




