E-Book, Deutsch, 608 Seiten
Barry Die Frauen von Salem
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-18944-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 608 Seiten
ISBN: 978-3-641-18944-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Brunonia Barry, geboren und aufgewachsen in Massachusetts, studierte Literatur am Green Mountain College in Vermont und an der University of New Hampshire. Sie verbrachte ein Jahr in Dublin, um sich intensiv mit James Joyces Meisterwerk »Ulysses« zu befassen. Barry war Mitbegründerin der Portland Stage Company und arbeitete jahrelang als Drehbuchautorin in Kalifornien. Inzwischen lebt Brunonia Barry mit ihrem Mann in Salem, Massachusetts. Ihr Romandebüt »Die Mondschwimmerin«, das sie zunächst im Selbstverlag publiziert hatte, wurde dank Mundpropaganda ein sensationeller Erfolg. Es wurde in über 20 Länder verkauft und stand wochenlang auf den ersten Plätzen der New York Times Bestsellerliste.
Weitere Infos & Material
PROLOG
1. November 1989
SALEM, MASSACHUSETTS
Ein bisschen spät, um zu beten«, dachte Tom Dayle, ohne es auszusprechen. Das Kind saß auf einer Liege hinter dem Trennvorhang in der Notaufnahme des Salem Hospital und hielt etwas in der Faust. In Dayles Augen, denen eines nicht praktizierenden Katholiken, sah es aus wie die Perlen eines Rosenkranzes.
Es war ein seltsamer Anblick: ein kleines Mädchen, nicht älter als fünf oder sechs, Gebetsperlen baumelten an den verkrampften, weiß angelaufenen Fingern, die den Anhänger des Rosenkranzes so fest umklammerten, dass es blutete, angetrocknete rotbraune Rinnsale liefen über die Unterarme und zwischen den Fingern hindurch. Tiefe Kratzer bedeckten Arme und Beine des Kindes. Wenn es einem gelang, das Blut nicht zu beachten, sah sie aus wie ein Engel von Botticelli: Dunkle Locken fielen ihr über den Rücken, die alabasterfarbene Haut war noch nicht von Solarien oder der Sommersonne in Mitleidenschaft gezogen.
Die beiden Nonnen, die sie begleiteten, trugen zur engelsgleichen Erscheinung bei: Die jüngere saß neben dem Kind und hielt selbst einen Rosenkranz in der Hand, während sie lautlos die Gebete sprach, die ältere, die er als Mutter Oberin der St James Schule erkannte, stand direkt dahinter und hielt Wacht.
Die Nonnen hatten das Kind gefunden. Auf dem Weg hierher hatte Dayle die Geschichte gehört. Während der Morde hatte sich die Kleine im Gebüsch versteckt, den Rosenkranz umklammert und gebetet. Die Nonnen, die zugaben, in der Nacht Schreie gehört zu haben, hatten sie erst am nächsten Morgen gefunden, als nur noch ein schwermütiges Klagen zu vernehmen war. Sie waren dem Geräusch den North River entlang gefolgt und hatten das kleine Mädchen neben der Spalte entdeckt, in der die Leichen seiner Mutter und zweier weiterer, bisher noch nicht identifizierter Frauen lagen.
»Vielleicht hätte sie beten sollen, dass Sie früher die Polizei rufen«, sagte Dayle zu der älteren Nonne. Er wollte ihr damit weniger einen Vorwurf machen, als verhindern, dass ihm selbst beim Anblick des kleinen Mädchens das Herz brach. Sie musste etwa im selben Alter sein wie seine Enkelin.
Ein Beamter hatte die ältere Nonne aber bereits gefragt, warum sie mit dem Notruf gewartet hatte, obwohl die Schreie bis in die Nacht hinein angedauert hatten. »In Salem wurde Halloween gefeiert«, sagte sie traurig. »Es wäre ungewöhnlich gewesen, wenn wir keine Schreie gehört hätten.« Ein anderer Beamter vor Ort glaubte, eine der jungen Frauen zu erkennen, als ihre Leiche aus der Spalte gezogen wurde. Bei der näheren Untersuchung änderte er seine Meinung.
An diesem Vormittag hatten sie eine verdächtige Person aufgegriffen, eine Frau aus dem Ort, die in der Daniels Street wohnte, aber diese Informationen wollte er den Nonnen nicht preisgeben. »Im Moment sind wir noch mit der Identifizierung der Opfer beschäftigt.«
»Eines der Opfer war die Mutter des Kindes.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte er, als hörte er das zum ersten Mal.
»Die Kleine hat es uns erzählt. Sie hat bis gerade mit uns geredet«, sagte die ältere Nonne. »Sie hat erst aufgehört, als Sie hereingekommen sind.«
In all seinen Jahren als Kriminalbeamter hatte Tom Dayle nie etwas so Grässliches gesehen wie das, was in der letzten Nacht bei Proctor’s Ledge passiert war. Drei junge Frauen waren mit durchschnittener Kehle in eine schmale Felsspalte in der Nähe geworfen worden, in jenes Massengrab, in dem man damals in Salem ohne viel Federlesens die Leichen der Männer und Frauen entsorgt hatte, die während der Hysterie von 1692 wegen Hexerei angeklagt und hingerichtet worden waren.
Eine Krankenschwester kam herein und versorgte die Kratzer an den Armen und Beinen des Mädchens. Das Kind zuckte zurück.
»Es tut mir leid, Kleines, aber ich muss das sauber machen.«
»Wo hast du denn diese Kratzer her?«, fragte Dayle das Mädchen. Sie antwortete nicht, sondern starrte, als würde sie durch ihn hindurchsehen.
»Sie hat sich fast die ganze Nacht im Gestrüpp versteckt«, sagte die Mutter Oberin zu Dayle. »Daher rühren die Kratzer.«
Die Schwester ging Verbandszeug holen. »Sie wird eine Tetanusspritze brauchen«, sagte sie.
»Nein«, sagte das Kind. Mit einem Mal war der tranceähnliche Zustand beendet, und sie benahm sich zum ersten Mal wie ein verängstigtes kleines Mädchen. Sie fing an zu weinen.
»Warten wir erst einmal ab, was der Arzt sagt«, versuchte die Schwester sie zu trösten. »Vielleicht brauchst du ja gar keine Spritze.«
»Ich will zu Rose«, sagte das Mädchen. Das war der Name der Frau, die sie gerade auf dem Friedhof in der Broad Street aufgegriffen hatten. Als sie Rose Whelan gefunden hatten, war sie voller Blut und hatte unzusammenhängendes Zeug geredet. Der Streifenpolizist, der sie in Gewahrsam genommen hatte, war eine Verstärkung von außerhalb gewesen. An Halloween zog Salem häufig Kräfte aus anderen Orten hinzu. Er hatte angenommen, Rose wäre einfach übriggeblieben, hätte in der Nacht zuvor zu viel gefeiert und müsste ausnüchtern. Das war eine naheliegende Vermutung. Als er jedoch gemerkt hatte, dass das Blut auf ihrer Haut und ihrer Kleidung nicht das Theaterblut war, das sie in den Kostümläden verkauften, sondern echt – er hatte genügend Autounfälle und Prügeleien in Bars gesehen, um das zu wissen –, hatte er sie auf die Wache gefahren, wo man die Frau umgehend erkannte, was die Geschichte noch bizarrer machte.
Rose Whelan war eine bekannte Historikerin, die mehrere Bücher über die Geschichte von Salem geschrieben und das städtische Forschungszentrum über die Hexenprozesse von Salem gegründet hatte, ein Archiv, das Wissenschaftler aus der ganzen Welt anzog. Sie war eine angesehene Frau, die irgendwann zwischen dem letzten Abend und diesem Morgen den Verstand verloren zu haben schien.
»Sie fragt ständig nach Rose«, sagte die Mutter Oberin. »Rose ist die Frau, die sie ins Gebüsch geschubst und ihr gesagt hat, sie soll beten. Sie hat ihr den Rosenkranz gegeben.«
»Der Rosenkranz hat sie gerettet«, sagte die junge Nonne und streckte ihm ihren eigenen entgegen, an dem der gekreuzigte Leib Christi schwang wie ein Pendel. »Es ist ein Wunder.«
Die Krankenschwester reinigte die Kratzer, ließ aber die größere Wunde auf der Hand des Mädchens unberührt. »Der Arzt ist auf dem Weg. … Mach die Hand nicht auf, meine Kleine. Wir wollen doch nicht, dass du wieder zu bluten anfängst. Halte sie einfach genau so wie jetzt, bis er da ist.« Sie ging hinaus.
Als die Schwester nicht mehr störte, konnte sich Dayle auf das Kind konzentrieren. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich, um weniger bedrohlich zu wirken.
»Wie heißt du denn?«, fragte er so freundlich wie möglich.
Sie gab keine Antwort. Sie hatte eindeutig Angst vor ihm.
»Das ist schon in Ordnung, er ist Polizist. Du kannst es ihm sagen«, versuchte es die jüngere Nonne.
Dayle zog den Stuhl noch näher an die Krankenliege. »Wie alt bist du?«
Wieder gab sie keine Antwort, sondern drückte die Hände noch fester zusammen, die Finger ineinander verschränkt, so dass ihr ein einzelner Tropfen frischen Blutes an der Innenseite des Unterarms herunterrann. Als sie wieder Blut sah, erhöhte die jüngere Nonne die Geschwindigkeit ihrer eigenen Gebete und sprach die Ave Marias in schneller Abfolge, als würde ein rasches Bittgebet alles auslöschen, was da vor sich ging.
»Ich habe eine Enkelin so etwa in deinem Alter.« Dayle zwang sich zu einem Lächeln. »Wie alt bist du denn, vier ungefähr?«
»Ich bin fünf!«
»Ah, fünf! Das ist schon sehr erwachsen.«
Das Kind starrte ihn an. »Ich will zu Rose.« Sie geriet langsam in Panik.
»Vielleicht kann ich ja helfen«, sagte er. »Weißt du, wie Rose mit Nachnamen heißt?«
Sie nickte. »Rose Whelan.«
»Und weißt du, wo ich diese Rose Whelan finde?«, fragte er lächelnd. »Ich möchte sie für dich holen. Weißt du, wo sie wohnt?«
Wieder nickte sie.
»Sagst du uns den Namen der Straße, in der sie lebt?« Es gefiel ihm gar nicht, sie so auszutricksen, aber er musste es doppelt überprüfen.
»Ich wohne da auch«, sagte sie abwehrend.
»Kannst du uns denn die Adresse sagen?« Heutzutage kannte fast jedes Kind seine Adresse. Er selbst hatte auch dafür gesorgt, dass es zu den ersten Dingen gehörte, die seine Enkeltochter gelernt hatte.
Als würde sie etwas Auswendiggelerntes aufsagen, antwortete sie: »62 Daniels Street, Salem, Massachusetts, 01970.«
Der Arzt kam herein, und damit war jede weitere Chance auf ein Gespräch beendet. Dayle stand auf und schob seinen Stuhl aus dem Weg.
»Dann sehen wir uns mal die Wunde an«, sagte der Arzt.
Das kleine Mädchen wirkte unsicher.
»Schon gut, du kannst jetzt loslassen.« Er berührte sanft ihre Hand.
Nacheinander löste sie die Finger aus der verkrampften Gebetshaltung, und dann sahen alle, was sie so verzweifelt umklammert hatte.
Mit der Oberseite nach unten lag eingebettet in ihrer Handfläche ein hölzernes Symbol, das Dayle nicht erkannte: Es war abgerundet und geschnitzt, mit scharfen Rillen, die sich tief in ihre Handfläche gruben. Er wusste nicht, was es war, aber es war auf keinen Fall ein Kruzifix.
Vorsichtig befreite der Arzt die verkrusteten Ränder mit einem Skalpell und löste den hölzernen Rosenkranz heraus. Er fiel auf den Boden. Dayle hob ihn auf.
Es dauerte einen Moment, bis die Handfläche des Mädchens wieder durchblutet wurde. Langsam...




