Barth-Grözinger | Stachelbeerjahre | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Reihe: Piper Taschenbuch

Barth-Grözinger Stachelbeerjahre

Familiensaga aus dem Schwarzwald
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-95038-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Familiensaga aus dem Schwarzwald

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Reihe: Piper Taschenbuch

ISBN: 978-3-492-95038-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Deutschland nach dem Krieg, ein Dorf im Schwarzwald. Frieden? Von wegen! Es knallt ordentlich in Mariannes Familie, wo Großeltern, Mutter und Schwester nur eines verbindet: ungelebte Träume. Einzig Marianne, die Kluge, Bildungshungrige, scheint ihre Chancen realistisch genug einzuschätzen. Doch eines Tages platzt der attraktive Gastarbeiter Enzo in dieses Leben. Und die Frauen in Mariannes Familie verlieren den Kopf.

Inge Barth-Grözinger wurde 1950 in Bad Wildbad im Schwarzwald geboren. Sie unterrichtete bis zu ihrer Pensionierung am Peutinger-Gymnasium in Ellwangen die Fächer Deutsch und Geschichte. Sie veröffentlichte mehrere sehr erfolgreiche Bücher, unter anderem die Schwarzwald-Familiensaga »Beerensommer«.
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1954 bis 1956


Sie hatte wirklich diese Puppe bekommen. Unter dem Weihnachtsbaum hatte sie gelegen, der wie immer auf der Kommode in der linken Ecke der Küche stand. Die Kuckucksuhr war halb verdeckt und der Kuckuck klang seltsam gedämpft, wenn er zur vollen Stunde heraussprang, denn sein Türchen ging nicht richtig auf. Ihr war es immer so vorgekommen, als sei er gekränkt wegen dieser Zurückweisung. Aber der Weihnachtsbaum stand da, wo er jedes Jahr stand, denn sie hatten kein Wohnzimmer wie die Neumanns, sondern nur die hintere Stube mit den aufgehängten Obstschnitzen. Außerdem musste man so nur einen Raum heizen, wie die Alte nicht müde wurde zu betonen, wenn die Mama klagte, man brauche ein Wohnzimmer.

»Was machen wir denn, wenn einmal Besuch kommt?«

»Zu uns kommt kein Besuch! Und außerdem, mit was und von was willst du denn dieses Wohnzimmer einrichten?«, hatte die Alte bissig bemerkt und damit war das Thema wieder für eine Weile abgeschlossen.

Den Kindern war es egal, ob es eine gute Stube gab oder nicht. Viel wichtiger war der Christbaum, in diesem Jahr eine etwas kümmerliche Weißtanne, die der Großvater letzte Nacht verbotenerweise aus dem Wald geholt hatte. Und natürlich die Geschenke. Und wirklich lag an diesem Christfest die Puppe unter dem Baum. Sie konnte es zuerst nicht glauben, gewiss war die Puppe für Sieglinde bestimmt. Aber die zerrte einen großen Karton unter dem Baum hervor und aus den Augenwinkeln konnte Marianne sehen, dass sie einen Puppenherd aus dem Papier herausschälte. Man könne sogar richtig mit ihm kochen, verkündete die Mama.

»Willst du nicht deine Puppe in den Arm nehmen? Sie hat sich schon sehr auf ihre neue Mama gefreut«, hörte Marianne die Stimme der Mutter neben sich. Behutsam griff sie nach der Puppe. Sie fühlte sich ganz weich an, ganz anders als Traudel. Man konnte sie sogar ein bisschen drücken, und als sie sie umdrehte, quäkte die Puppe tatsächlich »Mama«. Alle lachten, sogar die Alte, die übrigens seltsam freundlich war. Sie hatte für die neue Puppe sogar ein Mützchen und ein Jäckchen gehäkelt, und Marianne beschloss an diesem Abend, auch freundlicher zu ihr zu sein. Vielleicht würde sie sie sogar mit »Großmutter Hedwig« ansprechen, obwohl sie doch gar nicht ihre Großmutter war. Aber ein Schatten fiel auf ihre Freude. Es ist wohl auch, weil sie ein schlechtes Gewissen haben. Weil sie mir nicht gesagt haben, dass der Walter nicht mein Vater ist.

Am ersten Weihnachtstag ging sie mir ihrer Puppe hinüber zu Neumanns.

»Die ist aber schön! Siehst du, jetzt hast du sie doch gekriegt.« Karin bewunderte die Schlafaugen und den schönen Strampelanzug. Dann zeigte sie ihr Geschenk: ein Puppenbett mit echtem Himmel aus hellblauem Stoff mit weißen Schäfchen drauf. »Hat der Burkhardt gemacht und die Mama hat den Himmel dazu genäht. Aber das Beste kommt noch!«

Sie zog Marianne hinüber in die mollig warme Wohnstube. Am Fenster stand eine große Tanne, viel größer als die bei Holzers, und auch viel schöner geschmückt. Das Beste aber, die eigentliche Sensation, war der hellbraune Kasten, der auf einem kleinen Tischchen neben dem Christbaum stand. Ein Fernseher, genau so einer hatte bei Elektro-Graule im Fenster gestanden!

»Der Fritz hat ihn der Mama geschenkt, und auch sich selber.« Karin kicherte.

Die »drei Männer«, wie Frau Neumann sagte, standen um den Kasten herum und redeten so fachmännisch wie der Elektro-Graule persönlich. Marianne verstand kein Wort.

»Komm nur her, Marianne!«, rief Rudi ihr zu. »Sieh dir den Kasten mal an. Leider kommt jetzt nur das Testbild, aber heute Nachmittag gibt’s Programm, da musst du noch mal kommen.«

In der Tat flimmerten jetzt nur die schwarz-weißen Kästchen im Apparat, wie sie es schon im Schaufenster von Graule gesehen hatte. Aber auf das Programm war sie gespannt. Sie wollte die Leute endlich reden hören und nicht nur zugucken, wie die Menschen immerzu den Mund auf- und zuklappten, lautlos, wie die Fische.

Frau Neumann brachte Weihnachtsgebäck auf einem Teller, fünf Sorten, habe sie gebacken, wie sie stolz betonte. Die Plätzchen zu Hause hatten in diesem Jahr auch besser geschmeckt und sie sahen nicht mehr so blass und schwach aus. Es hatte sogar zum ersten Mal Spitzbuben gegeben, jedenfalls konnte sich Marianne nicht erinnern, sie schon einmal gegessen zu haben. Sie waren mit Himbeermarmelade gefüllt, kostbarer Himbeermarmelade. Die Beeren hatte sie im Sommer gemeinsam mit Großvater Gottfried im Wald gepflückt. Der Weg war weit gewesen und man zerstach sich die Finger und die späte Sommersonne brannte unbarmherzig herunter. Es war sehr mühsam gewesen und deshalb waren die Beeren besonders kostbar.

Die Spitzbuben von Frau Neumann waren mit Apfelgelee gefüllt, denn hinter dem Haus wuchsen einige Apfelbäume. Frau Neumann konnte nicht in die Beeren gehen, sie musste beim Tournier arbeiten, und einen Großvater oder eine Großmutter gab es nicht mehr. Von Karin verlangte niemand, dass sie in die Beeren ging. Sie hatte Marianne schon einige Male begleitet, aber dann hatte sie die gesammelten Beeren gleich aufgegessen. Das war bei Holzers nicht gestattet. Man durfte nur am Schluss, wenn die Becher gefüllt waren, eine kleine Handvoll für sich nehmen. Beim Bäcker bekam man nämlich fünfzig Pfennige für das Pfund und im Übrigen kochte man Marmelade davon.

Marianne kuschelte sich behaglich in das Sofa in Neumanns guter Stube. Es war gemütlich hier. Und die Plätzchen schmeckten gut. Ihre Spitzbuben waren allerdings besser! Und alle waren so freundlich zu ihr. In ihrem Körper breitete sich das gleiche Wohlgefühl aus, das sich einstellte, wenn man an einem warmen Sommertag in der Sonne lag und das Blau des Himmels sah. Sie sagte sich, dass das das schönste Weihnachtsfest war, das sie bisher erlebt hatte. Es würde jetzt vieles besser werden, ohne dass sie genau sagen konnte, was sich denn zum Besseren verändern würde.

»Wie heißt denn deine Puppe?«, fragte Frau Neumann unvermittelt.

»Ich weiß noch nicht so genau. Susi, glaube ich.«

»Das ist ein schöner Name.«

Marianne nickte, der Name war ihr jetzt gerade eingefallen. Gestern Nacht hatte sie noch lange darüber nachgedacht, wie die Puppe denn heißen sollte, aber es war ihr einfach kein geeigneter Name in den Sinn gekommen.

»Susi ist viel besser als Traudel«, bestätigte Karin. »Und du kannst sie auch ab und zu in mein neues Puppenbett legen.«

Marianne war auf einmal ganz leicht zumute. Leicht und warm. Sie kannte dieses Gefühl gar nicht und fand keinen Namen dafür, aber es war schön.

Von drüben, vom Tisch, auf dem der Fernsehapparat stand, drang plötzlich Geschrei zu ihnen herüber. Irgendetwas musste passiert sein.

»Das Bild ist weg!«, schrie Wolfgang und tatsächlich waren die schwarz-weißen Kästchen verschwunden, hatten sich aufgelöst in Geflimmer, das wie Schneegestöber aussah.

Fritz Burkhardt rief plötzlich: »Die Antenne!« – und alle, außer Frau Neumann und Marianne, rannten zur Tür hinaus. Man hörte wildes Gepolter auf der Treppe und Frau Neumann sagte seufzend: »Jetzt laufen sie schon wieder hinauf auf den Dachboden, so geht das schon den ganzen Morgen.«

Das Geflimmer blieb und nach einer Weile kam Rudi wieder herunter und ließ trotz des Protestes seiner Mutter die Tür sperrangelweit offen.

»Rudi, es zieht!«

Aber das kümmerte ihn herzlich wenig. Er begann, merkwürdige Nachrichten nach oben zu schreien: »Ganz schlecht, schlecht, jetzt wird’s besser, viel besser … jetzt … halt! Wieder schlecht … besser …«

Das ging eine Weile so und Frau Neumann erklärte Marianne, die Antenne müsse in die richtige Lage gebracht werden, sonst sähe man rein gar nichts. Nach einer Weile war es im Zimmer kalt und Rudi rannte wieder nach oben. Dann war das Bild endlich wieder da, jedenfalls sah man die schwarz-weißen Kästchen gestochen scharf.

»Wir müssen die Antenne besser befestigen«, sagte Fritz Burkhardt, als er hustend das Zimmer betrat, die kalten Hände aneinanderreibend. Die Jungen nickten fachmännisch.

Das mit dem Fernsehen hat der Burkhardt gut gemacht, dachte Marianne. Rudi und Wolfgang sind auf einmal ganz begeistert von ihm.

»Rück mal ein bisschen.« Wolfgang schubste sie freundschaftlich mit dem Ellenbogen und drängelte sich auf das Sofa. Burkhardt und Rudi nahmen auf den Sesseln Platz. So saßen alle friedlich vereint um den Teller mit den Weihnachtsplätzchen herum, den Frau Neumann zweimal nachfüllen musste.

»Das mit dem Fernseher ist einfach saugut!« Rudi stopfte zwei Plätzchen auf einmal ...


Barth-Grözinger, Inge
Inge Barth-Grözinger wurde 1950 in Bad Wildbad im Schwarzwald geboren. Sie unterrichtete bis zu ihrer Pensionierung am Peutinger-Gymnasium in Ellwangen die Fächer Deutsch und Geschichte. Sie veröffentlichte mehrere sehr erfolgreiche Bücher, unter anderem die Schwarzwald-Familiensaga »Beerensommer«.



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