Bauman | Europa | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 212 Seiten

Bauman Europa

Ein Abenteuer mit offenem Ausgang
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-86393-546-7
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Abenteuer mit offenem Ausgang

E-Book, Deutsch, 212 Seiten

ISBN: 978-3-86393-546-7
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Zygmunt Bauman tritt mit seinen Beobachtungen und Analysen zur Zukunft Europas den Beweis an, dass Europa durchaus die Möglichkeiten hat, die gewaltigen Herausforderungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu meistern. Er plädiert in seinen tief in der europäischen Geistesgeschichte verwurzelten Essays für ein Festhalten am Projekt Europa. 'Sinn und Wahnsinn der Moderne' - eine Laudatio von Ulrich Beck aufden großen Soziologen und Philosophen beschließt den Band. Mehr als je zuvor benötigt unser von Konflikten geschüttelter Planet jene Qualitäten, die insbesondere Europa in seiner mehr als zweitausendjährigen Geschichte erworben hat: die Fähigkeit zur Selbstkritik, zu Forschung und Experiment und zur Einsicht, dass es alternative und bessere Formen des menschlichen Miteinanders geben kann. Und sein Engagement, nach Möglichkeiten und Wegen zu suchen, das Erkannte in die Praxis umzusetzen. Zurzeit jedoch zeigt sich Europa in der sich schnell ändernden Welt unsicher: ohne Visionen, in seinen Ressourcen begrenzt und ohne Willenskraft, sich dieser Aufgabe zu stellen. Zygmunt Bauman tritt den Beweis an, dass Europa mit seinen schwer erkämpften historischen Lektionen eine wichtige Rolle spielen kann beim Wechsel von einer Hobbes'schen Welt, in der jeder des anderen Feind ist, zu der des friedlichen Miteinanders der Menschheit, die Kant vorschwebte.

Zygmunt Bauman, geb. 1925 in Posen. Professor für Soziologie an den Universitäten Warschau (bis 1968), Tel Aviv (bis 1971) und Leeds (bis 1999). Zahlreiche Veröffentlichungen, viele liegen auf Deutsch vor, u.a.: 'Flüchtige Moderne', 'Vom Nutzen der Soziologie', eines seiner Hauptwerke ist 'Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust'. Zygmunt Bauman erhielt 1989 den Amalfi-Preis, 1998 den Theodor-W.-Adorno-Preis, 2010 den Prinzvon- Asturien-Preis und 2014 den Preis für 'ein hervorragendes wissenschaftliches Lebenswerk' der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

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1. EIN ABENTEUER NAMENS „EUROPA“
Als Zeus in Gestalt eines Stiers Prinzessin Europa entführt hatte, sandte ihr Vater Agenor, der König von Tyrus, seine Söhne auf die Suche nach seiner verlorenen Tochter. Einer von ihnen, Kadmos, segelte nach Rhodos, landete in Thrakien und machte sich auf, die Länder zu erkunden, die später den Namen seiner unglücklichen Schwester annehmen sollten. In Delphi fragte er das Orakel nach dem Aufenthaltsort seiner Schwester. In diesem speziellen Punkt antwortete Pythia, wie gewohnt, ausweichend – aber sie gab Kadmos folgenden Rat: „Du wirst sie nicht finden. Verschaffe dir lieber eine Kuh, folge ihr und treibe sie vorwärts, gib ihr keine Ruhe; an der Stelle, wo sie vor Erschöpfung niedersinkt, baue eine Stadt.“ So wurde, dieser Erzählung zufolge, Theben erbaut (und so – wie wir, im Nachhinein klüger, beobachten wollen – wurde eine Reihe von Ereignissen in Gang gesetzt, die Euripides und Sophokles als das Garn diente, aus dem sie die europäische Idee des Rechts spannen, die Ödipus befähigte, das zu praktizieren, was der gemeinsame Rahmen für Charakter, Qualen und Lebensdramen der Europäer werden sollte). „Europa suchen“, kommentiert Denis de Rougemont die Lektion Kadmos’, „heißt es schaffen.“ „Europa besteht durch seine Suche nach dem Unendlichen, und eben das nenne ich Abenteuer.“1 Abenteuer? Seiner Etymologie nach bedeutete das Wort ursprünglich Begebenheit, gewagtes Beginnen mit ungewissem Ausgang, Schicksal – etwas, was ohne Plan geschieht, Chance, Zufall, Glücksfall. Es bezeichnete ein Ereignis, das mit Gefahr oder drohendem Verlust verbunden war; Risiko, Wagnis, riskante Unternehmung oder glücklose Verrichtung. Später, unseren modernen Zeiten näher, erhielt „Abenteuer“ den Sinn: seine Chancen auf die Probe stellen, Wagnis oder Experiment – ein neuartiges oder aufregendes Unternehmen, das bislang unerprobt war. Gleichzeitig entstand eine Ableitung: der Abenteurer – ein höchst ambivalentes Nomen, das in einem Atemzug von blindem Schicksal und Schläue, von Geschicklichkeit und Vorsicht, von Ziellosigkeit und Entschlossenheit raunt. Wir können annehmen, dass die Bedeutungsveränderungen dem Reifeprozess des europäischen Geistes folgten: dass dieser sich mit seinem eigenen „Wesen“ abfand. Die Sage von Kadmos’ Reisen war übrigens nicht die einzige antike Geschichte, die eine solche Botschaft überbrachte; weit gefehlt. In einer anderen Geschichte setzten die Phönizier Segel, um den mythischen Kontinent zu finden, und ergriffen Besitz von der geographischen Realität, die einmal Europa werden sollte. Nach einer weiteren Geschichte sandte Noah nach der Sintflut, als er die Welt unter seine drei Söhne aufteilte, Jafet (nebenbei bemerkt: im Hebräischen „Schönheit“) nach Europa, um dort Gottes Versprechen/Gebot „Seid fruchtbar und vermehret euch; bevölkert die Erde und vermehrt euch auf ihr“ (Genesis 9,7) zu befolgen. Er stattete ihn mit Waffen aus und ermutigte ihn mit dem Versprechen unendlicher Expansion: „Raum schaffe Gott für Jafet“ (Genesis 9,27), „dilatatio“ nach der Vulgata und den Kirchenvätern. Die Kommentatoren der biblischen Botschaft weisen darauf hin, dass Noah bei der Instruktion seiner Söhne einzig auf Jafets Tugend und Fleiß gebaut haben müsse, da er ihn mit keinem anderen Werkzeug des Erfolgs ausstattete. Alle diese Geschichten durchzieht ein gemeinsamer Faden: Europa ist nicht etwas, das man entdeckt; Europa ist etwas, das gemacht, geschaffen, gebaut werden muss. Und es bedarf einer Menge an Einfallsreichtum, Zielstrebigkeit und harter Arbeit, um diese Mission zu erfüllen. Vielleicht eine Arbeit, die niemals endet, eine Herausforderung, der man sich immer erst noch ganz stellen muss, eine Erwartung, deren Erfüllung immer noch aussteht. Die Erzählungen unterscheiden sich voneinander, aber in allen war Europa ausnahmslos ein Ort des Abenteuers. Abenteuer wie die endlosen Reisen, die unternommen wurden, um es zu entdecken, zu erfinden oder zu beschwören, Reisen wie diejenigen, welche das Leben des Odysseus ausfüllten. Ihm widerstrebte es, zu der langweiligen Sicherheit seines heimischen Ithaka zurückzukehren, da ihn unbekannte Risiken stärker reizten als die Bequemlichkeiten des Familienalltags, und er wurde (vielleicht aus diesem Grunde) als Vorläufer, Vorvater oder Prototyp des Europäers gerühmt. Europäer waren die Abenteurer unter den Liebhabern von Frieden und Ruhe, zwanghafte und unermüdliche Wanderer unter Scheuen und Sesshaften, Landstreicher und Stromer unter denen, die ihr Leben lieber in einer Welt verbringen wollten, das am äußersten Dorfzaun endete. Es gibt eine alte, bislang nicht beigelegte Debatte: Hatte H. G. Wells – forschender und einsichtsvoller Beobachter, der er war – recht, als er behauptete: „Im Land der Blinden ist der Einäugige König“? Oder ist es eher so, dass in einem Land von Blinden der Einäugige nur ein Ungeheuer sein kann, eine finstere Kreatur, gefürchtet von allen „normalen“ Landbewohnern? Aller Wahrscheinlichkeit nach wird diese Debatte ungelöst bleiben, da die Argumente auf beiden Seiten schwer wiegen und jede Seite auf ihre Weise überzeugend ist. Es muss freilich darauf hingewiesen werden, dass beide Antagonisten in der Debatte ein „Entweder-oder“ unterstellen, wo es keines gibt. Eine in ihrem verbalen Duell verloren gegangene Möglichkeit ist eine „Und-und“-Situation: dass der Einäugige sowohl König wie Ungeheuer ist (gewiss kein seltenes Ereignis in der vergangenen und gegenwärtigen Geschichte). Geliebt und gehasst. Begehrt und verpönt. Respektiert und beschimpft. Ein verehrungswürdiges Idol und ein bis zum letzten Atemzug zu bekämpfender Satan – bei einigen Gelegenheiten gleichzeitig, zu anderen Zeiten in schneller Abfolge. Es gibt Situationen, in denen der selbstsichere einäugige König ungerührt die wenigen Monsterjäger, Lästerer und Untergangspropheten, die aus der Wildnis rufen, ignorieren und als belanglos abtun kann. Es gibt freilich andere Zeiten, zu denen das einäugige Monster am liebsten auf seine königlichen Ansprüche samt königlichen Vorrechten und Pflichten verzichten, Schutz suchen und die Tür hinter sich schließen würde. Aber vielleicht steht es auch nicht in der Macht des Einäugigen und sicher nicht allein in seiner Macht, zwischen Königswürde und Monstrosität zu wählen – wie der europäische Abenteurer aus seinen eigenen stürmischen Abenteuern gelernt hat und zu seiner Verblüffung oder Verzweiflung immer noch lernt. Mehr als zwei Jahrtausende sind vergangen, seit die Erzählungen vom Ursprung Europas, die europaschaffenden Erzählungen verfasst wurden. Die Reise, die als Abenteuer begonnen und fortgeführt wurde, hat eine dicke und schwere Schicht von Stolz und Scham, von Leistung und Schuld hinterlassen; und sie hat lange genug gedauert, um die Träume und Ambitionen zu Stereotypen gerinnen zu lassen, die Stereotypen zu „Wesenheiten“ erstarren und die Wesenheiten zu „Tatsachen“ verknöchern zu lassen, die als genauso hart wie alle sonstigen Tatsachen gelten. Dementsprechend wird erwartet, dass Europa, trotz allem, was es zu dem gemacht hat, was es geworden ist, eine Realität ist, die verortet, inventarisiert und abgeheftet werden könnte (sollte?). In einem Zeitalter der Territorialität und territorialen Souveränität gelten alle Realitäten als räumlich definiert und territorial fixiert – und Europa ist keine Ausnahme, so wenig wie der „europäische Charakter“ und die „Europäer“ selbst. Aleksander Wat, ein bemerkenswerter polnischer Avantgarde-Dichter, der zwischen den revolutionären Barrikaden und den Gulags hin und her geschleppt wurde, die zu seinen Lebzeiten über den Kontinent Europa verstreut waren, und der reichlich Gelegenheit gehabt hatte, die süßen Träume und das bittere Erwachen des vergangenen Jahrhunderts – bekannt für seinen Reichtum an Hoffnungen und das Elend seiner Frustrationen – bis zur Neige auszukosten, musterte die Schatzkisten und Mülleimer seines Gedächtnisses, um das Geheimnis des „europäischen Charakters“ zu lösen. Wie wäre ein „typischer Europäer“? Und er antwortete: „Feinfühlig, empfindlich, gebildet, jemand, der sein Wort nicht bricht, der dem Hungrigen nicht sein letztes Stück Brot stiehlt und der seine Zellengenossen nicht an den Wärter verrät …“ Und dann, nach längerem Nachdenken, fügte er hinzu: „Ich habe einen solchen Menschen getroffen. Er war Armenier.“ Man kann über Wats Definition „des Europäers“ streiten (schließlich liegt es im Charakter der Europäer, sich ihres wahren Charakters nicht sicher zu sein, verschiedene Meinungen zu haben und endlos darüber zu streiten), aber man würde, wie ich vermute und hoffe, wohl kaum die beiden Behauptungen bestreiten, die in Wats moralischer Geschichte enthalten sind. Erstens, das „Wesen Europas“ neigt dazu, dem „real existierenden Europa“ vorauszugehen: Es ist das „Wesen des Europäerseins“, ein Wesen zu haben, das der Realität immer voraus ist, und es ist das Wesen der europäischen Realitäten, dem Wesen Europas immer hinterher zu sein. Zweitens: Während das „wirklich existierende Europa“, das Europa der Politiker, der Kartographen und all seiner ernannten oder selbsternannten Sprecher ein geographischer Begriff und ein räumlich begrenztes Gebilde sein mag, ist doch das „Wesen“ Europas weder das erste noch das zweite. Man ist nicht notwendig Europäer einfach nur deshalb, weil man zufällig in einer Stadt geboren ist oder wohnt, die auf der politischen Karte Europas verzeichnet ist. Aber man kann Europäer sein, selbst wenn man niemals in einer seiner Städte gewesen ist. Jorge Luis...


Zygmunt Bauman, geb. 1925 in Posen. Professor für Soziologie an den Universitäten Warschau (bis 1968), Tel Aviv (bis 1971) und Leeds (bis 1999). Zahlreiche Veröffentlichungen, viele liegen auf Deutsch vor, u.a.: "Flüchtige Moderne", "Vom Nutzen der Soziologie", eines seiner Hauptwerke ist "Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust". Zygmunt Bauman erhielt 1989 den Amalfi-Preis, 1998 den Theodor-W.-Adorno-Preis, 2010 den Prinzvon- Asturien-Preis und 2014 den Preis für "ein hervorragendes wissenschaftliches Lebenswerk" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.



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