Becher | Das Herz des Hais | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 184 Seiten

Becher Das Herz des Hais


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7317-6190-7
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 184 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6190-7
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
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'Der Kampf der schönen Malerin Lulubé - die für wilde Fasnachtsbräuche, Stierkampf und vulkanische Inseln schwärmt - mit ihrem sanften, allzu vernünftigen Gatten Kerubin ist eine tragikomische Liebes- und Ehegeschichte, wie wir in der deutschsprachigen Literatur wenige haben. Hier wird von Lulubé erzählt, die während ihres Urlaubs auf einer südlichen Insel einem ?Wilden Mann? und auch einem Menschenhai begegnet, mit deren Hilfe ein frühes Trauma überwindet und schließlich ihren Weg findet und geht und dem Gatten schreibt: 'Wenn einmal die Bogensehne meiner Leidenschaftlichkeit schlaffer hängen sollte, bin ich bereits gestorben. Ich ziehe aus, den wilden Mann zu suchen, der Deine Herzensgüte im Kopf hat und dazu das Herz eines Hais.''Das Herz des Hais' ist eine der großartigsten Liebesgeschichten, allemal gültig bleibt Peter Härtlings Votum: 'Eine Erzählung wie die vom Haiherzen ist ein Geschenk.' Der eigens für diese Ausgabe geschriebene Essay von Eva Menasse zeigt den aktuellen Blick auf einen Klassiker der deutschsprachigen Literatur.'

Ulrich Becher, geboren 1910 in Berlin, studierte Jura und war der einzige Meisterschüler von George Grosz. 1932 erschien sein Debüt Männer machen Fehler, das 1933 von den Nationalsozialisten als sogenannte entartete Literatur verbrannt wurde. Becher verließ Deutschland, lebte in verschiedenen europäischen Städten und floh 1941 nach Brasilien. Er übersiedelte 1944 nach New York und kehrte 1948 nach Europa zurück, zunächst nach Wien, 1954 nach Basel, wo er 1990 starb.
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1

In der deutschen Schweiz sind die Frauen sächlich. Nicht deshalb, weil sie zumeist im Diminutiv erwähnt werden (etwa das Fini statt die Josefine). Auch Männer werden im Diminutiv erwähnt (etwa der Heiri statt der Heinrich), doch bleibt ihr Pronomen dabei männlich. Von einer jungen oder jüngeren Frau spricht man als von einem ›Es‹ (während anderwärts im deutschen Sprachraum ›Das Weib‹ veraltet ist, nur noch bei Priestern und Schimpfern im Kurs steht). Von einer Matrone oder Greisin aber sagt man ›sie‹; erst das Altern oder das Alter beehrt man mit dem Attribut der Weiblichkeit. Redet man etwa, selbst ohne den Diminutiv anzuwenden, von einer Madeleine, so ist sie Das Madeleine. In der patriarchalisch-demokratischen neutralen Schweiz ist die blühende Frau ein Neutrum.

Das Lulubé hatte seinen Ruf- und Künstlernamen einer bekannten Kose-Abwandlung von Luise zu danken: Lulu, der es, als es in den Ehestand trat, das Initial ›B‹ seines Familiennamens Brugger anhängte. Es war eine der besten Trommlerinnen von Basel; ja, das war’s. Die Stadt am Oberrhein, wo Erasmus von Rotterdam, Hans Holbein d.J., Friedrich Nietzsche und andere merkwürdige Leute als Professoren angestellt waren, ist die Wiege europäischer Trommelkunst. Zweifellos wird auch am Kongo vortrefflich getrommelt. Aber in Basel ist das marschgerechte Trommeln, das alte Landsknechtstrommeln, nach dem zahllose Söldnerheere in getragenem Schritt und Tritt in zahllose abendländische Kriege zogen, vermöge eines aus dem Mittelalter überkommenen Fastnachtsbrauchs sublimiert worden zu einem verrückt-militant tuenden, gleichermaßen ausgelassenen und disziplinierten, großen und großartigen Volksfest, wie es so echt Europa sonst nirgends mehr kennt, einem fabelhaften in des Wortes Sinn, mit archaischen Visionen, optischen wie akustischen, und vielen traumhaften gespenstischen Momenten: der einzige protestantische Karneval auf Erden.

Das Lulubé war die Tochter eines Kleinbasler Fuhrunternehmers, der selber ein großer Trommler vor dem Herrn gewesen war. Gelegentlich einer Fas’-nacht (das ›t‹ wird hier verschluckt) Jahre nach dem Ersten Weltkrieg hatte er, im Suff, Lulus Mutter mit dem Trommelschlegel ein Auge ausgeschlagen. Hätt’ er’s unterlassen, hätte sich seine Tochter – sie sah als Vierjährige diese an ihrer Mutter ›bei verminderter Zurechnungsfähigkeit verübte schwere Körperverletzung‹ mit an – das kurze Begebnis, das fast dreißig Jahre später auf der abgewrackten Sträflingsinsel Lipari an ihren faszinierten Blicken vorbeispielen sollte, die Geschichte mit dem Herz des Hais nicht so zu Herzen genommen. Nicht so zu Herzen, das Haienherz, nicht so zu Herzen.

Denn Klein Lulus Seele erlitt einen Defekt beim Beobachten der betrunken-fahrlässigen Tat und der Folgen, die sich als seltsam geringfügig offenbarten. Das Vorkommnis wurde als Unfall vertuscht, die Mutter, personifizierte Geduld und Vergebung, ließ sich ein künstliches Auge einsetzen und klemmte eine Brille darüber. Eine sehr zerstreute Frau, seufzte sie gelegentlich: »Ich habe mein Auge verlegt, Lulu, hast du mein Auge gesehn?« So wuchs das Lulu in der kaum bewußten Vorstellung auf, daß Grausamkeiten zur Tagesordnung der Zivilisation gehörten. Der Zweite Weltkrieg – wenngleich Basel einen Grenzpfosten der neutralen Friedensoase vorstellte –, der Hitlerkrieg mit seinen technisierten Ausrottungen wehrloser Menschenmassen, nährte das Trauma des jungen Mädchens. Gleich seiner Umgebung fand es den Faschismus verabscheuungswürdig. Dennoch unternahm es nach Kriegsende, nachdem es an der Kunstgewerbeschule studiert hatte und eine Studentenehe eingegangen, Lulu B. Turian geworden war, mehrere Studienreisen nach Franco-Spanien und wurde eine Aficionada. Und dann, dann fuhr es eines Septembers mit Angelus Turian, seinem Gatten, zur Abwechslung nach Lipari hinab – steiniges Eiland, auf dem zur Zeit des neuen Imperium Romanum Benito Mussolinis dessen politische Gegner neben gewöhnlichen Verbrechern festgesetzt waren – und sah, ja, sah es schlagen, das Herz …

Angelus Turian war in jedem Betracht ein Gegenstück zu dem Lulubé, mehr: ein wandelnder Gegensatz. In Basler Kunstmalerkreisen wurde er, ungeachtet daß Cherubim den Plural von Cherub darstellt, Der Kerubin genannt. (Ehrenwerte Kreise, die bis zu einem gewissen Grad von der Theorie abhingen, daß das Café des Deux Magots neben der Kirche Saint-Germain-des-Prés im Sechsten Bezirk von Paris binnen fünfeinhalb Stunden per Leichtschnellzug und Taxi erreichbar sei, während das Exempel verhältnismäßig selten statuiert wurde.) Der Kerubin war kaum so groß wie ›Es‹, womit seine Frau gemeint war. Er hatte einen rosigen Teint und weißlich-rotblondes, ins Rosafarbene spielendes Haar, das ihm in Simpelfransen in die Stirn fiel und als Vollbart sein wie aus Marzipan geformtes Gesicht umrahmte. Zudem trug er stets weiße, lichtblaue oder rosafarbene Rollkragen-Pullover, winters wollene, sommers solche aus Zwirn. Der ganze Malersmann strahlte etwas possierlich Engelhaftes aus oder erinnerte an ein abendliches Zirruswölkchen.

Zirrus, was vermagst du gegen einen Riesenhai? Du segelst in Höhen über ihn hin, Zirrocumulus, aber niemand wird ein Herz in dir vermuten. Haben Engel Herzen? Aber ein Hai hat ein Herz, wie sich am Ende vom Lied herausstellen sollte, welch ein Herz …

Angelus Turian hatte ein Herz, ein empfindsames, leicht betroffenes, weshalb er von den bewußten Kreisen ein wenig über die Schulter angesehn wurde, eher mitleidig als geringschätzig. In der ›Höhle‹ (der Spitzname von Basels Künstlertreffpunkt, einem stockbürgerlichen Lokal) pflegte man zu munkeln: »Der Kerubin ist ein Armer.« Was nicht auf seine Finanzlage gemünzt war, sondern auf seine Artigkeit. Und: »Wenn er nicht pariert, hängt Es ihn am ausgestreckten Arm zum Fenster hinaus.«

Wenn das Paar an einem Schönwettersonntag über die Mittlere Rheinbrücke flanierte, wirkte es in seiner einfältigen Diskrepanz wie gemalt von einem der französischen ›Primitiven‹, etwa von Bombois – Er: so rosa in rosa – Es: so dunkel in dunkel. Das Lulubé hatte große dunkelblaue Augen, die, wenn sie in Trommel- oder Stierkampf-Verzückung geriet, kohlschwarz zu funkeln begannen; ein attraktives schlankes Gesicht mit niedlicher Nase, eine ins Ockergelbliche spielende Hautfarbe und glänzendes pechschwarzes Haar, das im Genick zu einem bombastischen Spanierinnenknoten gewickelt war und gehalten wurde von einem aus Sevilla importierten Flitterkamm. Auch hatte es den Spanierinnen abgeguckt, fast immer in Schwarz zu gehn mit bloßen alabastrigen, einen Deut vollschlanken Armen, die es bei kleinen Festivitäten mit einer ebenfalls importierten Mantilla umhüllte. Des fulminanten Busens wegen, den Es mit Italiens Nationalfilmdiva Nummer 1 gemein hatte, wurde Es von Basels musischen Witzbolden gelegentlich ›Das Lollobri‹ genannt.

In der Tat malte Angelus Turian licht und hübsch und nett und zuweilen rührend einfältig im Stil ›der Primitiven plus etwas Surrealismus‹. Periodenweise versuchte er sich als ›Abstrakter‹ und schuf Gebilde, die wie aus Mehl und zart gefärbtem Badesalz auf die grundierte Leinwand gepappt schienen. Man nannte ihn einen ›anständigen epigonalen Maler, der nicht den großen Schnauf hat‹. Das Lulubé hatte den großen Schnauf. Ein homosexueller Psychopath und snobistischer Hochstapler, der mit Pomp zum Katholizismus übergetreten war, hatte Frau Turian den Floh mit der ›Gnade der Tiere‹ ins Ohr gesetzt. Hatte ihr zugesäuselt, daß es fürs ›seelenlose Tier‹ einzige Gnade bedeute, von Gottes Ebenbild, dem mit der unsterblichen Seele ausgestatteten Menschen, getötet zu werden: zum Behuf einer Mahlzeit oder auch nur zum Vergnügen wie Taubenschießen, Fuchsjagd, Stierkampf. Und Es, das Lulubé, malte mit unheimlich anmutendem ›Schnauf‹ die Tiere im Zustand dieser Todesgnade – eine teils meisterhaft bewältigte Marotte, die den Kerubin, wiewohl er die Frau aufrichtig liebte, im Herzen ekelte. Tiermenschliche Zwitterwesen, stets mit dem gottmenschlichen Töter konfrontiert. Taubenkinder mit Puttenköpfchen, die im Flug die Sonntagsschützen anflehen, gut zu zielen (gelegentlich waren gesprochene Sätze ins Ölgemälde geschrieben wie auf alten ›Marterln‹). Auf Pflastersteine geworfene Fische, die, nach Wasser ringend, die Flossen wie Hände gefaltet, die Fischweiber bitten, auf dem Marktbrett zerstückelt zu werden. Ein gottvoller junger schwarzer Stier, der dem Torero – dieser seinerseits anzusehn wie ein Mammutpapagei – einen treuherzig-dankbaren Augenaufschlag gewährt, weil dieser ihm den Degen in den Nackenwulst jagt, daß das Blut emporspritzt wie eine Fontäne.

Einmal, in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre – man führte bereits ein Dezennium eine ›harmonische Künstlerehe‹, – hockte man bei unerträglicher Junihitze in der Arena von Pamplona, wo das Lulubé hinbegehrt hatte, nachdem es die Taschenbuchausgabe von Hemingways ›Fiesta‹ gelesen (sechs- bis siebenmal hintereinander; als sie das Buch partienweise auswendig kannte, übergab sie’s den von den Abwässern der chemischen Industrie verschmutzten Fluten des Rheins, ließ sich hinfort nicht ausreden, daß Hemingway den Vornamen Ernesto trage). – Während Turian sich umtobt sah von Massenhysterie, gedachte er einiger kürzlich gelesener Sätze aus der Feder des berühmten französischen Schauspielers Barrault:

»Ich sah einen jungen Stier in Barcelona sterben. Das war keine ›mise à mort‹ – er wurde buchstäblich ermordet. Der Degen ragte ihm zum Halse heraus. Man ließ einfach sein Blut auslaufen. Plötzlich steht er...


Becher, Ulrich
Ulrich Becher, geboren 1910 in Berlin, studierte Jura und war der einzige Meisterschüler von George Grosz. 1932 erschien sein Debüt Männer machen Fehler, das 1933 von den Nationalsozialisten als sogenannte entartete Literatur verbrannt wurde. Becher verließ Deutschland, lebte in verschiedenen europäischen Städten und floh 1941 nach Brasilien. Er übersiedelte 1944 nach New York und kehrte 1948 nach Europa zurück, zunächst nach Wien, 1954 nach Basel, wo er 1990 starb.

Menasse, Eva
Eva Menasse, 1970 in Wien geboren, lebt seit 2003 als freie Schriftstellerin in Berlin. Ihr Debütroman »Vienna« sowie ihre folgenden Erzählungen und Essays waren bei Kritik und Lesern ein großer Erfolg. Zuletzt erschien ihr Erzählungsband »Tiere für Fortgeschrittene« (2017), für den sie u.a. mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wurde.

"Ulrich Becher, geboren 1910 in Berlin, studierte Jura und war der einzige Meisterschüler von George Grosz. 1932 erschien sein Debüt "Männer machen Fehler", das 1933 von den Nationalsozialisten als sogenannte entartete Literatur verbrannt wurde. Becher verließ Deutschland, lebte in verschiedenen europäischen Städten und floh 1941 nach Brasilien. Er übersiedelte 1944 nach New York und kehrte 1948 nach Europa zurück, zunächst nach Wien, 1954 nach Basel, wo er 1990 starb.Eva Menasse, 1970 in Wien geboren, lebt seit 2003 als freie Schriftstellerin in Berlin. Ihr Debütroman "Vienna" sowie ihre folgenden Erzählungen und Essays waren bei Kritik und Lesern ein großer Erfolg. Zuletzt erschien ihr Erzählungsband "Tiere für Fortgeschrittene" (2017), für den sie u. a. mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wurde."



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