E-Book, Deutsch, 312 Seiten
Behrend Gespräche mit einem Toten
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-2074-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gustaf Nagel, Prophet vom Arendsee
E-Book, Deutsch, 312 Seiten
ISBN: 978-3-7518-2074-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als die Ethnologin Heike Behrend nach der Wende das Haus ihres Großvaters besucht, stößt sie am Arendsee in der Altmark auf den christlichen Propheten Gustaf Nagel, der 1874 im Kaiserreich geboren wurde und 1952 in einer Irrenanstalt in der DDR starb. Als Teil der Lebensreformbewegung war der deutschnationale Prophet sein Leben lang vielfältiger Verfolgung ausgesetzt. Anhand seiner Selbstbilder auf Postkarten und seiner Texte, die lokale Heimatforscher bereits zu DDR-Zeiten gesammelt und archiviert haben, sowie in Gesprächen mit ihnen und dem Toten entwirft Heike Behrend Gustaf Nagels Biografie. Sie erzählt darin auch von Konflikten, von Zusammenarbeit und Freundschaft in einer Gegenwart, in der die Enttäuschung und Unzufriedenheit über die Wiedervereinigung auch bei den Bewohnern der Altmark in neuen Formen der Selbstbehauptung ihren Ausdruck findet. Im Dialog mit ihnen lernt sie nicht nur, in ihren Fragen die eigene Fraglichkeit zu erkennen, sondern auch, was es heißt, gemeinsam und solidarisch ethnografisches und historisches Wissen zu erzeugen.
Auf den Spuren eines verfemten Propheten zeichnen diese das Bild der Lebensreformbewegung, ihrer schillernden Protagonisten, aber auch Schattenseiten, machen die Fotografie als widerständige Praxis begreifbar, ergründen die Heimatgefühle vor und nach der Wende und zeigen, was es heißt, nahe Fremde nicht zu Anderen zu machen.
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Medien und Prophetie
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Der Prophet vom Arendsee war, wie ich bald herausfand, gar nicht so einzigartig und bereits in der DDR wie in der BRD gründlich erforscht worden. Denn Gustaf Nagel gehörte zu den zahlreichen Heilsbringern, »barfüßigen Propheten« und »Kohlrabi-Aposteln« der Lebensreformbewegung vor dem Ersten Weltkrieg sowie den späteren »Inflationsheiligen«, die nach dem Krieg in einer Zeit der Verzweiflung, Verunsicherung und Verelendung den Überlebenden Heilung, Trost, Wunder, (manchmal) Revolution, vor allem aber Reformen anboten.
Die Lebensreform war ein Vorläufer der heutigen Ökologiebewegungen; sie antwortete schon früh auf die brutale Zerstörung der Natur, die mit der Industrialisierung und Verstädterung einherging. Im Rahmen der Lebensreform wurden Naturschutzvereine, Naturparks und Gartenstädte gegründet, und man versuchte, der bereits erkannten ökologischen Krise entgegenzuwirken. Vor allem der Zweite Weltkrieg trug dazu bei, ihre Geschichte und die ihrer Protagonisten weitgehend zu »vergessen«.
Die Lebensreformbewegung bildete sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, in England und in den USA heraus. Die Bezeichnung »Lebensreform« entstand jedoch nicht vor 1890. Sie umfasste recht unterschiedliche Reformbewegungen wie die Bodenreform- und Gartenstadtbewegung, die Schrebergartenbewegung, den Vegetarismus, die Naturheilkunde, Kleiderreform, Freikörperkultur, Abstinenzler-Bünde, die Frauenbewegung und Sexualreform (insbesondere von Magnus Hirschfeld), den Wandervogel und diverse Heimat- und Naturschutzbewegungen.
Die Lebensreform war der Versuch, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu finden, der ohne die Gewalttätigkeiten einer Revolution auskommen sollte.
Aus den unterschiedlichen Lebensreformen entstanden Reformhäuser, naturheilkundliche Sanatorien und Freiluftbäder, vegetarische Restaurants und Vorläufer des heutigen Öko-Tourismus, ebenso Verlage, die die Bücher, Schriften und Bilder der Lebensreformer verbreiteten. Auch eine besondere organische Architektur bildete sich heraus, außerdem eine die Natur verherrlichende Kunst, Poesie, heroische Literatur, Lieder und musikalische Kompositionen sowie die Produktion von Fotografien als Werbemittel für die Bewegung und ihre Protagonisten.
Die Lebensreform war kein deutscher Sonderweg, wie Ulrich Linse, einer der ersten und wichtigsten Historiker der Lebensreform noch meinte. Sie war in Deutschland auf Grund der Niederlage im Ersten Weltkrieg und den Folgen, die zum Faschismus führten, sicherlich stärker und verzweifelter ausgeprägt als in England oder den Niederlanden. Aber wie neuere Forschungen von Iris Blum und Christoph Wagner gezeigt haben, war auch die Lebensreform – wie der Spiritismus – eine eher globale Bewegung, deren Geschichte der wechselseitigen Beeinflussungen, Oppositionen und Verflechtungen bisher nur in Ansätzen bekannt ist. Obwohl sie sich in Variationen unterschiedlich je auf »Heimat«, »Nation« und spezifische lokale Landschaften bezog, waren ihre Mitglieder erstaunlich mobil, international vernetzt, besuchten sich wechselseitig und trafen sich an bestimmten Orten – meist hohen Bergen –, um Leben und Natur zu feiern. Sie experimentierten mit verschiedenen Gemeinschaftsformen und Lebensweisen; und einige versuchten auch, in den damaligen Kolonien in Afrika, Lateinamerika oder der Südsee zu siedeln, um dort ein naturgemäßes Leben zu leben. Es ist also auch zu fragen, wie kolonial die Lebensreform gewesen ist.
Theodor Hertzka (1845–1924) etwa schrieb mit Freiland ein Buch, das großes Aufsehen unter den Anhängern der Lebensreform erregte. Darin ging es um die Verwirklichung von »Edenthal«, einer »sozialistischen« Stadt innerhalb eines Staates mit Namen Freiland im Herzen Afrikas, und zwar auf dem Hochland von Kenia. Dort sollte nach den Prinzipien des Gemeineigentums und des Gemeinwohls gelebt werden. Handelte es sich hier um eine idealisierte und alternative Spielart des wilhelminischen Kolonialismus? Kenia war jedoch eine englische Kolonie, und die dortigen Kolonialbehörden stellten sich gegen das Projekt; es scheiterte. Trotzdem kamen 1894 auf Lamu, einer Insel nördlich von Malindi im Indischen Ozean, 25 Mitglieder der sozialistischen Freeland Association an, um dort ihre utopische Kolonie zu gründen; finanzielle Probleme und interne Konflikte führten jedoch zur Auflösung.
Oder die brasilianische Kolonie Hansa-Humboldt von Ernst Ulrich Buff (1873–1931), einem Schweizer, der wie Gustaf eine kaufmännische Laufbahn anstrebte, aber aus der bürgerlichen Gesellschaft ausstieg, nachdem er sich als alleiniges Medium Gottes erkannt hatte. Sein beträchtliches Vermögen investierte er in den Bau eines Gesundheitstempels mit Licht-, Luft- und Sonnenbad in Herisau. Nach seiner Entmündigung wanderte er mit Familie und Verwandten nach Brasilien aus und kam fünf Jahre später bei der Explosion eines Dampfkessels in Santa Catarina ums Leben.
Auch der Schwabe Karl Vester entschloss sich 1902 nach dem Besuch auf dem Monte Verità, Europa zu verlassen und nach Samoa auszuwandern. Nach zwei Jahren kehrte er jedoch zurück und lebte dann bis 1963 als »wahrhaft letzter Überlebender« etwas abseits vom Wahrheitsberg in »freundschaftlich-distanzierter Weise« zu den Gründern.
Und Friedrich Wilhelm Pester, 1885 in Borna, Sachsen, geboren, verließ Deutschland 1906, um dem Militärdienst zu entgehen; er war ein Schüler Diefenbachs, kannte möglicherweise Gustaf und nahm ihn als ein Vorbild für die eigene Stilisierung und das Geschäft mit Postkarten. Er reiste nach Kalifornien und ließ sich in der Nähe von Palm Springs nieder, wo er mehr oder weniger nackt, friedlich und vegetarisch in der Nachbarschaft der indigenen Cahuilla lebte. So brachte er die Lebensreform nach Kalifornien und gilt als einer der ersten Hippies, der immerhin Nat King Cole zu dem wunderbaren Song »Nature Boy« inspirierte.
Beinahe wäre auch Gustaf zusammen mit August Engelhardt, einem Vegetarier, Nudisten und verhinderten Künstler, auf die von Deutschen kolonisierte Sonneninsel Kabakon in der Südsee ausgewandert. Nachdem auch August Engelhardt den Monte Verità besucht hatte, kaufte er die Insel des Bismarckarchipels, um dort einen Sonnenorden zu gründen und natürlich zu leben. Er erklärte die Kokosnuss für heilig und verehrte sie wie ein Sakrament, weil sie hoch oben und nicht in oder nahe der Erde wuchs. Die Kokosnusspalme reckte sich der Sonne entgegen, und ihre Früchte hatten in seinen Augen auch deshalb ihre runde, kugelige Form. Marc Buhl in Das Paradies des August Engelhardt und Christian Kracht mit Imperium haben ihm im Genre des Romans ein Denkmal gesetzt.
Gustaf und August trafen sich in München, um die Reise zu besprechen. Doch die Sehnsucht nach dem Arendsee ergriff Gustaf (wieder einmal), er verließ München und wanderte zurück an den See in der Altmark.
Doch es gab auch Gegner der Gründung von Siedlungsgemeinschaften in überseeischen Kolonien. Einer von ihnen war Franz Oppenheimer, der sich für die sogenannten Freiland-Siedlungsgemeinschaften in der alten Welt einsetzte, um den Großgrundbesitz zu entmachten, das Privateigentum an Grund und Boden abzuschaffen und um das Land gemeinschaftlich zu bewirtschaften. Die Obstbaukolonie Eden war die erste Freiland-Kolonie bei Berlin und sehr erfolgreich.
In Deutschland bewegten sich die Naturapostel und Inflationsheiligen innerhalb eines weiten politisch-religiösen Spektrums, von ganz rechts – völkisch, antisemitisch und deutschnational – bis linksradikal und anarchistisch. Die Lebensreform umfasste Christen, Buddhisten, Anhänger von »Naturreligionen«, Pantheisten sowie Atheisten. Viele der Männer und Frauen, die sich der Bewegung zurechneten, sahen sich nicht nur als Begründer von Gegenkulturen und natürlichen Lebensweisen, sondern auch als Teil der Boheme, als Künstler wie Diefenbach, Fidus oder Edvard Munch. Letzterer war so radikal, dass er auf seinen Bildern nicht nur die Sonne, Licht und Farben feierte, sondern die bereits bemalte Leinwand dem Wetter – Regen, Eis und Schnee – aussetzte, um auf diese Weise die »Natur« am Kunstwerk mitwirken zu lassen.
Auch einige Dadaisten, Mitglieder des Bauhaus, ebenso wie Arbeiter, Lehrer, Wandervögel, Revolutionäre sowie Vagabunden, Tippelbrüder und Obdachlose, Naturheilkundige und Nudisten gehörten dazu.
Die meisten von ihnen sind, wie vor allem Ulrich Linse und Pamela Kort gezeigt haben, Teil einer weitgehend ausgeblendeten Geschichte der Moderne. Viele Protagonisten der Lebensreform bewegten sich am Rand, waren keine »großen« Männer oder Frauen, die in der offiziellen Geschichtsschreibung ihren Platz gefunden hätten. Wenn sie eine Spur hinterließen, dann fast immer als Zusammenstoß mit der Macht. Auch ihr Schicksal wurde wesentlich von ihrem Verhältnis zur Macht bestimmt. Gerieten sie in den Fokus der Öffentlichkeit, dann meist auf negative Weise, als Staatsgefährder, Unruhestifter, Sittlichkeitsverbrecher, als Nackte, Naturmenschen, Wilde und Primitivlinge oder psycho-pathologisiert als Geisteskranke.
Wie andere Propheten der Lebensreform wurde auch Gustaf zeit seines Lebens immer wieder eingesperrt und so von einem eigentlich rechtschaffenden Bürger, der gerne Kaufmann geworden wäre, zu einem Kriminellen und Irren oder Verrückten gemacht.
Da Gustaf weder eindeutig dem Gefängnis noch der Irrenanstalt zugewiesen werden konnte, wurde er zwischen den beiden...




