E-Book, Deutsch, Band 10, 230 Seiten
Reihe: Paul Flemming
Beinßen Sechs auf Kraut
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86913-607-3
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paul Flemmings zehnter Fall
E-Book, Deutsch, Band 10, 230 Seiten
Reihe: Paul Flemming
ISBN: 978-3-86913-607-3
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jan Beinßen, Jahrgang 1965, lebt in der Nähe von Nürnberg und hat zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht. Bei ars vivendi erschienen bisher Dürers Mätresse (2005), Sieben Zentimeter (2006), Hausers Bruder (2007), Die Meisterdiebe von Nürnberg (2008), Herz aus Stahl (2009), Das Phantom im Opernhaus (2010), Lebkuchen mit Bittermandel (2011), Die Paten vom Knoblauchsland (2012), Und wenn das vierte Lichtlein brennt ... (2012), Lokalderby (2013), Die Tote im Volksbad (2013), Görings Plan (2014) und Die Schäufele-Verschwörung (2014) sowie der Kurzkrimiband Die toten Augen von Nürnberg (2014).
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1
Paul Flemming hatte es eilig, sein Atelier abzusperren. Seinen Mantel zog er sich über, während er schon die Treppenstufen hinunterrannte. Als er auf die Straße trat, bekam er die ersten Vorboten des Herbstes zu spüren: Böen rissen trockene Zweige ab und ließen sie über das Kopfsteinpflaster tanzen. Die Baumkronen rauschten, durch die Giebel pfiff der Wind. Paul hielt seinen Kragen zusammen, lief über den Weinmarkt und warf dabei einen Blick auf seine Armbanduhr.
Eigentlich hätte er schon vor einer halben Stunde daheim sein sollen. Denn Katinka und er erwarteten Gäste: Hannah wollte heute ihren neuen Freund vorstellen. Diesmal was Ernstes – angeblich. An der Zeit wäre es ja, dachte Paul, denn sie war jetzt Mitte zwanzig und hatte bisher nur ein paar flüchtige Affären vorzuweisen. Manchmal argwöhnte Paul, dass seine leichtlebige und sehr unstete Stieftochter nicht bindungsfähig war. Aber das könnte sich ja jetzt ändern. Paul war gespannt auf den Neuen, von dem er bisher nur wusste, dass er Alexander Winterkorn hieß, als Krankenhausarzt arbeitete und ein ganzes Stück älter war als Hannah.
Es gab also Grund genug, auf kürzestem Weg nach Hause zu gehen. Doch das konnte er nicht: Paul war seinem Freund Jan-Patrick einen Gefallen schuldig. Er hatte dem Wirt des Goldenen Ritters zugesagt, sich eine Immobilie anzusehen. Es ging um einen leer stehenden Altbau, den Jan-Patrick erworben hatte, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, nun auch als Hotelier groß einsteigen zu müssen, und die bescheidenen Gästezimmer im Goldenen Ritter dafür nicht ausreichten. Das Haus in der benachbarten Lammsgasse hatte er für einen Appel und ein Ei bekommen, weil es als stark sanierungsbedürftig galt und jeder andere Investor mit einem Funken Verstand die Umbaukosten scheute. Auch Paul fand es gewagt, ja verrückt, was Jan-Patrick sich vornahm, wollte das Gebäude aber wenigstens mal in Augenschein nehmen. Also bog er ab und ging den Burgberg hinauf statt hinunter.
Als er die schmale Straße mit ihren eng aneinandergereihten Wohn- und Geschäftshäusern erreichte, musste er sich zunächst orientieren, um die richtige Hausnummer zu finden. Er blieb abrupt stehen und brachte damit einen älteren Herrn aus dem Konzept, den Paul kurz zuvor überholt hatte und der nun beinahe auf ihn aufgelaufen wäre. Paul entschuldigte sich bei dem Mann, dessen faltiges Gesicht auf ein Alter jenseits der Achtzig schließen ließ, dessen formelle Kleidung inklusive Hut und Aktentasche indes den Eindruck erweckte, als würde er gerade von der Arbeit in einem Büro kommen. Kopfschüttelnd ging der Senior weiter in Richtung des Gebäudes, das Paul inzwischen als Jan-Patricks Neuerwerb identifiziert hatte.
Es handelte sich um ein fünfstöckiges, spitzgiebliges Wohnhaus mit lachsrosa Sandsteinfront. An sich ein durchaus respektables Überbleibsel des Altbestandes, der den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs überstanden hatte. Dennoch sah man dem Haus die Jahrhunderte an, die es auf dem Buckel hatte, und man musste kein Fachmann sein, um die witterungsbedingten Schäden an der Fassade zu erkennen.
Paul betrachtete den zugenagelten Eingangsbereich und ließ seinen Blick höher wandern, als er auf einen ungesicherten Fensterladen aufmerksam wurde, den der Wind auf- und zuschlug. Direkt darunter schien der Sturm Staub und kleine Steinchen aus dem bröckelnden Sims zu treiben, und Paul sah mit gewisser Sorge, wie Steinbrösel herunterrieselten – direkt auf den Gehsteig, auf dem der alte Herr nur langsam vorankam.
Die nächste Böe fiel besonders kräftig aus. Wieder klapperte der Fensterladen. Und dann geschah es: Paul war einen Moment wie erstarrt, als er sah, dass sich einer der Fensterläden aus dem Scharnier löste, nach vorn kippte und nur noch in einer Angel hing.
Ihm schoss der Schreck durch alle Glieder. Jeden Augenblick könnte der Fensterladen abstürzen – und direkt darunter trottete gemächlich der nichts ahnende Senior! Paul handelte intuitiv und spurtete los: Im Nu hatte er den Rentner erreicht, packte ihn an den Schultern und schubste ihn aus der Gefahrenzone. Der Alte erschrak heftig, kam ins Stolpern und fiel beinahe hin. Keine zwei Sekunden später schlug der Fensterladen mit einem dumpfen Krachen auf dem Pflaster auf und zerbarst.
Ein Schwarm Spatzen suchte aufgeregt zwitschernd das Weite. Eine Passantin, die alles mit angesehen hatte, blieb mit besorgter Miene stehen, ging dann aber weiter, als sie merkte, dass Paul und der ältere Herr unversehrt waren.
Der Rentner, der sich Halt suchend an die nächste Hauswand lehnte, brauchte Zeit, um zu begreifen, was vorgefallen war. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er zunächst auf die Holzsplitter, um danach Paul angsterfüllt anzusehen. Seine wässrigen blauen Augen flimmerten, als er sagte: »Meine Güte. So ein großes Stück …« Er schnappte nach Luft. »Was da alles hätte passieren können … Gar nicht auszudenken!«
»Sie hatten Glück im Unglück«, sagte Paul, dem das Herz ebenfalls noch bis zum Hals schlug. Die Sache war verdammt knapp gewesen.
»Wie konnte das denn geschehen?«, fragte der Mann aufgewühlt.
Paul bückte sich nach einem Trümmerstück und betrachtete das morsche Holz. »Der kräftige Wind …«, setzte er zu einer Erklärung an.
»Ich hätte tot sein können«, erkannte der Senior die ganze Tragweite der Situation. Nur sehr zögerlich löste er sich von der Wand und streckte Paul die Hand entgegen. »Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, junger Mann.«
Paul schlug ein, nur um seine Heldentat sogleich herunterzuspielen: »Sie an meiner Stelle hätten das Gleiche getan und mich gewarnt. Und schauen Sie mal: Das Holz war ja schon ganz morsch.« Letzteres sagte er, um seinen Freund Jan-Patrick in Schutz zu nehmen. Gewissermaßen vorbeugend, falls der Herr auf die Idee kommen sollte, Anzeige zu erstatten.
»Es hätte gereicht, um mich zu erschlagen«, sah es der Rentner realistisch.
Darauf fiel Paul nichts Besseres ein, als ihn auf andere Gedanken zu bringen. Er fragte: »Sind Sie auf dem Weg nach Hause? Darf ich Sie ein Stück begleiten?«
»Nein, danke sehr, das ist nicht nötig«, antwortete sein Gegenüber und strich sich den Mantel glatt. Seine Aufregung schien sich allmählich zu legen, denn deutlich ruhiger und selbstbewusst erklärte er nun: »Ich bin unterwegs zu meinem Stammtisch. Immer dienstags treffen wir uns im Goldenen Ritter.«
»Ach ja?«, fragte Paul, den diese Auskunft nicht gerade begeisterte.
»Ja, und jedes Mal nehme ich denselben Weg. Seit etlichen Jahren.« Nach einem Blick die Fassade hinauf fügte er hinzu: »Ich kann Ihnen sagen: So etwas ist mir noch nie passiert.« Er räusperte sich, streckte seinen Rücken durch und sagte mit vorgestrecktem Kinn: »Ich habe mich noch gar nicht mit Ihnen bekannt gemacht. Polster ist mein Name.« Da er vor Paul offenbar keinesfalls den Eindruck eines hilflosen Rentners hinterlassen wollte, nannte er auch seinen Beruf – seinen ehemaligen Beruf: »Justizvollzugsbeamter a. D.«
Paul zuckte zusammen. Musste es ausgerechnet jemand aus dem Justizwesen sein? Die Chancen, dass ein Mann wie Polster Klage gegen Jan-Patrick einreichen würde, schienen gerade stark zu steigen.
Auch Paul stellte sich vor und versuchte abermals, den Vorfall herunterzuspielen. Außerdem bestand er darauf, Polster auf dem Weg zum Goldenen Ritter nicht von der Seite zu weichen, was sich als Segen erwies. Denn wie befürchtet, legte der ehemalige Gefängniswärter wenig später los:
»Ich wüsste zu gern, wem dieser alte Kasten gehört. Ob sich der Besitzer seiner Verpflichtungen bewusst ist? Ich glaube kaum. Man muss ihm eine Lektion erteilen, um zu verhindern, dass andere in Gefahr geraten.«
»Wenn Sie wollen, höre ich mich gern für Sie um«, sagte Paul eilig. »Ich erledige das. Überhaupt kein Problem.«
Die Dankbarkeit, die bis eben die Züge von Polsters Gesicht geprägt hatte, wich dem Argwohn: »Nein«, sagte er scharf. »Noch kann ich meine Angelegenheiten selbst regeln.« Er lüpfte seinen Hut und ließ Paul stehen, noch ehe sie die Irrerstraße mit dem Lokal erreicht hatten.
Paul schnaufte tief durch und beeilte sich, eine Abkürzung zu nehmen, um vor Polster im Goldenen Ritter zu sein. Keine zwei Minuten später betrat er das Gasthaus mit seinem altstadttypischen Chörlein und den im charakteristischen Blau lackierten Eisensäulen, die die Tür flankierten. Paul ließ die mit viel Eis gekühlte Frischfischtheke im Eingangsbereich links liegen und ging zielstrebig durch den urigen, gemütlichen Gastraum. Dahinter, in der Küche, vermutete er den Hausherrn.
Und tatsächlich stand Jan-Patrick in weißer Kochjacke und der dazugehörigen Mütze vor einem seiner Herde. Mit einer Maxiausgabe eines Kochlöffels rührte er in einem großen, mattsilbernen Topf.
»Alarmstufe Rot!«, rief Paul, kaum dass er hereingerauscht war. »Du bist in Schwierigkeiten! In großen Schwierigkeiten!«
Jan-Patrick ließ vor Schreck den Löffel fallen. Er sah Paul mit einem Blick an, der sich zwischen Sorge und Überraschung nicht festlegen wollte.
»Ich sage nur: Lammsgasse!«, machte Paul es kurz.
»Oje, ist wieder ein Teil der Regenrinne runtergekommen?«
»Nein, ein kompletter Fensterladen! Beinahe wäre jemand erschlagen worden. Und das ist nicht alles.«
Jan-Patrick senkte den Kopf und stützte sich am Herd ab. »Dieses Haus bringt mir nichts als Ärger. Hätte ich bloß die Finger davon gelassen.« Bang sah er Paul an. »Sag schon: Was ist noch...




