Beinßen Sieben Zentimeter
1. Auflage 2006
ISBN: 978-3-86913-393-5
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paul Flemmings zweiter Fall - Frankenkrimi
E-Book, Deutsch, Band 2, 280 Seiten
Reihe: Paul Flemming
ISBN: 978-3-86913-393-5
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jan Beinßen, Jahrgang 1965, lebt in Nürnberg. Er hat zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht. Bei ars vivendi erschienen bisher Dürers Mätresse (2005), Sieben Zentimeter (2006), Hausers Bruder (2007), Die Meisterdiebe von Nürnberg (2008), Herz aus Stahl (2009), Das Phantom im Opernhaus (2010), Lebkuchen mit Bittermandel (2011) und Die Paten vom Knoblauchsland (2012).
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3
Das Innere der Villa unterschied sich stilistisch kaum von ihrem äußeren Eindruck. Das Foyer war weiß und riesig, und die verarbeiteten Materialien waren erlesen. Paul wollte nicht wissen, was allein die kindshohen Vasen gekostet hatten, die den unteren Absatz einer gewaltigen marmornen Treppe ins obere Stockwerk zierten.
Paul näherte sich einer Tür am Ende der Empfangshalle, die von ihren Dimensionen eher an ein Kirchenschiff erinnerte. Die Tür war einen Spaltbreit geöffnet, und grelles Scheinwerferlicht drang heraus.
»Besser spät als nie«, begrüßte ihn Blohfeld. Hinter der schmächtigen Gestalt des grauhaarigen Reporters entfaltete sich die geballte Schaffenskraft der modernen Kriminalistik: Im gleißenden Licht mehrerer wattstarker Strahler waren Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen damit beschäftigt, jeden Krümel in dem antiquiert eingerichteten Arbeitszimmer umzudrehen. Die Kriminalbeamten gingen mit Pinzetten, Pipetten und Tupfern zu Werke, sammelten jedes verdächtig erscheinende Utensil und steckten es in durchsichtige Plastikbeutelchen. Mittendrin im emsigen Treiben, ausgestreckt auf einem Orientteppich, lag ein mit weißen Laken bedeckter Körper.
»Kleines Quiz«, sagte Blohfeld und zupfte sich sein burgunderrotes seidenes Halstuch zurecht, »seit wann gibt es Nürnberger Rostbratwürste?«
Paul, eingenommen von den Vorgängen um ihn herum, zuckte die Schultern.
»1313. Aus diesem Jahr stammt zumindest die erste urkundliche Erwähnung«, sagte der Reporter und pustete sich eine Strähne seines dünnen grauen Haares aus der hohen Stirn. »Zweite Frage: Warum sind Nürnberger Würstchen so klein?«
»Moment, das weiß ich!« Paul hob seinen Zeigefinger. »Weil die Nürnberger Wirte sie damals auch nach der Sperrstunde anbieten wollten und sie somit durch Schlüssellöcher hindurch verkaufen mussten.«
»Könnte man gelten lassen. Eine andere Theorie besagt, dass sie den Häftlingen im historischen Lochgefängnis unter dem alten Rathaus durchs Zellenschloss gereicht wurden und deshalb so kompakt sein mussten.«
»Habe ich die Prüfung also bestanden?«, frotzelte Paul.
Blohfeld strich sich über seine schmale Himmelfahrtsnase. »Bestanden haben Sie erst, wenn Sie mir ordentliche Tatortfotos liefern.«
Paul setzte ein Weitwinkelobjektiv auf den Bajonettverschluss seiner Nikon. Er schloss einen leistungsstarken Stabblitz an und orientierte sich durch den Sucher der Kamera. Konzentriert lichtete er den Raum ab. Zunächst Fotos des abgedeckten Toten auf dem Fußboden, dann folgten Aufnahmen des Schreibtisches mit zerwühlten Unterlagen darauf, anschließend Bilder von weiteren Möbeln, den Wänden und teuer aussehenden Dekorationsgegenständen. Zuletzt fotografierte Paul die Scheibe einer Verandatür, die vermutlich der Täter zerbrochen hatte, um in die Villa einzudringen.
»Was glauben Sie eigentlich, wie viele Würstchen der alte Wiesinger durchschnittlich im Jahr hergestellt hat?«, forderte ihn Blohfeld erneut heraus.
»Keine Ahnung«, sagte Paul. »Zweihunderttausend? Vierhunderttausend? Das ist schwer zu schätzen; man isst ja immer mehrere davon, um satt zu werden.«
Blohfeld lächelte ihn nachsichtig an. »Rechnen ist wohl nicht Ihre Stärke«, sagte er. »Deshalb stehen Sie mit der Miete für Ihre Atelierwohnung am Weinmarkt wohl auch seit Monaten in der Kreide, was? Ich will es Ihnen sagen: dreihundert Millionen! Dreihundert Millionen von diesen verflixt leckeren kleinen Sünden. Der hat sie in alle Welt exportiert und sich daran dumm und dämlich verdient.«
Das sieht man, dachte Paul angesichts der imposanten Kulisse.
»Raubmord?«, fragte er den Reporter, nachdem er weitere Fotos von der zerbrochenen Verandatür gemacht hatte.
Blohfeld sah ihn an, fuhr sich erneut über die Nase und sagte leise: »Das vermutet die Staatsanwaltschaft. Die ersten Eindrücke deuten darauf hin.«
Paul nahm Blohfelds Verschwörerton auf, als er sich erkundigte: »Und was glauben Sie?«
»Das weiß ich selbst noch nicht«, gestand der Reporter ein. »Aber die Alarmanlagen haben nicht ausgelöst, weder die an der Gartenmauer noch die in der Villa selbst. Das gibt einem zu denken.«
»Ein Profi«, suchte Paul nach einer plausiblen Erklärung.
»Warum nimmt er souverän die ersten Hürden, um dann mit brachialer Gewalt die Scheibe einzuschlagen?« Blohfeld schüttelte den Kopf. »Nein, nein, so einfach ist das nicht.«
Paul wusste nicht recht, ob er sich Blohfelds Zweifeln anschließen sollte. Denn warum sollte man einen glasklaren Fall wie diesen unnötig komplizieren? »Wie sieht denn die offizielle Lesart aus?«, fragte er.
Blohfeld grunzte. »Hans-Paul Wiesinger schläft in seinen Privatgemächern im ersten Stock. Er hört ein verdächtiges Geräusch. Da es bereits mitten in der Nacht und er – bis auf den alten Chauffeur – allein im Haus ist, sieht er selbst nach dem Rechten. Er überrascht einen Einbrecher in seinem Arbeitszimmer. Dieser verliert die Nerven und schlägt Wiesinger mit einem – sagen wir – Stemmeisen oder einem ähnlich schweren Gegenstand nieder. Anschließend flüchtet der Täter mit der Tatwaffe.«
Paul hörte ein dumpfes Schluchzen und schaute sich irritiert um, konnte die Herkunft des Geräuschs aber nicht feststellen. »Wer hat den Toten gefunden?«, fragte er.
Blohfeld deutete in die Richtung, aus der das Schluchzen kam. »Dort draußen sitzt er, auf der Veranda, der alte Chauffeur. Armer Kerl. Hat in kindlicher Naivität an seinem Arbeitgeber gehangen. Der Mann ist beinahe im Rentenalter, kann sich von seinem Posten aber offenbar nicht trennen.« Blohfeld kehrte den Chef heraus. »Seien Sie so gut und machen Sie ein paar hübsche Aufnahmen von ihm.«
Paul trat unter Protest eines Spurensicherers durch die zerbrochene Scheibe auf die Veranda hinaus. Tatsächlich saß dort jemand: zusammengesunken, das Gesicht verborgen zwischen großen, faltigen Händen; er trug eine weit fallende, dunkle Chauffeursgarderobe. Paul näherte sich dem Mann und sah hinab auf struppiges schlohweißes Haar. Neben dem Fahrer lag eine Chauffeurskappe, scheinbar achtlos auf die Holzbohlen der Veranda geworfen.
»Es ist alles aus«, stammelte der Mann. »Alles vorbei.«
Paul hatte nicht vor, den Seelsorger zu spielen, zumal er darin bestimmt nicht der Geeignetste war. »Darf ich«, setzte er unbeholfen an, »einige Aufnahmen von Ihnen machen? Sie sind einer der wichtigsten Zeugen«, sagte er bekräftigend.
»Über dreißig Jahre – und dann ein solches Ende«, sagte der Chauffeur mit brüchiger Stimme. Er schaute auf und blickte Paul aus traurigen fahlen Augen an. Dabei fielen Paul seine großen abstehenden Ohren auf.
»Darf ich?«, fragte Paul erneut und drückte schon auf den Auslöser. Fünf Fotos in rascher Folge. Die Sache war blitzschnell im Kasten.
Paul war erleichtert, als er wieder auf Blohfeld stieß, der sich im Foyer von einem Kripobeamten Kaffee aus einer Thermoskanne einschenken ließ. »Der Arme ist ja fix und fertig.«
»Hauptsache, Sie haben die Fotos.«
Paul nickte. »Zur Abwechslung habe ich jetzt mal eine Quizfrage«, sagte er. »Was verdient man denn mit dreihundert Millionen verkauften Würstchen im Jahr?«
Blohfeld zog die Brauen hoch und antwortete: »Streichen Sie eine Null und Sie haben den Umsatz.«
»Dreißig Millionen?«, fragte Paul ungläubig. »Und ich hatte mich schon darüber gewundert, wie sich ein Metzger einen eigenen Fahrer leisten kann.«
Blohfeld lächelte wie üblich ein wenig überheblich. »Nicht nur einen Fahrer, mein Lieber. Da waren auch eine Köchin, ein persönlicher Assistent und ein Gärtner drin.«
»Na, dann«, grinste Paul, »haben wir ja unseren Mörder gefunden!«
Blohfeld klappte die Kinnlade herunter. »Den Mörder?«
»Natürlich«, trumpfte Paul scherzhaft auf, »der Gärtner ist immer der Mörder! Haben Sie schon Kontakt mit ihm aufgenommen?«
Der Reporter verzog keine Miene. »Gärtner, Köchin und Assistent wohnen außer Haus beziehungsweise hatten in der Mordnacht Ausgang. Nun sehen Sie zu, dass Sie Ihre Fotos in die Redaktion mailen«, blaffte Blohfeld Paul an.
Paul beeilte sich, den Tatort zu verlassen. Er hetzte durch das Foyer, blieb an einem zierlichen japanischen Sekretär aus rötlich schimmerndem Edelholz stehen und griff sich eine darauf ausgelegte Imagebroschüre der Wiesinger-Fabrik.
»Das pure Elend«, entfuhr es ihm. Der Prospekt in seinen Händen war bieder, schlecht layoutet und vor allem mies fotografiert. Wenn der alte Wiesinger nicht tot im Nebenraum liegen würde, hätte Paul ihm hier und jetzt ein Angebot für einen neuen, attraktiveren Imagekatalog gemacht.
»Augenblick«, riss ihn Katinka Blohm aus seinen Gedanken. »Ich brauche mal deine Unterstützung«, sagte sie schmeichelnd und lenkte ihn in eine stille Nische zwischen zwei griechisch anmutenden Säulen.
Paul grinste. »Klar. Immer. Gern. Worum geht es?« Er rechnete nicht wirklich mit einem anstrengenden Gefallen.
»Hannah studiert doch jetzt an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, der WiSo«, begann Katinka umständlich.
Paul nickte abwartend. Von Hannah hatte er lange nichts gehört. Nichts mehr, seit sie als Nürnberger Christkind für die eine oder andere Schlagzeile gesorgt hatte. Aber er konnte sich ausrechnen, dass Katinkas widerspenstige Tochter aus erster und gescheiterter Ehe inzwischen ihr Abitur bestanden hatte und zur Studentin aufgestiegen war.
»Sie ist von zu Hause ausgezogen«, erklärte Katinka leicht...




