Beldner | Rassismus im Rückspiegel | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Beldner Rassismus im Rückspiegel


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-03855-296-3
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-03855-296-3
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es sind die stereotypen Darstellungen Schwarzer Menschen in Kinderbüchern. Die Menschen, die ihr ungeniert in die Haare fassten. Die gut gemeinten Ratschläge, sich anzupassen. Rassismus hat viele Gesichter. Angélique Beldner begegnete ihnen im Lauf ihres Lebens immer wieder: bei der Jobsuche, beim Arztbesuch, auf offener Strasse, in der Familie und bei Unbekannten. Als Angélique Beldner 1976 geboren wird, können sich viele Menschen nicht vorstellen, dass Rassismus auch in der Schweiz existiert. Für sie ist Rassismus das, was der Kolonialismus angerichtet hat oder was Schwarze Menschen in Südafrika während der Apartheid erleben. Doch er ist da, und Betroffene spüren ihn täglich in unterschiedlichsten Formen. Im Blick zurück auf ihre eigene Lebensgeschichte untersucht die Autorin, wie sich die Wahrnehmung von Rassismus in der Schweiz und der Umgang damit seit den 1970er-Jahren verändert hat. Von den «Überfremdungsinitiativen» über die Einführung der Rassismusstrafnorm bis Black Lives Matter folgen wir einem langsamen Erwachen der Schweizer Gesellschaft. Und einer Frau, die ihre Stimme findet.

Angélique Beldner, geboren 1976 in Bern, ist Newsjournalistin und Fernsehmoderatorin. Sie moderiert die wöchentliche SRF-Quizshow «1 gegen 100». Die ausgebildete Typografin und Schauspielerin besitzt ausserdem einen Master of Advanced Studies in Communication Management and Leadership. Zusammen mit Martin R.?Dean publizierte sie 2021 das Buch «Der Sommer, in dem ich Schwarz wurde». Angélique Beldner lebt in Bern.
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Die Schweiz der 1970er-Jahre


«Die Schweiz» klingt komisch. Es klingt, als wäre da etwas, das wert wäre, es hervorzuheben. Natürlich sollte es das nicht sein. Doch wollen wir den Rassismus in der Schweiz verstehen, müssen wir es betonen: Die Schweiz der 1970er-Jahre war fast durch und durch . So wie die meisten anderen europäischen Länder auch. Die meisten Menschen in der Schweiz hatten einen Schweizer Pass. Die meisten Paare lebten in heteronormativen Beziehungen und heirateten früher oder später, die meisten Ehepaare bekamen irgendwann Kinder und blieben ihr Leben lang zusammen. Die meisten Männer gingen arbeiten, die meisten Frauen blieben zu Hause und kümmerten sich um die Kinder und den Haushalt. 1971 wurde den Schweizer Frauen an der Urne gerade erst das nationale Stimm- und Wahlrecht gewährt, was der Schweiz den Ruf als rückständiges Land einbrachte. Ich fand es eigentlich nie erstaunlich, dass es so spät geschah. Denn schliesslich konnten über das Stimm- und Wahlrecht der Frauen ja nur die Männer abstimmen – jene also, die Macht abgeben mussten.

Etwas mehr als sechs Millionen Menschen lebten in der Schweiz, davon waren rund eine Million Ausländerinnen und Ausländer. Die Zahl jener mit einem Pass aus einem der über 50 afrikanischen Staaten lag bei gerade mal 5000. Oder anders gesagt: Im Jahrzehnt, in dem ich geboren bin, gab es in der Schweiz so gut wie keine Menschen afrikanischer Herkunft. Die Herkunft allein lässt freilich nicht auf die «Hautfarbe» schliessen. So waren bestimmt nicht alle Angehörigen eines afrikanischen Landes Schwarze, dafür gab es Schwarze, die keinen afrikanischen Pass besassen, sondern vielleicht einen US-amerikanischen, einen dominikanischen, einen brasilianischen, einen französischen, einen Schweizer Pass oder den eines anderen Landes. Doch wo auch immer sie herkamen und was auch immer ihre Staatsangehörigkeit war: Es können nur ganz wenige gewesen sein. Und die wenigen, die es gab, blieben oft unter sich.

Für Schweizerinnen, die in Erwägung zogen, einen «Ausländer» zu ehelichen, gab es eine eigens dafür eingerichtete Beratungsstelle. In einem Bericht des Schweizer Fernsehens aus dem Jahr 1970 werden Ratschläge erteilt:

«Wer einen Ausländer heiratet und vielleicht irgendwann mit ihm in seinem Heimatstaat leben will oder muss, sollte sich unbedingt vor der Heirat möglichst genau über die dortigen Verhältnisse, einschliesslich der Rechtsordnung, erkundigen. Man muss wissen, welche Stellung die Frau nach dem Heimatrecht des Mannes im Familien- und Erbrecht hat und welche Sitten und Bräuche in seinem Land herrschen. Das gilt natürlich besonders für Mädchen, die einen Orientalen oder Afrikaner heiraten wollen.»2

Eine in der Sendung interviewte Beraterin sagt: «Ehrlich gesagt: Ich begreife jedes Mädchen, das sich in einen Afrikaner oder Asiaten verliebt. Unsere Schweizer Männer kommen gegen deren Charme und manchmal auch gegen deren unmittelbare Menschlichkeit nur schwer an. Das Gefährliche daran ist allerdings, dass solche Paare dann das Gefühl haben, sie verstünden sich wunderbar gut, und sie merken gar nicht, wie ganz verschieden ihre Denkart ist.»

Ich kann nur erahnen, wie es damals in der Schweiz für ein junges, verliebtes, binationales Paar gewesen sein muss, wenn es vorhatte, sein Leben zusammen zu verbringen, und denke dabei auch an meine Eltern. Doch dazu später.

In der Schweiz werden Daten darüber erhoben, welche Staatsangehörigkeit die Menschen haben, welcher Religionsgemeinschaft sie angehören, welche Sprachen sie sprechen. Darüber, welche «Hautfarbe» sie haben, existieren bis heute aber lediglich Schätzungen. Dasselbe gilt für die ethnische Zugehörigkeit. Allerdings steht die Schweiz damit keineswegs allein da. Die wenigsten europäischen Länder haben entsprechende belegbare Zahlen. In Frankreich ist es sogar verboten, Daten zu ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder «Hautfarbe» zu erheben: Das Gesetz sichert die Gleichheit aller Bürger:innen «ohne Unterscheidung nach Herkunft, ‹Rasse› oder Religion». Tatsächlich wurden diese Daten in der Vergangenheit in einigen Ländern aus rein rassistischen Motiven statistisch erfasst, so etwa während der Apartheid in Südafrika. Einige Expert:innen warnen, die Hervorhebung von Merkmalen einer bestimmten Gruppe trage zu ihrer Stigmatisierung bei. Auch sind ethnische Kategorien schwierig zu definieren. Und in den falschen Händen können Daten zur ethnischen Zugehörigkeit zu einer Gefahr für marginalisierte Gruppen werden. Es gibt also durchaus nachvollziehbare Gründe, auf solche Erhebungen zu verzichten. Andererseits erschwert es die Auseinandersetzung mit Diskriminierungen, wenn wir nicht wissen, von welchen Zahlen wir ausgehen müssen. In Grossbritannien wird die Zahl statistisch erfasst: Etwa 18 Prozent der Bevölkerung dort sind «nicht . Grossbritannien nutzt diese Daten, um einerseits Minderheiten sichtbar zu machen, aber auch, um rassistische Strukturen erkennen und abbauen zu können.

In Ländern mit einem so kleinen Anteil «Farbiger» – so nannte man sie damals oft – wie der Schweiz dachte man in den 1970er-Jahren kaum über Rassismus nach, tat ihn sogar als inexistent ab. Man hatte eine klare Vorstellung davon, was Rassismus war. Rassismus war das, was die Kolonialmächte in den afrikanischen Ländern angerichtet hatten. Damit hatte die Schweiz – so die Überzeugung – rein gar nichts zu tun. Die Schweiz war nie Kolonialmacht gewesen. Also musste sie sich auch nicht im gleichen Masse damit auseinandersetzen. Der Kolonialismus hat aber seine Spuren hinterlassen. Und diese Spuren liegen auch in der Schweiz.

Als man allmählich anfing, die kolonialen Verstrickungen der Schweiz aufzuarbeiten, konnte ich nicht so viel damit anfangen. Ich erinnere mich an die ersten Artikel zum Thema, die ich las. Das war mir irgendwie zu abstrakt. Schweiz und Kolonialismus? Als müsste sich mein Hirn auf so einen Erzählstrang erst einstellen. Das Thema ist zudem hochkomplex. Die ersten öffentlichen Auseinandersetzungen damit nahm ich zur Jahrtausendwende wahr, auch wenn die Aufarbeitung in kleineren Kreisen schon vorher begonnen hatte. Damals stand ich persönlich aber in Bezug auf Rassismus an einem ganz anderen Punkt: Ich setzte mich damit grundsätzlich kaum auseinander.

Die Schweiz hatte nie Kolonien besessen. Keine einzige. Und doch war sie diesbezüglich längst nicht so sauber, wie sie sich lange darstellte. Was ich schnell verstand, war, dass die Schweiz sehr wohl auf unterschiedlichste Weise vom Kolonialismus profitiert hatte. So hatte es hier Familien und Unternehmen gegeben, die Handel mit Kolonialwaren betrieben, Söldner, die sich in den Dienst von Kolonialmächten stellten, reiche Schweizer, die in Sklaventransporte investierten, oder solche, die am Dreieckshandel beteiligt waren, bei dem zum Beispiel Schweizer Textilien nach Afrika gebracht und dort gegen Afrikaner:innen getauscht wurden, die als Sklav:innen weiterverkauft wurden. Schweizer «Rassenforscher» trugen dazu bei, den kolonialistischen Hierarchiegedanken mit ihren Theorien zu untermauern. Nun wurde plötzlich Kritik laut an bekannten Schweizern wie Alfred Escher, dem Eisenbahnpionier und Wirtschaftsführer, dessen Familie einen Teil ihres Geldes mit Erträgen auf einer kubanischen Kaffeeplantage gemacht hatte, die von Sklaven bewirtschaftet worden war. Escher selbst hatte mit dieser Plantage nur insofern etwas zu tun, als er später finanziell von deren Verkauf profitierte. Er war kein Sklaventreiber. Wie gesagt: Auch diese Geschichte ist komplex. Klar ist aber, dass die Familie Escher auch dank des Kolonialismus zu Geld kam, von dem letzlich die Stadt Zürich und damit auch die Schweiz profitierte. Alfred Escher war Gründer der Schweizerischen Kreditanstalt, aus der später die Grossbank Credit Suisse wurde. Er legte den Grundstein für Zürichs Finanzplatz. Ihm gehörten mehrere grosse Liegenschaften, die später teils an die Stadt übergingen, darunter der grosse Belvoirpark samt Villa. Eschers Erbe ist ein grosses Erbe. Nach wie vor ziert seine Statue aus dem Jahr 1889 den Zürcher Bahnhofplatz.

Was ich erst viel später zu realisieren begonnen habe, ist, dass man die koloniale Vergangenheit noch heute überall erkennen kann. Am Beispiel von Alfred Escher sehen wir, dass Dinge, die sich vor mehreren Hundert Jahren zugetragen haben, Folgen bis in die heutige Zeit hinein haben. Die kolonialen Spuren zeigen sich auch in historischen Häusernamen, in rassistischen Kinderbüchern und -liedern, in rassistischen Darstellungen auf alten Werbeplakaten. Man sieht sie sogar auf unseren Balkonen: Die Geranien, die zur Schweiz gehören wie die Uhren und der Käse, kommen ursprünglich aus Südafrika. In die Schweiz gelangten sie über Söldner und deren Beziehungen zur Kolonialmacht Niederlande.

Der bis heute vorherrschende Rassismus hat seinen Ursprung in der Kolonialgeschichte. Das Einteilen von Menschen in «Rassen» galt als Rechtfertigung dafür, koloniale Strukturen...



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