E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Bennett Lebendig begraben
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8031-4266-5
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4266-5
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Arnold Bennett, geboren 1867 in Hanley/Staffordshire, war zunächst Advokaturschreiber in der Kanzlei seines Vaters, dann Journalist und Schriftsteller. Er veröffentlichte über fünfzig Bücher - Romane, Erzählungen, Dramen, Essays und Autobiographisches. Bennett starb 1931 in London.
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Der flohfarbene Morgenrock
Die eigentümliche Neigung der Erdachse zur Sonnenbahn – dieser Winkel, der hauptverantwortlich zeichnet für unsere geographische Beschaffenheit und damit für unsere geschichtliche Entwicklung – hatte jene Naturerscheinung hervorgerufen, die man in London Sommer nennt. Der herumwirbelnde Erdball hatte gerade seine zivilisierteste Seite von der Sonne abgekehrt und damit über Selwood Terrace, South Kensington, die Nacht hereinbrechen lassen. In Selwood Terrace Nr. 91 brannte Licht im Erdgeschoss und im ersten Stock und bewies lautlos, dass der Erfindungsgeist des Menschen die Natur überlisten kann. Nummer 91 war eines von ungefähr zehntausend gleich aussehenden Häusern zwischen South Kensington Station und Nord End Road. Mit seiner verrußten, stuckverzierten Fassade, seiner Kellerküche, seinen hundert Treppen und Stufen, seiner vollkommenen Unbequemlichkeit und seinem schlechten Gewissen wegen ungezählter Dienstmädchen, die sich hier zu Tode geschuftet hatten, reckte es seine Kaminhauben gen Himmel und erwartete düster brütend das Jüngste Gericht für die Häuser von London, hochmütig die Axial- und Orbitalgeschwindigkeit der Erde und sogar den verwegenen Flug des gesamten Sonnensystems durch das Weltall ignorierend. Man spürte, dass Nummer 91 unglücklich war und dass es nur mit einem Schild »Zu vermieten« im kleinen Vorgärtchen und einem Aushang »Keine Flaschen« in den Kellerfenstern glücklich gemacht werden konnte. Keine dieser Spezifikationen konnte es aufweisen. Wenn es auch in letzter Zeit so gut wie leer stand, war es doch nie ganz unbewohnt. Während seines gesamten vornehmen und ansehnlichen Daseins war es nicht einmal zu vermieten gewesen.
Treten Sie ein und atmen Sie die Atmosphäre eines gelangweilten Hauses, das so gut wie leer, aber nie ganz unbewohnt ist. Alle seine zwölf Zimmer dunkel und verlassen, bis auf zwei; seine Küche im Keller dunkel und verlassen; nur diese zwei Zimmer, eins über dem andern wie aufeinandergesetzte Schachteln, kämpften kläglich gegen die chronische Düsternis der übrigen zehn an! Stellen Sie sich in den dunklen Hausflur und lassen Sie diese Atmosphäre in Ihre Lungen dringen.
Das auffallendste, verblüffendste Stück in dem erleuchteten Zimmer im Erdgeschoss war ein Morgenrock in der Farbe zwischen Heliotrop und Purpur, der vorigen Generation noch als flohfarben bekannt; ein gestepptes Gewand, gefüllt mit Schwanendaunen, leicht wie Wasserstoff – fast – und warm wie das Lächeln eines herzensguten Menschen; alt vielleicht, an den exponierten Stellen möglicherweise etwas abgetragen, und durch die Poren des feinen Satins drang hier und da etwas fedrig weißer Flaum; aber es war ein Morgenrock, von dem man träumen konnte. Er dominierte das unordentliche, sehr spärlich möblierte Zimmer mit seinem großzügigen Faltenwurf, der im Schein der das Sonnenlicht ersetzenden Petroleumlampe schimmerte, die auf einer Zigarrenkiste auf dem schmutzigen Kiefernholztisch stand. Die Lampe hatte einen gläsernen Petroleumbehälter, einen angeschlagenen Zylinder und einen Schirm aus Kartonpapier und hatte wahrscheinlich weniger als zwei Shilling gekostet; der Tisch war nicht mehr als zehn Shilling wert; und die restliche Zimmerausstattung, einschließlich des Lehnsessels, in dem der Morgenrock ruhte, eines Hockers, einer Staffelei, drei Päckchen Zigaretten und eines Hosenspanners hätte man für weitere zwanzig Shilling kaufen können. Oben in den Ecken unter der Decke, verdunkelt vom Schatten des Kartonlampenschirms, zog sich ein kompliziertes System von Spinnweben hin, das zu dem Staub auf dem nackten Fußboden passte.
In dem Morgenrock steckte ein Mann. Dieser Mann hatte das interessante Alter erreicht. Ich meine das Alter, in dem man alle Illusionen der Kindheit verloren zu haben glaubt, in dem man das Leben zu verstehen wähnt und in dem man häufig Vermutungen darüber anstellt, welch köstliche Überraschungen das Dasein noch für einen bereithalten mag; jenes Alter, in summa, das für einen Mann das romantischste – und zugleich anfälligste ist. Ich meine das Alter von fünfzig. Ein Alter, das aller Vernunft widersprechend von jenen missverstanden wird, die es noch nicht erreicht haben! Der äußere Schein trügt hier auf tragische Weise.
Der Mann im flohfarbenen Morgenrock hatte einen kurzen, langsam ergrauenden Kinn- und Schnurrbart; sein volles Haar befand sich im Stadium des Übergangs von Pfeffer zu Salz; viele winzige Fältchen zeigten sich in den Vertiefungen zwischen seinen Augen und dem frischen Rot seiner Wangen; und die Augen waren traurig – sehr traurig. Wenn er aufrecht gestanden und lotrecht nach unten geschaut hätte, würde er nicht seine Pantoffeln, sondern einen hervorstehenden Knopf seines Morgenrocks erblickt haben. Verstehen Sie bitte: Ich verheimliche nichts; ich bestätige lediglich die Maßangaben, die sein Schneider sich notiert hat. Er war fünfzig. Doch wie die meisten Männer von fünfzig Jahren war er noch sehr jung, und wie die meisten Junggesellen von fünfzig war er recht hilflos. Er war ziemlich sicher, nicht besonders glücklich gewesen zu sein. Wenn er seine Seele freigelegt hätte, würde er irgendwo tief darin ein schmachtendes, mitleidheischendes Sehnen nach Geborgenheit und Beschütztwerden vor der Unbill und Härte dieser Welt entdeckt haben. Aber er hätte diese Entdeckung nie zugegeben. Von einem Junggesellen um die fünfzig kann man nicht erwarten, dass er zugibt, in dieser Beziehung einem neunzehnjährigen Mädchen zu ähneln. Dennoch ist es eine eigenartige Tatsache, dass die Ähnlichkeit zwischen dem Herzen eines erfahrenen, abenteuerlustigen Junggesellen von fünfzig und dem harmlosen Herzen eines neunzehnjährigen Mädchens größer ist, als Mädchen in diesem Alter sich das vorstellen; besonders wenn der Junggeselle von fünfzig um zwei Uhr nachts einsam und ohne einen Freund in der trostlosen Atmosphäre eines Hauses sitzt, das seine Hoffnungen überlebt hat. Nur Junggesellen von fünfzig werden mich begreifen.
Es ist nie eindeutig geklärt worden, worüber junge Mädchen nachdenken, wenn sie nachdenken; die jungen Mädchen können es selbst nicht sagen. In der Regel sind die einsamen Hirngespinste von Junggesellen mittleren Alters kaum weniger einer Deutung zugänglich. Aber der Fall des Insassen dieses flohfarbenen Morgenrocks bildete eine Ausnahme von dieser Regel. Er wusste und hätte genau sagen können, was er gerade dachte. In jener tristen Stunde, an dem tristen Ort kreisten seine melancholischen Gedanken um den strahlenden, einzigartigen Erfolg im Leben eines begnadeten und berühmten Mannes, den Zeitungen und Völkern der Welt unter dem Namen Priam Farll bekannt.
Ruhm und Reichtum
Zu der Zeit, als die New Gallery noch neu war, hatte ein dort ausgestelltes und mit dem unbekannten Namen Priam Farll signiertes Bild ein so gewaltiges Aufsehen erregt, dass monatelang keine Konversation unter gebildeten Leuten ohne seine Erwähnung in irgendeiner Form als vollständig betrachtet wurde. Dass der Künstler tatsächlich ein sehr großer Maler war, gaben alle bereitwillig zu; die einzige Frage, die zu lösen gebildete Leute als ihre Pflicht ansahen, war die, ob er der größte Maler aller Zeiten oder nur der größte Maler seit Velazquez sei. Gebildete Leute würden vielleicht heute noch über diesen schwierigen Punkt diskutieren, wenn nicht durchgesickert wäre, dass die Royal Academy dieses Bild abgelehnt hatte. Die Kulturwelt Londons vergaß darauf sofort ihren Streit und fiel mit vereinten Kräften über die Royal Academy als eine Institution her, die kein Daseinsrecht besäße. Die Sache kam sogar bis vor das Parlament und nahm drei Minuten der Legislative des Britischen Reiches in Anspruch. Die Royal Academy konnte sich nicht damit herausreden, dass sie das Ölgemälde übersehen hätte, maß das Bild doch ganze fünf mal sieben Fuß; es stellte einen Polizisten dar, einen einfachen Polizisten in Lebensgröße, und es war nicht nur das eindrucksvollste Porträt, das man sich vorstellen konnte, sondern auch die erste Darstellung des Polizisten in der großen Kunst; Kriminelle, hieß es, flohen instinktiv bei seinem Anblick. Nein! Die Royal Academy konnte tatsächlich nicht behaupten, dass sie das Werk übersehen hätte. Und die Royal Academy schützte auch keinesfalls zufällige Unachtsamkeit vor. Sie ließ sich auch nicht auf Diskussionen über ihr eigenes Daseinsrecht ein. Sie diskutierte überhaupt nicht. Sie existierte einfach weiter und kassierte auch weiterhin ungefähr hundertfünfzig Pfund pro Tag in Shillingstücken an ihren blankpolierten Eingangsdrehkreuzen. Und über Priam Farll, dessen Adresse Poste restante, St.Martin’s-le-Grand lautete, waren keine Einzelheiten zu erfahren. Diverse Sammler, getragen von dem tiefen Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit und dem aufrichtigen Wunsch, die britische Kunst zu fördern, waren eifrig bestrebt, dieses Bild für ein paar Pfund zu kaufen; doch diese Kunstbegeisterten mussten erstaunt die schmerzliche Feststellung machen, dass Priam Farll einen Preis von tausend Pfund dafür festgesetzt hatte – den Gegenwert einer höchst seltenen Briefmarke.
Folglich wurde das Bild nicht verkauft; und nachdem eine unternehmungslustige Zeitung erfolglos eine Belohnung für die Identifizierung des abgebildeten Polizisten ausgeschrieben hatte, schlief die ganze Angelegenheit sanft ein, während die Öffentlichkeit ihre Freizeit wie üblich damit verbrachte, über das große Reizthema der ehelichen Beziehungen zu diskutieren.
Natürlich erwartete jedermann, dass der geheimnisvolle Priam Farll in Übereinstimmung mit der allgemeingültigen Regel für eine erfolgreiche Karriere in der britischen Kunst im...