E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Benz Mission: Weisse Weihnachten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-03763-805-7
Verlag: Wörterseh Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Rentner-Roadtrip in die Berge
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-03763-805-7
Verlag: Wörterseh Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andreas Benz, geb. 1961, war über zwanzig Jahre als erfolgreicher Manager in der Finanzwelt tätig, bevor er sich 2010 entschied, nochmals ganz neu zu beginnen und seine Passion, das Filmemachen, zu leben. Er besuchte die New York Film Academy, bevor er in Los Angeles das Drehbuchschreiben lernte. Einige seiner danach entstandenen Kurzfilme wurden an bekannten Filmfestivals gezeigt. Heute ist er an verschiedenen Projekten der Constantin Film beteiligt, für die er unter anderem auch das Drehbuch 'Mission: Weisse Weihnachten' schrieb. Doch gerade als Schauspieler wie Heidi Maria Glössner und Stefan Gubser zugesagt hatten, bei einer Verfilmung mitzumachen, und es um die Finanzierung ging, kam Corona, und so schrieb der Zürcher während des Lockdown sein Script zu seinem ersten Roman um. Andreas Benz arbeitet als Coach und Consultant sowie im Corporate Storytelling. Er lebt mit seiner Familie in Benken SG.
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1
»Noch eine Kurve und dann sieht man ihn schon, den Vorhof zur Hölle«, dachte Luky Landolt. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass er schon kurz nach seinem siebzigsten Geburtstag in einem Alters- und Pflegeheim leben müsste.
Er hatte doch ganz andere Pläne. Er wollte mit seinem alten Austin Healey, den er über Jahre selber restauriert hatte, auf der Route Napoléon von Grenoble nach Cannes fahren und dort mit einem Freund ein Segelboot chartern. Doch dann schlug ohne Vorwarnung diese verdammte Krankheit zu. So heimtückisch, dass sie ihm einen dicken Strich durch all seine Pläne machte. Er war von einem Tag auf den anderen nicht mehr fähig, allein zu wohnen, war plötzlich eine Gefahr für andere und vor allem für sich selbst. Diese gesundheitliche Fragilität stand ganz im Gegensatz zu seiner immer noch attraktiven Erscheinung. Obwohl er einige graue Haare hatte, war sein Haarschopf noch dicht, und der Fünftagebart gab ihm etwas Abenteuerliches. Seine dunklen Augen funkelten noch immer, obschon sie mittlerweile von einigen Falten umgeben waren – die aber definitiv von viel Sonne und häufigem Lachen und weniger von Sorgen stammten.
Luky lehnte seinen Kopf gegen die Seitenscheibe des Busses, beobachtete, wie sie sich bei jedem Ausatmen kurz beschlug. Dann wieder schaute er entlang der nassen Landstrasse, die links und rechts von braunen Wiesen gesäumt war. Blätterlose Obstbäume trotzten dem kalten Wind. Obwohl es erst Nachmittag war, wurde es schon langsam dunkel. Es war einer dieser trüben Dezembertage, an denen es nie so richtig hell wird.
Auch dass es ihn jemals wieder ins Zürcher Oberland zurück verschlagen würde, hätte er vor kurzem noch für absolut unmöglich gehalten. Er wuchs zwar nur wenige Kilometer von hier auf und erinnerte sich gut daran, dass es früher zu dieser Jahreszeit auf den sanften Hügeln so viel Schnee gab, dass er mit dem Schlitten zur Schule fahren konnte. Auch kleine Skilifte gab es in fast jeder Gemeinde. Aber heute, mit der Klimaerwärmung, oder was auch immer das war, musste man ja schon froh sein, wenn es an Weihnachten mal wieder ein paar Schneeflocken gab.
Schon früh zog es den jungen Lukas, der später zu Luky wurde, nach Zürich. In der Stadt merkte er schnell, dass er mit seinem guten Aussehen, den flotten Sprüchen und seinem angeborenen Charme vor allem bei den Zürcherinnen sehr gut ankam. Auch lernte er, dass man in der Limmatstadt nicht unbedingt jeden Tag zehn Stunden in einem grauen Anzug in einem ebenso grauen Büro sitzen musste, um über die Runden zu kommen. Nein, da gab es viele einsame Banker- und Anwaltsgattinnen, die sich seine Gesellschaft, ob auf dem Golfplatz, als Tennislehrer oder auch mal nur als charmante Begleitung für ein Champagner-Cüpli am Limmatquai, einiges kosten liessen. Trotzdem hatte er nie viel Geld – »Easy coming, easy going«, das war seine Devise.
Gedanken über das Alter machte er sich nie, wahrscheinlich weil er sich nie alt fühlte und eine Altersvorsorge aus seiner Sicht eh nur etwas für Spiesser war. Er konnte nie etwas mit Typen anfangen, die schon mit fünfzig immer von der Rente redeten und davon, dass dann erst das Leben beginnen würde, bla, bla, bla. Er lebte jetzt, und das richtig.
Doch dann, vor knapp zwei Jahren, fuhr er mit seinem Oldtimer in einer leichten Linkskurve einfach geradeaus und schrottete unzählige Arbeitsstunden und viel Geld an einer alten Eiche. Er kam glücklicherweise mit dem Schrecken und ein paar blauen Flecken davon. Im Polizeirapport war unter Unfallursache zu lesen: Sekundenschlaf. Luky wusste nicht, ob das stimmte, er konnte sich schlicht an nichts mehr erinnern. Doch dieses plötzliche Einschlafen sollte nicht das einzige Mal bleiben. Immer öfter geschah es, dass er plötzlich einfach weg war. Das war der Anfang einer Odyssee, die ihn von Arzt zu Arzt und von Spezialist zu Spezialist führte, ohne dass sich wirklich etwas besserte.
Der Bus der Verkehrsbetriebe Zürichsee und Oberland verlangsamte seine Fahrt und bog blinkend in die Haltestelle. »Alters- und Pflegeheim Abendrot«, kündigte die monotone Buslautsprecherstimme die Haltestelle an. Zischend öffneten sich die Türen. Doch niemand stieg ein oder aus. Der Busfahrer schaute ungeduldig in den Rückspiegel, mit dem er den Fahrgastraum überblicken konnte, dann nahm er das Mikrofon aus der Halterung und drehte die Lautstärke voll auf. Mit lauter Stimme wiederholte er: »Alters- und Pflegeheim Abendrot.« Luky schrak hoch, er musste auf den letzten Metern doch noch eingeschlafen sein. Er stand schnell auf, nahm seine grosse Apothekertüte – weiss mit grünem Kreuz –, die er während der Fahrt zwischen seinen Füssen festgeklemmt hatte, und stieg aus. Sofort kroch die nasse Kälte unter seinen Mantel. Er schlug den Kragen hoch, während er wartete, bis der Bus wieder losfuhr, in Richtung Rapperswil.
Luky überquerte die Strasse und ging zu der leicht ansteigenden Auffahrt hinüber, die zum Altersheim führte. »Was für ein Bild«, dachte er, »wie aus einem düsteren Hitchcock-Film. Es fehlen nur noch eine Leiche und ein paar verdammte Raben.«
Das Altersheim Abendrot hatte tatsächlich schon bessere Zeiten gesehen. Bis um die Jahrhundertwende war es die noble Fabrikantenvilla eines erfolgreichen Patrons der im Zürcher Oberland ansässigen Webindustrie gewesen. Doch diese Zeiten waren vorbei, und die Jahre hatten ihre Spuren an dem Haus hinterlassen. Nun war es in einem wirklich schlechten Zustand – genau wie die meisten seiner Bewohner: Wer im »Abendrot« wohnte, der träumte nicht von der nächsten Kreuzfahrt, sondern war auf staatliche Ergänzungsleistungen angewiesen, um einigermassen über die Runden zu kommen.
Langsam ging Luky die Auffahrt hoch. Es war ihm ein wenig schwindlig, wie immer, wenn er aus dem Schlaf gerissen worden war. Ein Auto bog von der Hauptstrasse in die Auffahrt, und Luky machte einen Schritt in die Wiese, damit es passieren konnte. Als der Wagen auf seiner Höhe war, stoppte er, und der Fahrer liess die Scheibe hinunter. Es war Doktor Steiner, der Arzt, der sich um die Bewohner des Altersheims kümmerte.
»Guten Abend, Herr Landolt. Wie geht es Ihnen?«
»Danke, ganz okay.«
»Hatten Sie in letzter Zeit wieder einen Anfall?«
Luky nickte und antwortete: »Grad vorhin im Bus, aber es ist alles wieder gut.«
»Wollen Sie mit hochfahren?«, fragte der Arzt besorgt.
»Nein, die paar Meter schaffe ich schon allein, bin ja jetzt wieder ausgeschlafen.«
»Schön, dass Sie den Humor nicht verlieren«, meinte der Arzt schmunzelnd und fuhr weiter die Auffahrt hoch.
Luky schaute dem Auto nach, das auf den kleinen Parkplatz einbog und neben dem alten Kleinbus des Heims parkte. Ausser Puste erreichte er den Parkplatz wenig später, und wie jedes Mal, wenn er von irgendwoher zurückkehrte, wartete da schon der alte Paul auf ihn. Warm eingepackt, sass er in seinem Rollstuhl, die alte rot-hellblau-weisse Mütze – ein Werbegeschenk einer Bank, die seit Jahrzehnten einen neuen Namen hatte – tief ins Gesicht gezogen, und kaute auf dem Mundstück einer längst gerauchten Villiger Kiel herum.
»Hey, Luky, wie gehts?«, fragte Paul in seinem breiten Ostschweizer Dialekt.
»Ging schon besser. Und dir?«
Paul antwortete mit einem seiner typischen Hustenanfälle und zeigte mit dem Kopf auf die Plastiktüte in Lukys Hand.
»Hast du mein Zeugs auch bekommen?«
Luky hob die volle Apothekertüte hoch.
»Ja, ich komme mir vor wie ein Drogenkurier.«
Er legte den Sack auf Pauls Beine, löste die Bremse des Rollstuhls und schob ihn in Richtung Altersheim. Paul drehte sich zu Luky um.
»Du, machen wir nochmals Sapporo?!«
Luky tat überrascht, obwohl er längst mit dieser Frage gerechnet hatte.
»Meinst du wirklich?«, fragte er.
Paul nickte voller Begeisterung.
»Ja, bitte!«
»Gut, dann mach dich auf etwas gefasst!« Luky setzte eine ernste Miene auf und umklammerte die Griffe des Rollstuhls fester. Er bewegte ihn vor und zurück, wie das die Bobfahrer mit ihren Schlitten tun, bevor sie sich in den Eiskanal stürzen. Seine Stimme klang jetzt wie die eines Sportreporters: »Am Start steht Schweiz eins, dem Bob fehlt nur noch ein guter Lauf zum sensationellen Olympiasieg!« Aufmerksam schaute er Paul an, der sich an den Armlehnen seines Rollstuhls festklammerte und sich leicht nach vorn beugte, und schrie: »Ready?!«
Paul nickte.
Luky beugte sich über den Rollstuhl.
»Und eins und zwei und go, go, go!«
Luky rannte los und schob den Rollstuhl, so schnell er konnte, über den Parkplatz in Richtung Altersheimeingang.
Paul lachte und rief aus vollem Hals: »Hopp Schwiiz! Hopp Schwiiz!« – dann ein kräftiger Huster und nochmals: »Hopp Schwiiz! Hopp Schwiiz!«
Luky war total darauf konzentriert, dass der Rollstuhl in der anspruchsvollen Zielkurve nicht samt Paul umkippte und trotzdem möglichst viel Tempo auf die Zielgerade mitnehmen konnte. Deshalb sah er nicht, wie Daniela Kunz, die Leiterin des Heims, just in dem Moment aus der Tür trat, als die beiden mit vollem Tempo der Ziellinie entgegenrasten. Nur mit einem beherzten Sprung konnte sie sich vor einer fatalen Kollision mit dem Rollstuhl retten. Ihr omnipräsentes Klemmbrett flog durch die Luft, und Daniela Kunz landete neben dem Eingang in einer Pfütze, direkt neben der alten verwitterten Tanne, an der eine schäbige Weihnachtsbeleuchtung flackerte. Vor Wut schnaubend, stand sie auf, wischte...