E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Berlin Ein neues Leben
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-311-70599-4
Verlag: AKI Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Storys, Essays, Tagebücher
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-311-70599-4
Verlag: AKI Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Mama und Dad
Die Frauen unterhielten sich über ihre gipsverputzten Häuser und die Häuser, die sie hatten, bevor sie nach Enid gezogen waren.
Esther war die Einzige, die über ihren Mann redete. Dad nannte sie ihn, und er nannte sie Mama, obwohl sie keine Kinder hatten. Er war neunundsiebzig, konnte sich mittlerweile kaum noch selbst behelfen mit Asthma und Geschwüren. Bevor er so krank wurde, war er Autoverkäufer gewesen. Eine Schwarze Haushaltshilfe kam zweimal die Woche, und sie hatten einen Duncan Phyfe im Speisezimmer. »Dad war damals ein Bild von einem Mann«, sagte Esther oft, und die anderen Frauen waren peinlich berührt.
Sie war nicht wie die drei anderen mit ihren vergilbten Dauerwellen und Kalendern im Wohnzimmer. Sie trug Lippenstift und tönte ihr Haar, nähte im Winter helle Wollkleider, pastellfarbene Chambrays im Sommer. Sie machte das jedes Jahr wieder, malte und machte Schonbezüge und Caféhaus-Vorhänge. »Ich muss mich beschäftigen«, sagte sie. »Das lenkt mich von mir selbst ab.«
Evelyn und Vera, die verwitwet waren, verzogen jedes Mal das Gesicht, wenn sie das sagte. »Sie ist schon ziemlich eingebildet«, sagte Vera.
Nellie war die Einzige, die sie wirklich mochte. Nellie respektierte Arbeit, Einsatz. Sie und Owen hatten jeden Tag ihres Ehelebens an ihrer Tankstelle gearbeitet … »und als wir damit aufhörten, hätten wir genauso gut sterben können«.
Owen war tatsächlich gestorben, im Frühling, an einer Lungenentzündung. Vera und Evelyn gingen nach der Beerdigung zu Nellie, um zu sehen, ob sie irgendwie behilflich sein konnten. Nellie schaute fern, als wäre nichts gewesen. Während der Werbung beugte Vera sich zu Nellie.
»Vielleicht geht es dir besser, wenn du darüber redest, Nellie. Bei mir war es so.«
»Hat keinen Sinn, drüber zu reden. Wir wussten beide, dass es passieren würde.«
»Na ja, es ist ein Schock, egal wie es passiert«, sagte Evelyn. Sie und Vera standen auf. Vera seufzte. »Es ist schrecklich hart für dich … Ich weiß noch, als mein Edwin …«
Nellie zündete sich eine Zigarette an, die Flamme des Streichholzes beleuchtete ihre schweren Gesichtsknochen. »Es ist nicht hart. Es ändert nichts an dem, was vorher war, und ich nehme an, es wird nichts an dem ändern, was jetzt kommt.«
Esther traf ein, als die beiden Frauen gerade gingen. Sie nickten ihr nur zu.
»Ich habe einen Kanne voll Kaffee mitgebracht, Nellie. Dachte, du wirst sowieso kaum schlafen.«
Vera und Evelyn blieben auf dem Gehweg stehen, um sich zu verabschieden. »Also, ich habe noch nie gesehen, dass …«
»Aber Vera, du kennst doch Nellie, sie ist keine, die ihre Gefühle zeigt.«
»Sie könnte wenigstens ein bisschen Anstand zeigen, Respekt.« Stimmt. Sie wünschten sich eine gute Nacht.
Esther und Nellie schauten Ed Sullivan und die Chevy Show. Esther, die immer darauf achtete, dass sie nicht geschmacklos war, sagte nichts, und Nellie redete nicht mit ihr.
»Dad wird sich fragen, wo ich bin«, sagte Esther und stand auf.
Nellie blieb sitzen. »Willst du die Kanne wieder mitnehmen?«
»Keine Eile. Ich mache morgens nur Instantkaffee.«
»Ich glaube, ich nehme noch eine Tasse. Das war eine gute Idee, Esther.«
»Ach, ich weiß, du und dein Kaffee.« Auf dem Nachhauseweg weinte Esther, um Nellie.
Narzissen blühten. »Nun, das ist meine Schuld!«, sagte Dad. Er hatte vergessen, dass er die Zwiebeln gesteckt hatte. Er war sehr glücklich, wollte mehr Blumen pflanzen, Zinnien und Zuckererbsen und Astern. Er war mit ein paar Samen hinausgegangen, als er umfiel, vor Schmerz.
Esther fuhr mit ihm im Krankenwagen zum County Krankenhaus. Er hatte einen Herzinfarkt gehabt, und in seinem Bein war ein Blutgerinnsel. Der Arzt sagte zu Esther, sie solle sich keine Sorgen machen.
Als sie nach Hause kam, kamen Evelyn und Vera mit einem Hackbraten und einer Ladung Toll House Cookies vorbei. Nellie kam und machte Instantkaffee, um sie aufzuheitern.
»Ich weiß nicht, wie ich mich jemals bei euch erkenntlich zeigen kann«, sagte Esther.
Am nächsten Tag rief sie jede von ihnen an und lud sie für Samstag um zehn auf einen Kaffee ein. »Sie hätte auch einfach zur Tür raus rufen können«, kicherte Nellie. Aber die Frauen freuten sich.
Sie trafen gleichzeitig auf Esthers Veranda ein. Nellie klingelte.
»Hallo, Mädels! Kommt rein!«
Esther war in Gold gekleidet, dieselbe Farbe wie die Tischdecke. »Und schaut euch nur die Forsythie an!«
»Mensch, Esther, was für ein Anblick!«
Es gab Bananenbrot und einen gestürzten Ananaskuchen. »Ich liebe Gelb«, sagte Esther.
Die Frauen saßen im Wohnzimmer; schüchtern, verlegen, Tassen und kleine Servietten in den Händen. Wenn sie lächelten, legten sie sich die fleckigen Hände vor den Mund, um ihre falschen Zähne zu verbergen.
Esther bedeutete ihnen, sitzen zu bleiben, während sie das Geschirr in die Küche brachte. Sie setzte noch mal Kaffee auf, und sie schauten und . Dann waren sie alle sehr müde. An der Tür sagten sie Esther noch einmal, wie hübsch alles aussah und wie gut der Kuchen war.
Ein paar Wochen später veranstaltete Vera ein Kaffeetrinken und dann Evelyn und dann Nellie.
Es war Esthers Idee, dass sie jeden ersten Samstag im Monat zusammen Kaffee trinken sollten, dass sich jede von ihnen drei bestimmte Monate für ihr Kaffeekränzchen aussuchen sollte. Damit wir vorausplanen können. Esther suchte sich Oktober und April aus, wegen der Blumen, und Dezember wegen ihres kleinen silbernen Weihnachtsbaums.
Vera wählte Februar, Juni und Juli – in den anderen Monaten hatte sie eine zu starke Nebenhöhlenentzündung. Nellie war es egal, abgesehen vom November, weil sie guten Kürbiskuchen machte. Evelyn sagte, dass sie einverstanden sei mit dem, was die anderen entschieden.
In den nächsten Monaten, die von den Samstagen geprägt waren, fingen die Frauen an, Zeitschriften wegen der Tischdekorationen und der Rezepte zu kaufen; sie rollten ihre Haare zu Locken auf und puderten sich die Gesichter. Sie rülpsten jetzt voreinander, witzelten und stritten, und sie fingen an zu lachen.
Dad war fünf Monate lang im County Krankenhaus. Sein Bein war jetzt in Ordnung, aber er war sehr schwach; sein Asthma und die Geschwüre hatten sich sichtlich verschlimmert. Sie hatten viele Tests gemacht. Zuerst war Esther ihn zweimal in der Woche besuchen gefahren. Aber es war so weit weg, zwei Busse und ein Fußweg. Sie gab zu, dass sie nicht gern hinfuhr, nicht gern hörte, was es zu essen gegeben hatte, wie seine Verdauung war. Sie hasste es, durch die Station zu gehen, die nach Desinfektionsmittel, Urin und schmutzigen Haaren roch, an den Reihen magerer alter Männer vorbei, die auf dem Rücken lagen und an die Decke starrten. Sie hasste es, das Rascheln, das Kotzen hinter den Vorhängen zu hören, die kranken Männer zu sehen, die zahnlos ihre Verwandten angrinsten, denen es zu heiß war, die nicht wussten, was sie sagen sollten.
Einer der Ärzte sprach mit Esther über Dads Entlassung. Es gehe ihm nicht wirklich gut, sagte der Arzt. Aber er sei niedergeschlagen und gelangweilt und wolle nach Hause. Esther müsse viel Geduld haben, ihm helfen.
»Ja«, sagte sie, »obwohl es nicht einfach ist, sich um ihn zu kümmern, allein und so, ich …«
Der Arzt hatte es eilig. »Es wird nicht für lange sein«, sagte er.
Verärgert nahm Esther ihm den Stift aus der Hand und unterschrieb das Entlassungspapier.
Ein Praktikant hob ihn ins Taxi. Dad konnte seinen Kopf nicht oben halten. Er war dünn neben Esther im Auto. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, und er weinte.
Wenige Tage nachdem Dad nach Hause gekommen war, kamen die Mädels mit Keksen und Törtchen für ihn vorbei, obwohl er nichts davon essen konnte. Sie schienen ihn nicht zu beachten. Ihre Stimmen waren schrill, und Nellie rauchte. Dad fing an zu husten, rappelte sich auf. Keuchend und würgend humpelte er in sein Zimmer.
»Arme Esther … es ist schrecklich schwer für dich«, sagte Evelyn. Sie verstummten, als Dad auf seinem knarrenden Bett stöhnte, mit sich selbst sprach.
Jeden Morgen nahm er ein Ei und ein Glas Milch zu sich. Er wusch Teller, Gabel und Glas ab.
Dann machte er Wackelpudding, lehnte seinen Körper an die Spüle. Während der Wackelpudding andickte, saß er auf einem Stuhl am Kühlschrank und öffnete hin und wieder die Tür, um nach dem Pudding zu sehen. Sobald er anfing zu gelieren, gab er Birnenstücke aus der Dose und etwas Hüttenkäse hinein. Jeden Tag machte er einen andersfarbigen Wackelpudding. Manchmal gab er Marshmallows dazu.
Esther half ihm auf die Veranda. Dort saß er den restlichen Vormittag, schaute hinaus auf die Straße, seine Augen waren mit einem schimmernden Schleier überzogen, ähnlich dem über einem Feuer. Er aß Wackelpudding und Toast zum Mittag und trank eine Tasse Tee. Den ganzen Nachmittag lang schlief er, und dann aß er...




