E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Bernemann Schützenfest
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-27124-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-641-27124-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dirk Bernemann, geboren 1975 im westlichen Münsterland ist Schriftsteller und Journalist. Seit 2005 schreibt er Romane und Kurzgeschichten, darunter den Bestseller »Ich hab die Unschuld kotzen sehen«. Derzeit sind fünfzehn Romane und Kurzgeschichtenbände von ihm erschienen, von zwei Titeln gibt es verschiedene Theaterinszenierungen. 2016 hatte sein erstes eigenes Theaterstück »Bella Noir, 2 Zigaretten Demut« Premiere in München. Außerdem moderiert er den Podcast UNTENDURCH. Dirk Bernemann lebt in Berlin.
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Sonntag
Pumpender Schmerz. Eigentlich mit jedem Herzschlag ein paar Gramm mehr. Ich wache auf mit diesen wirren Erinnerungen, von denen man nicht weiß, ob sie Fantasie, Realität oder irgendeine verklebte Mischform sind. Ich habe keine Ahnung, wie ich ins Bett gekommen bin. Ich schwitze und friere. Zwischen den Schmerzschüben im Kopf versuchen ein paar hilflose Gedanken, Klarheit zu schaffen. Es gelingt ihnen nicht, diesen kleinen müden Gedanken, aber sie rotieren unermüdlich. In meinem Mund herrscht totale Trockenheit, die Sonne scheint brutal in mein Kinderzimmer.
Ich bemühe mich weiter, etwas Ordnung in die Ereignisse zu bringen. Der Schmerz stört, genau wie der Drang, jetzt unbedingt kotzen zu müssen. Ich werfe die Bettdecke zur Seite, Beschleunigung, Badezimmer. Ein Lied hallt durch meinen Schädel. Tausend Stimmen. »Kümmerling, Kümmerling, nette Menschen trinken gerne Kümmerling.« Kräuterschnaps. Currywurst. Küsse, Kippen, Klodeckel. Aufreißen. Auf die Knie. Würdelosigkeit in jeder meiner Bewegungen. Aber der Einzige, der sich zu erbarmen hat, bin ich – und zwar vor mir selbst. Es tritt hervor. Mein Verstand tritt ganz nach hinten. Grün-gelb-rosa, graubraunsaftig, zähflüssig kommt Halbverdautes zum Vorschein, viel Flüssigkeit. Ich bin ganz außer Atem, als wäre das hier Sport. Zugabe, Zugabe. Röcheln, röcheln. Angeekelt von mir selbst schaue ich meinen ungesunden Ernährungsgewohnheiten hinterher. Schwindel. Der Schmerz hört nicht auf. Ist jetzt noch intensiver. Wenn man nicht wüsste, dass man nicht daran stirbt, würde man denken, man stirbt daran. Als nichts mehr kommt, sinke ich am Keramikfuß der Toilette hinab. Ich lege meinen Kopf auf die Fliesen, genieße ihre Kälte. Schließe die Augen. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter in einer Küchenschublade Schmerztabletten aufbewahrt, zumindest war das früher so. Ich stelle mir vor, wie ich aufstehe, mich an der Wand entlang zur Treppe hangele, langsam runterlaufe, die Küche betrete, die Schublade aufreiße und dort ein paar dieser Schmerztabletten finde, drei davon in ein großes Glas Wasser fallen lasse und zusehe, wie sie sich langsam zersetzen. Ich weiß genau, dass sie mir helfen werden, dass auch sie meinen Schmerz zersetzen werden. Ich stelle mir das vor und bleibe doch liegen. Keine Ahnung, wie lange. Zwischen zwei Schmerzschüben erhebe ich mich und verlasse das Bad, Wand entlang, Treppe runter, Küche, ich muss mich kurz setzen, alles viel zu anstrengend. Sitze da, am Küchentisch meiner Eltern, schaue mir ihre sorgenfreie, wunderschöne Küche an. Der Kühlschrank, der Einbauherd, die Spüle, Edelstahl und weiß, bis in die letzte Ecke blank geputzt. Und dazu ich, wie eine Beilage, die man nicht bestellt hat.
In der Schublade, in der ich die Schmerzmittel vermute, sind auf den ersten Blick keine zu erkennen. Ich räume ein paar Papiere zur Seite. Nichts, in der Schublade daneben auch nicht. Fensterbank: Fehlanzeige. Im oberen von drei Hängekörben erkenne ich dann doch die grün-weiße Packung. Kühlschrank auf, Wasser rein, mit der Zunge schiebe ich ein hängen gebliebenes Minifragment Kotze an meinem Zahnfleisch vorbei und spucke es in die Spüle. Übelkeit. Selbstekel. Egohass. Schande. Scham und der ganze Rest überschlagen sich in mir. Ich entnehme der Packung drei Tabletten. Werfe sie in ein Glas, Wasser dazu. Schaue ihnen beim Auflösen zu. Schließe erneut die Augen. Zeit vergeht. Mein Kopf fühlt sich an, als würde jemand direkt hinter meinen Augen trockene Äste zerbrechen. Öffne sie wieder. Das Sprudelbad im Wasserglas ist zum Stillstand gekommen. Ich trinke aus. Gehe ins Wohnzimmer, schalte den Fernseher ein, während ich mich wie ein nachlässig hindrapierter Dekoartikel auf das Sofa fallen lasse. Es ist ein Ledersofa. Glatte, kalte Oberfläche. Ich presse mein Gesicht dagegen. Der Schmerz bleibt.
Im Fernsehen läuft eine dieser Sendungen, in denen ausgelassene Moderatoren schlagerhafte und volksmusikalische Künstler ankündigen, zwischendurch gibt es Kochrezepte, Gartentipps, Gespräche mit vom Schicksal Gebeutelten. Fröhliche Menschen klatschen zu gleichgültiger Musik. Wie gern wäre ich einer von ihnen. Ein ganz normaler Mitklatscher, Taktgefühl egal. Ich drehe mich zur Wand, weil ich die Helligkeit des Bildschirms nicht ertrage. Totale Verdammnis in allen Organen. Ich presse mein Gesicht in die Sofaritze, will darin verschwinden, es gelingt nur teilweise. Die unbedeutende Musik aus dem Fernseher hilft mir dabei, unbedeutende Gedanken zu haben. Zum Beispiel an gestern Nacht und überhaupt. Dieses Leben, seine Komik, seine Dramatik, seine Theatralik, seine Plot Twists. Sein Elend, seine Längen.
»Wussten Sie, dass der Mensch Studien zufolge täglich im Schnitt vier bis fünf Stunden mit Tagträumen beziehungsweise Mind-Wandering verbringt?«
Die Stimme klingt warm und weich, fast fürsorglich mütterlich.
»Das hab ich nicht gewusst, das ist ja ganz schön viel«, sagt der gut gelaunte Moderator. »Zu welchen Themen denn meistens?«
»Häufig aufkommende Themen sind Gedanken über das Selbst, soziale Beziehungen, Zukunftsplanung und autobiografische Erinnerungen. Diese Erfahrungen können in Form von Geschmack und Bildern, von Personen oder Landschaften oder Farben, somatischen Vorstellungen wie Hunger oder Müdigkeit, Gerüchen, Geräuschen, Musik, Klängen, taktilen Vorstellungen wie Berührungen auftauchen.«
»Ah, ich glaube, das kenne ich. Wenn ich samstagnachts spät heimkomme und meine Frau mich ausschimpft, habe ich das lange im Ohr.«
Gelächter im Publikum. Ich drehe mich wieder zum Fernseher, muss ein Auge zukneifen, um die Frau fixieren zu können. Sie lacht nicht.
»Mind-Wandering kann uns einen kreativen Schub geben oder uns auch von der Arbeit abhalten. Ich habe ein Buch darüber geschrieben, wie man das kontrollieren kann. Sich einfach selbst beobachten und wie bei allem die individuelle Balance finden.« Die Autorin ist wunderschön. Sie sieht so unglaublich gesund aus, dass ich bei ihrem Anblick schon ein schlechtes Gewissen bekomme. Mir fallen zwei dunkle Muttermale auf ihrem linken Oberarm auf. Scheinbar ihre einzigen Defizite.
»Danke an Helena Berger und ihr neues Buch Kopf und Wanderschaft.« Leichter Applaus. »Unsere nächsten Künstler waren früher wohl auch auf Wanderschaft, jetzt fühlen sie sich angekommen. Hier sind Die drei Ulmentaler mit ihrem neuen Lied ›Heimkommen‹.« Applaus. Volksmusikalische Klänge ertönen aus einem Akkordeon. Ein süddeutscher Dialekt. Ich drehe mich wieder um, lasse das Lied geschehen. Langsam dämmere ich weg. Ein paar Textfetzen begleiten mich in den Schlaf.
Komische Träume. Keine Zusammensetzbarkeit der Ereignisse. Ich bin an einem nicht näher bestimmbaren Ort. Tanze mit irgendwem, küsse irgendwen, plötzlich ist da eine Familie, die vorgibt, meine Familie zu sein, außerdem ein Hund. Der Hund jagt eines meiner Kinder durch den Garten. Weil der Köter total durchdreht, suche ich im Haus verzweifelt ein Werkzeug, mit dem ich ihn erledigen kann. Ich finde nichts, meine Suche wird immer hektischer. Ich renne in den Keller, auf der Treppe kommt mir mein Vater entgegen, ich schildere ihm das Problem. Er meint, es wäre ihm egal, solange ich genug verdienen würde. Im Keller finde ich einen Hammer, mit dem ich die Treppe wieder hinaufeile. Mein Kind kämpft mit dem Hund, hat schon einige Bisswunden. Ich schlage dem Viech mehrmals mit dem Hammer auf den Kopf, bis der Schädel zerbirst. Das Kind weint. Ich weine auch. Dem toten Hund hängt die Zunge raus, und seine Augen sind durchgestrichen wie bei erledigten Charakteren in Comics.
Schwitzend erwache ich. Alle Poren feucht. Die Augen verklebt. Der Mund trocken. Die Kopfschmerzen sind einem leichten Schwindel gewichen, der immer noch nicht wirklich konkrete Gedanken zulässt. Ich setze mich aufrecht, im Fernsehen läuft jetzt eine Tierdokumentation. Ein paar Affen tollen sinnlos an einer Art Klettergerüst, dazu läuft beschwingte elektronische Musik.
Ich erinnere mich. Ich habe Linda gesucht, dachte, sie würde vor dem Klo auf mich warten. Dann bin ich zurück zur Bar, und da war sie auch nicht, auch nicht im Nebenraum, wo getanzt wurde. Ich fragte Thilo, er hatte ebenfalls keine Ahnung, wo sie war. Jemand, der danebenstand, meinte, sie wäre gerade abgehauen. Mein erster Impuls war, rauszurennen und sie zu suchen. Mein zweiter Impuls hielt den ersten Impuls zum Glück für Idiotie und übertrieben. Ich setzte mich schließlich auf einen Barhocker, bestellte noch ein Bier und einen Kurzen, ich hatte keine Lust mehr auf Bewusstsein, eher auf Bewusstlosigkeit. Ich weiß noch, dass zwei Plätze neben mir diese Frau saß, die leise mit sich redete und sich im Spiegel hinter den Schnapsflaschen selbst anstarrte. Beim zweiten Hinsehen erkannte ich Dagmar, eine Schulkameradin von früher.
»Daggi?«
Sie drehte sich wie in Zeitlupe um, gerötete Augen, glasiger Blick. »Kennen wir uns?«
»Ja klar, Mensch, lange her. Gunnar, Gunnar Bäumer.«
Aus ihrer teigigen Gesichtsmasse schälte sich ein Lächeln heraus. Wir unterhielten uns lallend darüber, was wir die letzten Jahre so getrieben hatten. Ich hatte das Gefühl, ich müsste ehrlich sein, also war ich ehrlich. Vielleicht weil Daggi mir egal war.
»In Berlin kack ich grad echt ab. Also, es ist schon schön da, aber in letzter Zeit pflege ich einfach einen ungesunden Lebensstil, der mir zu schaffen macht, dazu das Alter und eine Ziellosigkeit, die kommt, wenn man niemanden hat, mit dem man konkrete Pläne schmieden kann.«
»Kann mir vorstellen, was du meinst, obwohl mein Leben ganz anders verlaufen ist.«
»Erzähl.«
»Ja, verheiratet, Ralf...