Bernstein | Übung in Gehorsam | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Bernstein Übung in Gehorsam


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8031-4415-7
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4415-7
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Eine junge Frau kündigt ihren Job in einer Anwaltskanzlei und zieht zu ihrem Bruder, der von Frau und Kindern verlassen wurde. In dem abgelegenen Dorf in einem nördlichen Land lebten schon die Vorfahren der Familie, es ist ihnen dort nicht gut ergangen. Als jüngstes von zahlreichen Geschwistern scheint es der jungen Frau nichts auszumachen, sich als Haushälterin des Bruders aufzuopfern. Doch nach einer Reise erkrankt er unter ihrer hingebungsvollen Pflege an einer mysteriösen Krankheit. Von den Dorfbewohnern, deren Sprache sie nicht spricht, wird sie argwöhnisch betrachtet. Rätselhafte, beunruhigende Ereignisse häufen sich: Die Kartoffelernte verfault, eine Sau zerquetscht ihre Ferkel. Ein Gefühl wachsender Bedrohung stellt sich ein. Wer kontrolliert hier wen? Wer wird zur Rechenschaft gezogen? Und wofür? Sarah Bernstein gilt dank ihres präzisen, geradezu kaltblütigen Stils als eine der aufregendsten und originellsten Stimmen ihrer Generation. »Übung in Gehorsam« ist in einer verstörenden Gegenwart angesiedelt und viel zu lebendig, um sich auf offensichtlichen Botschaften auszuruhen.

Sarah Bernstein kommt aus dem kanadischen Montreal und lebt mit ihrer Familie in Schottland, wo sie Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet. Neben mehreren Lyrikveröffentlichungen erschienen zwei Romane. 2023 wurde sie als eine von ?Granta's Best of Young British Novelists? ausgezeichnet. Mit »Übung in Gehorsam« stand sie auf der Shortlist des Booker Prize und gewann den kanadischen Giller Prize. Es ist Sarah Bernsteins erstes Buch auf Deutsch.
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Wohl besser noch mal von vorn.

Da war das Haus, umgeben von Bäumen am Ende eines langen Feldwegs, auf einem Hügel oberhalb eines spärlich besiedelten Städtchens. Zu einer Seite begrenzte ein Bach das Grundstück, und in der Nacht drang das Geräusch des unruhigen Fließens durch mein Schlafzimmerfenster herein. Blickte man die lange Auffahrt hinunter, sah man dichten Wald, eine tief im Tal gelegene Ortschaft und dahinter die Berge, höher als alle, die ich je gesehen hatte. Das Grundstück und das Haus darauf gehörten meinem Bruder, meinem ältesten Bruder. Dass es ihn in dieses entlegene Land im Norden verschlagen hatte, das Land der Vorfahren unserer Familie, wie sich zeigte, eines unbedeutenden, aber geschmähten Volkes, das man über Grenzen gehetzt und in Gruben geworfen hatte, verdankte sich zweifellos seinem am Fortschritt ausgerichteten, der Zukunft zugewandten, stets nach Effizienz suchenden Geschichtsbewusstsein, zumindest zum Teil. Praktisch gesehen – und Pragmatismus war für meinen Bruder naturgemäß von größter Bedeutung – war er zudem an einigen durchaus sinnvollen, wenn auch leicht anstößigen Geschäften beteiligt; schließlich war er, zumindest früher einmal, ein Geschäftsmann, der bei erfolgreichen Verkaufs- und Handelsaktionen mitmischte, dem Im- und Export diverser Waren und Dienstleistungen, wobei mir die Details bis heute schleierhaft sind.

Auf seine Bitte hin kam ich für zunächst sechs Monate in das Haus, verließ das Land unserer Geburt, um an diesen kalten und abgelegenen Ort zu ziehen, wo mein Bruder sich ein Leben oder zumindest ein Vermögen aufgebaut hatte, und zwar, wie ich später mit eigenen Augen sehen sollte, ein beträchtliches. Für mich hatte nichts dagegen gesprochen – ich hatte schon immer auf dem Land leben wollen, war im Herbst oft durch die Landschaft rund um meine Geburtsstadt gefahren, um mir die bunten Blätter anzusehen und die frische Luft zu erleben, so anders als die stickige Luft in der Stadt, die bekanntlich die Hauptursache für die hohe Kindersterblichkeit darstellte, nicht dass ich selbst Kinder hätte, nein, nein, aber die Luftqualität und ihre schädlichen Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit beschäftigten mich trotzdem ebenso wie wohl jede andere normale Bürgerin. Zudem gebe es bei mir, wie mein Bruder hervorhob, keine besonderen Verpflichtungen oder Bindungen, die sich nicht ohne weiteres aufkündigen ließen. Das räumte ich ein. Es war nämlich so. Ich hatte sozusagen das Handtuch geworfen. Meine Altersgenossinnen waren längst an mir vorbeigezogen, hatten sich, sei es durch Heimtücke oder überragendes Geschick, ihren Platz im Leben und in ihren Wunschberufen gesichert. Es sei furchtbar, einen Lebenstraum zu verwirklichen, hieß es, dennoch fragte ich mich, warum sie nicht zumindest ein wenig dafür bluten konnten. Sie platzten fast vor Erfolg. Es gab so viel Zeit, und es war nichts zu machen. Meine Willenskraft war nur vage vorhanden. Bei diesem Witz für Eingeweihte war ich außen vor. Eine Weile arbeitete ich als Journalistin, aber irgendwann verließ ich die Nachrichtenagentur, bei der ich beschäftigt war; nicht einmal mit Schimpf und Schande, meine Zeit dort war schlicht zu Ende, nichts, nicht das Geringste markierte meinen Weggang. Meine jahrelangen Bemühungen, einen unbefristeten Arbeitsvertrag zu bekommen, waren vergeblich gewesen; das Vorgehen, so wurde mir erläutert, sei rein bürokratisch, keineswegs persönlich, doch als ich dann, im Verdacht, dass an der Sache etwas faul war, entsprechend reagierte, mich also auf die üblichen bürokratischen Verfahren berief und im Rahmen meiner Rechte einen Antrag gemäß den allgemeinen Datenschutzrichtlinien stellte, betrachtete man das Gesuch als persönlichen Affront und machte mir klar, dass ich mir damit keinen Gefallen tat. In Wahrheit hatte ich mir noch nie einen Gefallen getan. Lautlos räumte ich das Feld. Niemandem tat es leid, dass ich ging. Unmittelbar vor meiner Abreise zum Haus meines Bruders arbeitete ich als Phonotypistin für eine Anwaltskanzlei, ein Job, den ich vom Haus meines Bruders aus, im Land unserer Vorfahren, fortführen würde und bei dem ich glänzte, weil ich schnell und akkurat tippte und wusste, was ich tat. Dennoch spürte ich, dass ich in diesem mit den üblichen juristischen Utensilien ausgestatteten Büro – Aktenordnern und Diplomen, Leder und Holz – nicht willkommen war. Ich wusste, dass meine unschlüssigen Charakterdarbietungen, mein jämmerliches Beharren darauf, tagtäglich im Büro zu erscheinen, nur entmutigend wirken konnten auf die Juristen und Anwaltsgehilfen, deren Stimmen ich zügig, präzise, voller Hingabe, ja voller Liebe in ein Textverarbeitungsprogramm tippte, und so nahmen sie die Ankündigung meines Abschieds unverhohlen freudig auf, gaben mir zu Ehren eine Abschiedsparty, inszenierten eine Art Festessen und überreichten mir üppige Geschenke. Ich brauchte nicht lange, um meine Angelegenheiten zu regeln, ein paar Wochen, höchstens drei Monate, und nun, nach einer Reise ohne Zwischenfälle, war ich also da. Die Landluft, das spürte ich, würde mir gut tun, ebenso die Abgeschiedenheit; wenn mein Bruder mich nicht benötigte, würde ich vielleicht von den verschiedenen Waldwegen Gebrauch machen, die Freiwillige aus der Gegend instand hielten. Ich würde still sein.

Bei meiner Ankunft war mein Bruder noch nicht kränklich. Vielmehr strotzte er förmlich vor Gesundheit, war in der Blüte seines Lebens; seit er sich kürzlich von seiner Frau und seinen jugendlichen Kindern samt deren ständigen Forderungen befreit habe, könne er sich, sagte er, endlich in Ruhe seinen geschäftlichen Unternehmungen widmen. Seine Investitionen zahlten sich allmählich aus, und nun, da seine Familie, von der er sich, wie sich herausstellte, schon lange entfremdet gefühlt hatte, nicht mehr vor Ort und er selbst oft unterwegs sei, brauche er jemanden, der das Haus betreue, sagte er mir eines Nachmittags am Telefon. Und wer sei da besser geeignet als ich, die ich mich schon als Kind höchst effizient und ganz närrisch vor Liebe um den Haushalt meiner Geschwister gekümmert hatte? Als ich nicht sofort antwortete, versicherte er mir, das Haus verfüge, obwohl es sagenumwoben und uralt sei und sich einst im Besitz der angesehenen Anführer des historischen Kreuzzugs gegen unsere Vorfahren befunden habe, über jeden modernen Komfort. Die Annehmlichkeiten zählte er auf, als wäre er der Vertreter eines neuen, zwielichtigen Hotels: High-Speed-Internet, breites Angebot an Streaming-Diensten, freistehende Badewanne, Regendusche, Memory-Foam-Matratze, handgewebte Bettwäsche, Konvektionsofen, Sechs-Scheiben-Toaster, Eismaschine und so weiter und so fort. Während mein Bruder die Aussagen über seine Wohnungseinrichtung nach dieser Logik durchdeklinierte, fiel mir auf, wie auch ihm vielleicht aufgefallen war, dass er kaum etwas über mich wusste und dass ihn dies noch dazu beunruhigte, die Vorstellung, nicht mehr zu wissen, was mir gefallen könnte. Als er zum Beispiel das Wort »Matratze« aussprach, wurde seine Stimme plötzlich panisch, als befürchtete er, einen nicht mehr gutzumachenden Patzer begangen zu haben, dass diese Erwähnung der Matratze für mich unzumutbar, wenn nicht sogar eine Beleidigung wäre. Diese Andeutung eines Risses in der absoluten Autorität meines Bruders wühlte mich auf, mir war klar, dass die Sache mit seiner Frau ihm einen Schlag versetzt haben musste, mein spärliches Wissen über Männer legte nahe, dass sie von Natur aus unfähig waren, allein zu sein, Angst hatten, nicht bewundert zu werden, und das Älterwerden samt seinen Begleiterscheinungen offenbar als persönliches Versagen betrachteten. Ja, ja, sagte ich. Natürlich käme ich. Natürlich!, sagte ich und brüllte dabei fast in den Hörer. Wann hatte ich ihm, meinem ältesten Bruder, oder einem der zahlreichen anderen Geschwister, über deren Verbleib mir gerade nichts bekannt war, je auch nur die kleinste Bitte abgeschlagen? Natürlich käme ich. Selbstverständlich, sagte er, sich wieder fangend, werde er die Reise organisieren und bezahlen, er selbst werde mich mit seinem Wagen, einem soeben erst angeschafften neuen Modell, am Flughafen abholen und mich zum Haus fahren. Und all das tat er auch, nie brach er seine Versprechen, immer hielt er sein Wort, mochte er es auch unbedacht gegeben haben, mochte die Bekundung auch unter Drogeneinfluss oder unter Zwang zustande gekommen sein; jedenfalls war es so, dass er sein Wort nach Belieben und oft gab, ob Freunden oder Fremden, Geschäftspartnern oder Kontrahenten, bei meinem Bruder war etwas einmal Gesagtes so gut wie getan, und damit hatte es sich. Als ich am Flughafen durch die Automatiktüren heraustrat, was mich einige Zeit gekostet hatte, da die Sensoren selbst übertriebene Bewegungen meinerseits zunächst nicht erfasst hatten und ich also warten musste, bis ein anderer, soeben gelandeter Passagier auf dem Weg nach draußen die Türen passierte, stand das Auto meines Bruders bereits mit laufendem Motor an der Straße. Durch das Fenster bedeutete er mir, einzusteigen, und das tat ich.

Auf der rund zweistündigen Fahrt vom Flughafen zu seinem Haus gab mein Bruder zu, dass sich seine Frau, in geheimer Absprache mit den Kindern, nach Lugano davongemacht hatte, wo ihre Familie lebte, ohne ein Wort und, soweit er das beurteilen konnte, für immer und womöglich sogar mitten in der Nacht. Die Ehe sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, sagte mein Bruder, während er durch den Regen fuhr, sie hätten zu viel von sich preisgegeben, zu viel voneinander gewusst, als dass gegenseitiger Respekt möglich gewesen wäre. Hinzu komme, fuhr er fort, dass sie sich wiederholt und abwechselnd auf das Schwerste aneinander versündigt hätten, was schließlich darin gegipfelt sei,...


Sarah Bernstein kommt aus dem kanadischen Montreal und lebt mit ihrer Familie in Schottland, wo sie Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet. Neben mehreren Lyrikveröffentlichungen erschienen zwei Romane. 2023 wurde sie als eine von ›Granta's Best of Young British Novelists‹ ausgezeichnet. Mit 'Übung in Gehorsam' stand sie auf der Shortlist des Booker Prize und gewann den kanadischen Giller Prize. Es ist Sarah Bernsteins erstes Buch auf Deutsch.



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