Bertram | Kindheit zwischen Bombenhagel und Flüchtlingselend | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 544 Seiten

Bertram Kindheit zwischen Bombenhagel und Flüchtlingselend

Von Ahlen nach Riesenburg und zurück

E-Book, Deutsch, 544 Seiten

ISBN: 978-3-7526-3604-8
Verlag: Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Werner Bertram, damals 9 Jahre alt, beschreibt lebendig die Stationen seiner Kindheit in den letzten beiden Kriegsjahren 1944/45 in seiner bombardierten Heimatstadt Ahlen, bei den Großeltern mütterlicherseits im vermeintlich sicheren Riesenburg (Westpreußen, heute poln. Prabuty), auf der Flucht vor den Russen, im friedlichen Everode im Harz bei den Großeltern väterlicherseits und schließlich auf der schwierigen Heimreise in ein glücklicherweise unzerstörtes Zuhause. Er schildert bedrohliche und bedrückende Situationen genauso wie glückliche Momente und tiefe Freundschaften.
Bertram Kindheit zwischen Bombenhagel und Flüchtlingselend jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Bomben auf Ahlen
Am 23. März 1944 erfolgte auf meine Heimatstadt Ahlen ein Fliegerangriff. Im Kreisarchiv Warendorf befindet sich dazu ein Bericht des Bürgermeisters der Stadt Ahlen als örtlichem Luftschutzleiter1 u.a. zu den Auswirkungen des Luftangriffs: „2. Angriffsziel. Der Angriff galt in erster Linie der Zeche Westfalen, dem Güter- und Personenbahnhof sowie den in diesem Bezirk liegenden Rüstungsfabriken.[…] 3. Angriffswirkung. Es wurden abgeworfen: 471 Sprengbomben – 19 Blindgänger -, 531 Flüssigkeitsbrandbomben Personenschäden: 64 innerhalb der LS2-Räume, 121 außerhalb der LS-Räume - davon die Hälfte schwer. Etwa 110 Verwundete wurden ambulant behandelt und sind namentlich nicht erfaßt worden. Verwundete insgesamt: 295 Gebäudeschäden: 208 Wohnhäuser völlig zerstört, 196 Wohnhäuser schwer beschädigt, 268 mittel beschädigt, 377 leicht beschädigt […] An Industrie und Verkehrsanlagen wurden erheblich beschädigt: 4 Industriebetriebe (Rüstungsbetriebe), Eisenbahn, ferner 2 Hauptverkehrsstraßen und Kabelanlagen (Wasser, Gas, Telefon, Energie). Die gesamten Gebäude- und Sachschäden werden auf über 50 Millionen Reichsmark geschätzt.3 Brände: 1 Großbrand, 7 mittlere Brände, 3 kleinere Brände. Ausquartierungen: 4.500 Menschen aus 700 Häusern. […]“ Ich habe den 23.3.1944 als 8-Jähriger folgendermaßen erlebt: Nach dem Alarm um 10:27 Uhr befand ich mich auf unserer Straße, dem Schwagersweg, einer Nebenstraße des Alten Postweges im nördlichen Teil Ahlens, in Höhe des Philipp-Reis-Weges in unmittelbarer Nähe des heutigen Sportplatzes Kleibrink. Hier hatten sich einige Kinder und Erwachsene versammelt, die dem Einfliegen der drei Flugzeugstaffeln von je 20 Flugzeugen zusahen. Die Flugzeuge sammelten sich – entgegen den üblichen Durchflügen, die in der Regel immer zügig in alle möglichen Richtungen erfolgten. Als dann eine Frau sagte, dass sich die Flugzeuge nun wohl für einen Angriff auf Ahlen sammelten, lachte der einzige Soldat in unserer Runde und in Uniform, Nachbar Z., der sich auf einem Heimaturlaub befand, er lachte so stark, dass sein Bauch auf und ab tanzte. Nun waren wir alle beruhigt, musste doch wohl ein fronterfahrener, kampferprobter Soldat mehr von diesen Dingen verstehen als eine einfache Hausfrau. Wir blickten weiterhin hoch zum blauen Himmel und verdammt, war das ein toller Anblick. Die Flugzeuge glänzten im Sonnenlicht und von deutscher Flugabwehr – Flak oder deutschen Jägern – war nichts zu sehen. Der kampferprobte Soldat fügte seinem Lachen nach einiger Zeit noch die Worte hinzu: „Die brauchen ihre Bomben für wichtigere Ziele.“ Er blickte dann wieder nach oben und zog noch einmal an seiner Zigarette. Ich fühlte mich aber irgendwie doch nicht ganz wohl, zumal einige Frauen mit ihren Kindern sich schon langsam in Richtung ihrer Häuser davon gemacht hatten. Plötzlich ging alles sehr schnell. Wir sahen, dass die vorderste Maschine einen silbernen Kondensstreifen abließ, unser Soldat schrie: „In den Keller, das ist das Angriffssignal!“, ließ uns alle stehen und rannte die Straße hinauf in Richtung seines Hauses. Wir anderen, etwa noch sechs, sieben Kinder unterschiedlichen Alters, liefen nun ebenfalls in Richtung unserer Häuser. Im Umdrehen blickte ich noch einmal zum Himmel und sah, wie andere mir später auch berichteten, die Bomben am Himmel hängen. Ich lief, was ich laufen konnte, und hatte, wie sollte es auch anders sein, den längsten Weg. Als sonst nun keiner mehr auf der Straße zu sehen war, lief ich zusammen mit einem anderen Jungen auf das Haus Nr. 6 zu, welches das mittlere Haus auf unserer Straße war. Hier stand auch meine Mutter, die sich Sorgen um meine Schwester Inge machte, die von Bekannten Kartoffeln holen sollte, sie war schon überfällig. Meine Mutter war von Haus Nr. 2, wo wir wohnten, zu einigen Nachbarinnen gegangen, die vor diesem Haus Nr. 6 standen. Bis auf meine Mutter, die mir aufgeregt etwas zurief und, als sie mich schon in ihrer Nähe sah, ebenfalls in den Hausflur und den Keller lief, hatten wir nur meine Schwester bemerkt, die vom Alten Postweg kommend mit ihrem Fahrrad in unsere Straße einbog, uns erblickte, wohl durch das Abbremsen die Kartoffeln verlor, die sich in einem Korb auf dem Gepäckträger befanden, das Fahrrad fallen ließ und ebenfalls in den Keller des Hauses stürzte. Die Straße war in wenigen Sekunden leer gefegt! Wir hatten Glück, dass die Haustür wegen der Aufregung noch offen war, sonst wäre es uns übel ergangen. Einer von uns muss die Tür dann noch geschlossen haben, trotzdem uns nur noch Sekunden bis zur Explosion der Bomben blieben. Im Keller trafen wir auf einen Teil der Hausbewohner, die sich – es gab auch vorsichtige Menschen – dort schon vorher eingefunden hatten. Es dauerte noch einige Sekunden, dann explodierten die ersten Bomben. Mann, wackelte das Haus! Es war ein regelrechter Bombenteppich, der niederging. Die Häuser bebten und wackelten. So muss es bei einem Erdbeben sein! Die Frauen und Kinder schrien alle durcheinander. Staub drang in den Keller, man konnte kaum noch etwas sehen. Die Bomben explodierten endlos weiter. Es war, als ginge die ganze Welt unter. Plötzlich ein Schrei: „Gas! Die Gasleitung!“ Wir hatten auf unserer Straße in den sechs Doppelhäusern schon einen Gasanschluss. Der nächste Schrei einer Frau: „Wir ersticken!“ Ich hatte mein Gesicht in ein Bündel Stroh gepresst, weil man uns auch in der Schule schon einiges zum „Selbstschutz“, so wurde das bezeichnet, beigebracht hatte: bei Explosionen sollte man Mund und Nase verschließen, damit die Lunge nicht platzt! Jetzt verlor der Erste die Nerven, stürzte die Kellertreppe hoch, es waren ca. 5 Stufen bis zur Haustür, eine andere Stimme schrie: „Nicht die Haustür öffnen!“, aber es war zu spät. Alles drängte nun die Treppe hoch zur Haustür. Man kann auch jetzt diese Situation immer noch nicht beschreiben, ohne sich aufzuregen – diese Panik, Todesangst, alles schrie durcheinander, draußen knallte es immer noch. Staub im Keller, keiner wollte lebendig verschüttet werden, Schreie auf der Straße, Mütter riefen nach ihren Kindern, Kinder riefen nach ihren Müttern (die Väter waren überwiegend als Soldat an der Front, einige waren an ihrem Arbeitsplatz). Als ich feststellte, dass alle aus dem Keller stürmten, es waren etwa ein Dutzend Menschen im Keller, lief auch ich durch den dicken Staub die wenigen Stufen zur Haustür hoch und stürmte auf die Straße. Es waren noch knapp 50 m bis zum Alten Postweg. Ich lief nur den anderen hinterher, überholte auch einige, die nicht so schnell waren, erreichte den Alten Postweg, links herum, man brauchte gar nicht hinsehen, ich lief hinter den schreienden Menschen her – alle schrien, keiner hörte hin, jeder wollte sein Leben retten! – und war auf dem richtigen Weg: Richtung Birkenallee. Nach etwa 150 m hatte ich in Höhe des Hauses Ernst das Ende der befestigten Straße erreicht. Ich sah, wie unser Milchmann Willi Bannenberg mit seinen beiden weiblichen Hilfskräften Mädi und Grete darum kämpfte, dass sein Schimmel nicht den ganzen Milchwagen samt Einachshänger umwarf. Mit drei Personen hingen sie am Halfter und schrien um Hilfe. Ich habe nicht gesehen, dass einer half. In der Nähe des Kampfplatzes lag etwas auf der Straße und brannte. Jemand schrie: „Phosphor!“ Das Explodieren der Bomben hatte noch nicht aufgehört. Man hörte die schreienden Menschen, Kindernamen wurden gerufen, Staub und Gestank lag in der Luft. Zum ersten Mal in ihrem Leben erlebten nun viele ein Chaos, ein richtiges, echtes Chaos. Ich war froh, dass ich noch laufen konnte. Die aus den Seitenstraßen kommenden Menschen reihten sich in den Troß der Flüchtenden ein. Wir wussten noch nicht, dass in unmittelbarer Nähe, etwa 60 m entfernt, ein Haus einen Treffer erhalten hatte. Das Haus Ernst, Alter Postweg Nr. 59, war das letzte Haus am befestigten, asphaltierten Postweg, jetzt kam nur noch der Sandweg, eine unbefestigte Sandstraße, die links mit einem flachen, etwa 70 cm breiten Graben und rechts mit einem tieferen Graben angelegt worden war. Die meisten Menschen krochen nun durch den linken Graben, ich auch. Dieser war streckenweise mit Brombeergestrüpp bewachsen. Es ging direkt dadurch, ohne Rücksicht auf Kratzer. Alle blieben in Deckung. Jeder hatte Angst vor den Jabos (Jagdbombern) oder Jägern. Vor mir kroch eine Nachbarin. Sie kam nicht so flott weg. Ich stieß mit meinem Kopf an ihr Hinterteil, aber die Dame wurde nicht schneller, sie rang nach Luft. Als ich aufblickte und sah, dass die Luft rein war – kein feindliches Flugzeug in unserer Nähe –, stellte ich fest, dass vor unserer Nachbarin einige Meter...


Bertram, Werner
Werner Bertram (1935 - 2020) war viele Jahre im Ahlener Stadtrat tätig. Für den Aufbau des selbstverwalteten Jugendheims "Alte Schule Tönnishäuschen", in dem neben den Jugendlichen des kleinen, abgelegenen Ortsteils Tönnishäuschen, darunter seine eigenen drei Kinder, auch Musikgruppen und Vereine ein Zuhause bekamen, erhielt er zusammen mit seiner Frau das Bundesverdienstkreuz.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.