E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Bessora Ihr werdet glücklich sein
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7795-0725-3
Verlag: Peter Hammer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-7795-0725-3
Verlag: Peter Hammer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bessora, geboren 1968 in Brüssel, wuchs in Europa, den USA und Afrika auf. Nach einigen Jahren im internationalen Finanzwesen in Genf studierte sie Anthropologie und promovierte an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales. Seit 1999 veröffentlicht sie Kurzgeschichten und Romane. 'Ihr werdet glücklich sein' (Orig.: 'Les Orphelins', JC Lattès, Paris) war Finalist beim Prix Ouest France 2021 und beim Fünf-Kontinente-Preis 2021. Bessora wurde 2022 zum Chevalier des Arts et des Lettres ernannt.
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MIT ZERZAUSTEN HAAREN, die Füße in unseren alten Tretern, sitzen wir mit Arno vor Frau Pfefferlis Schreibtisch. Drei Gerippe gegenüber einem Skelett. Nicht umsonst nennt man sie die Elster! Sie steckt in ihrer schwarz-weißen Uniform. Hinter ihr eine Frau in einem weißen Kittel, die mit den Fingern in ihren Taschen wühlt. Ein paar Stifte fallen heraus. Sie heißt Anna, ist fünfunddreißig Jahre alt und Ärztin. Die drei Gerippe, die vor Frau Pfefferli sitzen, sehen Anna zum ersten Mal. Sie haben ganz schön Schiss, vor allem du und ich, die beiden Großen.
Frau Pfefferli schiebt ihre mit Draht geflickte Brille hoch. Sie rutscht ihr trotzdem wieder auf die Nase. Neben ihr stapelt sich ein Aktenberg bis zur Decke. Auf der anderen Seite liegen drei Akten. Auf der ersten steht mein Vorname, gefolgt von einem S.
»Wolfgang, Arno, Barbara …«, singt die Elster. »Ihr seid ausgewählt worden.«
Ich verstehe nicht. Genauso verwirrt wie ich, starrst du auf eine Tafel an der Wand. Frau Pfefferli hat dort ihre Sammlung Ansichtskarten aus der Schweiz aufgehängt, über einem Regal mit Märchenbüchern. Frau Pfefferli bemerkt deinen träumerischen Gesichtsausdruck: »Barbie?« Sie wendet sich an dich, damit du dich auf das konzentrierst, was sie uns erzählt.
Arno hingegen baumelt unter dem Tisch mit den Beinen und lacht. Er darf unaufmerksam sein, er ist erst drei Jahre alt. Wir zwei, wir sind älter. Ich drehe das Gesicht zum Fenster. Draußen, wo sich das Bauernhaus abzeichnet, in dem Heidi wohnt, regnet es.
Heidi. Ich habe sie neulich gefragt, ob sie mich heiratet, aber wenn man acht Jahre alt ist, geht das anscheinend nicht. Die Hände in den Taschen voller Stifte vergraben, sagt Anna: »Eure Testergebnisse sind ausgezeichnet.« Sie hat einen komischen Akzent. »Aus diesem Grund«, fährt sie fort, »seid ihr vom Dietse Kinderfonds ausgewählt worden.« Es ist einfach unbegreiflich, was sie sagt. Dietse Kinderfonds, das bedeutet Deutscher Kinderfonds. Völliger Blödsinn.
In meinem Rücken, hinter der geschlossenen Tür, ertönt Applaus. Anna hört es mit Entzücken. Frau Pfefferli streicht sich über ihr weißes Haar und wartet darauf, dass wieder Ruhe einkehrt, aber Arno fängt auch an zu klatschen. Wir beide, wir rühren uns nicht. Der Lärm verstummt, und die Bürotür öffnet sich halb. Ein brauner Kopf wagt sich vor. Es ist Thomas. Mein Ehrenwort … Er hustet, ein schleimiger Husten: »Bin ich auch ausgewählt worden, Frau Pfefferli?«
Er sagt den Namen der Elster, indem er wie ein Vogel pfeift und das R rollt. Die Elster erhebt sich langsam von ihrem Stuhl und, nachdem sie sich den Schnabel freigeräuspert hat: »Würdest du bitte die Tür schließen, Thomas?«
»Bin ich ausgewählt worden?«
»Du bist zu alt für eine Adoption … Schließ die Tür. Sofort. Bitte.«
Er ist dreizehn, wir acht, Arno ist drei. Mit dreizehn Jahren sind Waisen, von Ausnahmen abgesehen, altes Eisen. Thomas ist traurig darüber, dass er altes Eisen ist. Er rührt sich nicht vom Fleck. Die Elster krümmt den Schnabel. »Es tut mir leid, Thomas. Wenn ich könnte … aber wir haben die Anweisung, nur arische Kinder zu berücksichtigen.«
Anna nimmt die drei Akten auf dem Schreibtisch der Elster an sich, während Frau Pfefferli eine Augenbraue hochzieht und dreimal wiederholt: »Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.«
Der Regen wird stärker, und Frau Pfefferli bedeutet uns, ihr Büro zu verlassen. Anna verabschiedet uns mit einer liebevollen Geste. Wir halten uns an den Händen und gehen zur Tür. Arno ist vergnügt, ich beiße mir auf die Lippen, ich glaube, vor Angst oder weil ich meinen Namen verloren habe. Du machst dir in die Hose. Für uns beide machst du dir in die Hose.
Zwei winzige Koffer stehen zu unseren Füßen auf dem Bürgersteig vor dem Waisenhaus. Nicht stolz. Es tut mir weh, dass wir dort sind. Du trägst ein zu kurzes Kleid und ich zu enge Schuhe. Heidi kommt angerannt, das macht mich glücklich. Sie ist von ihrem Bauernhof herbeigestürmt, mit ihren lockigen Haaren, ihrer braunen Haut, ihren nackten Füßen und ihrem schmutzigen Kindergesicht.
»Geht ihr auf den Ball?«
»Wir fahren nach Afrika«, sage ich.
Ich verziehe das Gesicht zu einer fürchterlichen Grimasse, als ob Löwen mich fressen wollten. Heidi nimmt meine Hände. Ihre schmutzigen Fingernägel haben mich nie davon abgehalten, dass ich in sie verknallt bin. Dich widert das an. Ich bekomme eine Gänsehaut, und sie schaudert es: »Kann man mit dem Fuhrwerk nach Afrika fahren?«
Du presst die Lippen zusammen, die Zähne, die Fäuste.
»Mit dem Fuhrwerk? Das ist zu weit … Wir fahren mit dem Auto.«
»Mit einem Auto?«, ruft Heidi aus.
Außer dem Trecker ihres Papas sieht man nicht viele Fahrzeuge in der Gegend.
Du starrst auf die lange, leere Straße. Sie hat dich ebenso im Blick. Sie ist schmal und kommt von weit her. Sie hat viele Kilometer zurückgelegt, um zu uns zu gelangen, und führt noch viel weiter, aber nicht bis nach Afrika.
»Danach fahren wir mit einer Fähre«, sage ich.
Heidi berührt meine Wangen. »Bis nach Afrika?«
»Vorher sind da noch Züge und Schiffe.«
Heidi kneift mich in meine Wangen, das erregt mich, ich erröte. Ich bin so verliebt in sie! Hinter uns, vom Fenster des Waisenhauses aus, beobachtet uns eine Bande kleiner Racker. In der Mitte Thomas, und plötzlich bleibt ihm der Mund offen stehen. Er erblickt, noch in der Ferne, den Schatten eines Autos. Uns ist unheimlich, wie es immer größer wird, je näher es kommt, und wir sehen, wie es anschwillt, als wäre es ein Menschenfresser, nur mit Rädern. Plötzlich ist sein Motor zu hören. Ein anderes Geräusch dringt in meine Ohren. Es ist das Herz, ich spüre sein Hämmern in allen Fasern meines Körpers.
Der Motor erstirbt, als das Auto neben uns anhält. Du atmest schnell, immer schneller, so schnell, dass dir die Luft wegbleibt. Heidi nimmt langsam die Hände von meinem Gesicht, sie ist ganz blass, als Arnos Lachen erschallt. Da kommt er aus dem Waisenhaus, auf dem Arm von Regine.
Tante sollen wir sie nennen, denn sie wird auf der ganzen Reise unsere Pflegemutter sein. Überall gut gepolstert, ist es für Arno sehr behaglich bei ihr. Sie trägt seinen Koffer für ihn, während er über das ganze Gesicht lacht und mit dem Schild spielt, das auf seine Brust geheftet ist.
Arno Rüff, geboren am 24. Juni 1945.
»Los, meine Kleinen«, sagt Tante Regine.
Ihr Akzent ist komisch, es ist derselbe wie der von Anna.
Regine sagt, dass sie aus Afrika kommt. Aber deutscher Abstammung ist. Hat sie vielleicht deswegen rote Haare? Spricht sie deswegen holländisch?
Die Autotür öffnet sich weit und gibt den Blick auf Sitze aus braunem Leder frei. Sie sehen kalt aus. Ehrlich, sie laden dich nicht ein einzusteigen. Ich schließe Heidi in die Arme, sie drückt mich an sich, wir klammern uns aneinander, und dann presst sie ihre Lippen auf meinen Mund. Wenn du die Augen schließt, siehst du besser und fühlst mehr. Stell dir vor, was ich fühle, und multipliziere es mit zweihundert. Ich kneife den Hintern zusammen, um zu verhindern, dass dieser Augenblick vorübergeht. Möge er ewig andauern und nie unterbrochen werden. Doch jemand zerrt mich in die andere Richtung.
»Los, mein Kleiner!«
In Heidis Armen leiste ich Regine Widerstand. Schließlich lässt sie mich los, weil die Elster am Fenster schimpft: »Heidi, willst du wohl Wolf in Ruhe lassen oder muss ich deinen Papa rufen?«
Vor ihrem Papa scheint Heidi große Angst zu haben. Du, du hast schon auf dem eiskalten Sitz Platz genommen, und wortlos flehst du mich an, mich zu dir zu gesellen. Es ist wahr, nie sind wir getrennt gewesen, und wir haben das Glück, dass wir zusammenbleiben können. Heidi steht regungslos da und flüstert: »Ich werde dich nie vergessen, Wolfie …«
Ich bin sehr berührt. Doch ich sehe mich, wie ich zu dir einsteige. Ich sehe, wie das Auto losfährt. Ganz so, als wäre ich nicht anwesend, weißt du?
Rittlings auf den Knien von Tante Regine, winkt Arno aus dem Fenster den Kühen zu. Stocksteif sitzt du da und blickst starr geradeaus. Bei mir ist es umgekehrt. Ich drehe mich nach hinten um.
Heidi ist immer noch da, aber hinten, wo sie Vergangenheit ist. Sie wird klein in der Heckscheibe, ganz klein, immer kleiner.
Als müsste sie verschwinden.
Und dann ist Heidi ein Nichts geworden.
***
Der Wagen hält vor einem Bahnhof, der Hannover heißt. Tante Regine steigt als Erste aus, zusammen mit Arno. Er erbricht sich auf den Bürgersteig, während der Fahrer die hintere Tür öffnet. Auf der anderen Seite, da ist eine neue Welt.
Aber du und ich haben keine Lust auf ein Abenteuer. Tante Regine brüllt: »Kommt schon, meine Kleinen … ihr wollt doch den Zug nicht verpassen!«
Ich glaube, doch.
Auf dem Bahnhofsplatz sind Kinder versammelt: Ich zähle achtzig, aber ich zähle noch einmal. Das Ergebnis stimmt. Achtzig Kinder springen überall herum. Aufgeregt wie Flöhe. Wir beide rühren uns nicht vom Fleck, wir sind apathisch wie Bettwanzen.
»Steigt sofort aus dem Auto aus!«, schimpft Tante Regine.
Erwachsene schwirren wie in einem Bienenstock um die Kinder herum. Der Lärm ermuntert uns nicht dazu auszusteigen. Laut Tante Regine sind diese Menschen,...




