Binder / Drerup / Oelkers | Pädagogische Debatten | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 232 Seiten

Binder / Drerup / Oelkers Pädagogische Debatten

Themen, Strukturen und Öffentlichkeit
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-17-036042-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Themen, Strukturen und Öffentlichkeit

E-Book, Deutsch, 232 Seiten

ISBN: 978-3-17-036042-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie tickt die Pädagogik? Wer das wissen will, muss sich ihren Debatten zuwenden. In den Debatten wird deutlich, wie die Pädagogik ihre Umwelten beobachtet, wie Themen erzeugt werden, wie Debatten verlaufen und welche Konsequenzen das zeitigt. Die Debatten sind dabei nicht nur Orte der Meinungs- und Urteilsbildung, zeigen nicht nur Kontinuitäten und Brüche gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, sondern sind zugleich Seismographen im Umgang mit kulturellen Deutungsmustern und Machtkonstellationen. Pädagogische Debatten bilden dabei nicht nur fachinterne Verarbeitung gesellschaftlicher Problemlagen; sie prägen zugleich auch die Problemdefinitionen einer Gesellschaft.

Prof. Dr. Ulrich Binder: Pädagogische Hochschule Ludwigsburg. Prof. Dr. Johannes Drerup: Technische Universität Dortmund. Prof. em. Dr. Dr. h.c. Jürgen Oelkers: Universität Zürich.
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1          Auffälligkeiten der Debatten im ersten Überflug


Die im Rahmen des Datenkorpus untersuchten jüngeren pädagogischen Fachdebatten sind von einigen Auffälligkeiten gekennzeichnet, die sie von solchen früherer Jahre unterscheiden.

1.1       Das (momentane) Verschwinden von Debatten-Klassikern


Zunächst ist das Fehlen von klassischen Auseinandersetzungen augenfällig. Einige Beispiele seien erwähnt. So spielen Debatten zum Anlage-Umwelt-Problem, die bislang immer wieder die Diskurse mitprägten (vgl. Lenz 2005), keine Rolle. Ebenso fehlen die herkömmlichen Spielarten der Kindheit-im-Wandel-Thematisierungen (vgl. Kränzl-Nagl/Mierendorff 2007; Baader/Eßer/Schröer 2014)5, wie auch der Klassiker Offener vs. Frontalunterricht (vgl. Schirmer 2005) samt der Frage nach Beurteilungsformen (vgl. Jachmann 2003) lediglich dahinlodert. Auch Lerntheorien (vgl. Faulstich 2013) spielen keine ausdrückliche Rolle.

Die bekannten Debatten zu Denkschulen gibt es (derzeit) ebenso nicht; weder werden zusammenhängend anthropologische, phänomenologische oder bildungsphilosophische Entwürfe debattiert noch wird die Frage nach geistes-, kultur-, human- oder sozialwissenschaftlicher Fassung thematisch, dito fehlen Auseinandersetzungen über Sozialisations-, Personalisations- oder Handlungstheorien, über Konstruktivismus (vgl. Terhart 1999), Poststrukturalismus (vgl. Fritzsche/Hartmann/Schmidt/Tervooren 2001) oder Neurobiologie (vgl. Becker 2014).

Auch vor kurzem noch hitzig debattierte Bereiche wie Burnout, nachhaltige Bildung, Wissensgesellschaft, Gouvernementalität oder Schulleistungsstudien fehlen weitgehend. Kaum vorhanden sind auch zusammenhängende Diskussionen von Forschungsmethoden, die bis vor kurzem immer wieder zu beobachten waren (etwa mit Bezug auf die Biografieforschung, ethnografische Methodenarsenale, Diskursanalyse, Grounded Theory usw.). Und disziplinäre Identitätsfragen – man denke an die Großdebatten von Allgemeiner Pädagogik (vgl. Kauder 2010; Binder 2015b) und von Sozialpädagogik (vgl. Birgmeier 2012), auch von Allgemeiner Didaktik (vgl. Rucker 2017; Coriand 2017), wie sie vor zwei, drei Jahrzehnten dominierten – spielen nur noch vereinzelt eine Rolle.

Als einzige der bekannten Themen halten sich das des Theorie-Praxis-Verhältnisses – allerdings ohne den Klassiker der Wert(freiheits)frage – und das der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität (zu beidem später).

1.2       Das Fehlen von (anzunehmenderweise) brisanten Themen


Einige der Gegenstände, von denen man annehmen könnte, an ihnen entzünden sich Debatten – von explizit bildungspolitischen über Finanzierungsfragen bis zu Schulfächerinhalten und -verhältnissen samt Lehrplanarbeit – werden allenfalls mitdebattiert, stellen aber keine eigenen Diskurse dar. Auch die massenmedialen Besprechungen von Pädagogischem, etwa in der Ratgeberliteratur (vgl. Schmid 2011), führen nicht zu Fachdebatten. Das betrifft auch solche zum Lehrerimage (vgl. Bastian/Combe 2007) oder zur Wertigkeit von Bildungsabschlüssen (vgl. Schneider 2015), und nicht einmal die jüngsten medialen Thematisierungen von Brennpunktschulen und von Gewalt gegen Lehrkräfte münden ausdrücklich in Fachdebatten.

Am stärksten fällt aber das diskursive Fehlen des Komplexes ›Digitalisierung‹ auf. Anderswo so heftig debattierte Entwicklungen wie die Algorithmisierung, Fake News, Social-Media-Mobbing usw. lassen sich (noch) nicht als explizites und durchgängiges Debattenthema beobachten.6 Nicht einmal die in bildungspolitischen Diskursen so forcierte ›Digitalisierung der Schule‹ wird ausführlich, z. B. in didaktischer oder professionaler Hinsicht, debattiert.

1.3       (Fast) keine Dualismen, oder: multikonfrontativ plus contraria sunt complementa (›Gegensätze ergänzen einander‹)


Im bisher Aufgezählten deutet es sich schon an: Wie in den meisten anderen gesellschaftlichen Bereichen ist auch in dem der Pädagogik schon beim ersten kursiven Überschauen der Debattenlage ein (vorläufiges) Ende der bisherigen Großen Erzählungen samt ihrer strukturellen und ideellen Ordnungen und handlungsleitenden Dispositive zu erkennen. Klassische Fronstellungen verflüchtigen sich entweder oder werden von neuen Lagerbildungen abgelöst. Insgesamt sind die ganz großen Demarkationslinien nicht mehr auszumachen. Es finden sich kaum mehr Debatten, die hitzig Gewährsleute oder -linien gegen disziplinintern stabilisierte Gewährsleute oder -linien stellen. Weder in Fachzeitschriften noch in Monografien und Sammelbänden wird auffällig oft/stark mit Einzelakteuren und dann z. B. mit dem Poststrukturalismus gegen den Neuhumanismus, mit der Soziologie gegen die Geisteswissenschaft, mit alltagshistorischen gegen ideengeschichtliche Verständnisse usw. argumentiert. An die Stelle von Eindeutigkeiten tritt (bisweilen verwirrende) Heterogenität.

1.4       Neuformierungen und ›friedliche‹ Ko-Existenzen


Das führt auch zu neuen Allianzen. Verschiedene Neuformierungen sind zu beobachten, wobei der Niedergang von Links-rechts-Schubladierungen als erstes ins Auge sticht. Konservierungen werden nun auch als progressiv (mit der Zeit gehen ist ein Zurückgehen zum Alten) oder Progressionen als konservativ (mit der Zeit gehen ist ein Angleichen des Alten) gehandelt. Auf einen beispielhaften Punkt gebracht: Eine Kritische Pädagogik linker Provenienz kann als Ausdruck eines neokonservativen Backlash betrachtet werden bzw. eine konservative als radikale Erneuerin. Bisherige handfeste, ordnende Beliefs verschwinden, sowohl in der Debattenstruktur als auch in der Beobachtung ebendieser.

Aber auch andere Bipolaritäten lösen sich auf. Die bis vor kurzem noch heftig geführte Debatte zum Verhältnis von theoretischer und empirischer Pädagogik hat deutlich an Brisanz verloren ( Kap. 3.2.1). Der Unterschied zwischen Innen und Außen und folglich die Frage der Ab- und Ausgrenzung von anderen Disziplinen oder Systemen wird nicht mehr explizit thematisch (die Ausnahme bildet der Bereich ›Ökonomie‹; Kap. 2.4); »Oppositionswissenschaften« (Prange 2006, S. 311), die offensiv gegen die wissenschaftliche Wahrheits-Codierung optieren (vgl. dazu Binder 2016a), finden sich zwar ebenso noch wie Gesinnungspädagogiken (s. z. B. die Überzeugungs- und Haltungsdirektiven im Genderkontext), aber autoritative Ideologien geraten immer mehr ins Wanken (s. z. B. im Inklusionskontext).

1.5       Neuer – nicht nur neuerlicher – Wandel


Dieser erste kursive Überblick legt nahe, dass sich derzeitige pädagogische Debatten als Ausdruck und Mittel eines größeren und bisweilen ungekannten Umbruchs platzieren. Selbstverständlich sind es auch bei älteren pädagogischen Debatten stets Irritationen, die – genau das sind ›Debatten‹ – erstens in eine operable Form gebracht, zweitens am systemeigenen Bestand geprüft und drittens in eine Art der Auflösung überführt werden. Doch bei den jüngsten, soviel zeigt schon die erste Überschau, kommen bewährte Operationsangebote in der Bearbeitung von Diskrepanzen zwischen Umwelten und Disziplin oder innerdisziplinären Belangen abhanden. Stabilität ist ein Luxus, den es explizit und extensiv derzeit nicht zu geben scheint. Herkömmliche, bisher eingesetzte Patterns von Fear & Hope (Anlass & Aussicht oder Problematisierungs- & Problembearbeitungsmodi; vgl. Popkewitz 2008) verlieren an Plausibilität und Gültigkeit. Das prägt, davon ist auszugehen, die Debatten in Gegenstandsauswahl und Beschaffenheit und Leistung.

Boxenstopp a: Abwärts, aufwärts, geradeaus. Drei Deutungsrahmen für ›Wandel‹


An dieser Stelle sei exkursiv an drei historisch stabile kulturelle Möglichkeiten, Wandel allgemein zu interpretieren, erinnert, um im Hinblick auf den weiteren Untersuchungsgang zu fragen, welche Varianten in den jüngsten pädagogischen Debatten zur Anwendung kommen könnten.

Der erste Deutungsrahmen, in den Wandel ganz allgemein gestellt werden können, ist der einer Degenerationslehre. Geschichte wird in dieser Tradition als ein gleichsam kontinuierlicher Verfallsprozess interpretiert. Die berühmteste Version ist zweifellos die Erzählung vom Garten Eden respektive die Vertreibung aus diesem Paradies.

Es folgt eine lange Reihe an Varianten dieses Motivs. Platon z. B. verarbeitet es in mehreren Versionen, Ovid zeichnet für die römische Antike das Bild einer...


Prof. Dr. Ulrich Binder: Pädagogische Hochschule Ludwigsburg. Prof. Dr. Johannes Drerup: Technische Universität Dortmund. Prof. em. Dr. Dr. h.c. Jürgen Oelkers: Universität Zürich.



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