Bleibtreu Die letzten Tage der Wespen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-942291-86-6
Verlag: TZ-Verlag & Print GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Krimi
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-942291-86-6
Verlag: TZ-Verlag & Print GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vera Bleibtreu alias Dr. Angela Rinn lebt seit 1993 in Mainz und kann sich seitdem ein Leben ohne Rhein, Wein und Meenzer nicht mehr vorstellen. Ihre Brezeln verdient sie als Pfarrerin in Mainz Gonsenheim. - Sie ist Mitglied der Autorengruppe Mörderisches Rheinhessen. 'Die letzten Tage der Wespen. Ein Krimi' ist nach 'Schneezeit. Ein Krimi' ihr vierter Krimi. Es ist der zweite, der von ihr im Leinpfad Verlag erscheint.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Erster Sonntag
Die Wespen saßen fast bewegungslos auf der Fensterscheibe. Es waren viele. Er zählte sie. Elf Wespen. Von seinem Schreibtisch aus konnte er sie sehr gut beobachten. Wie elegant sie aussahen. Noch jetzt, da ihre Tage gezählt waren, hatten sie nichts von ihrer Schönheit eingebüßt. Ihre schlanken Körper pressten sich an die Scheibe. Die Novembersonne hatte das Glas erwärmt. Sie spürten gewiss, dass es innen noch wärmer war. Er hätte das Fenster öffnen können. Er tat es nicht. Er genoss es vielmehr, sie so ungestört ansehen zu können. Er sah gerne genau hin und es ärgerte ihn, dass das selten gut möglich war. Menschen war es unangenehm, wenn sie beobachtet wurden. Er mochte eigentlich keine Sonnenbrillen, weil sie das Licht verfälschten und auch die Sicht leicht trübten, aber er hatte sich trotzdem eine zugelegt. So konnte er zumindest an sonnigen Tagen ungestört seiner Leidenschaft nachgehen. Er hatte festgestellt, dass viele Menschen über einen sechsten Sinn verfügten. Sie spürten, wenn sie jemand mit Blicken abtastete, selbst dann, wenn sie der Person den Rücken zugewandt hatten. Er hatte öfter bemerkt, dass die Objekte seiner Beobachtung sich plötzlich unruhig bewegten, sich umdrehten, sich forschend umsahen. Er schaute dann hastig weg, aber das war auffällig, und häufig erntete er erboste Blicke. Vor allem von Frauen.
Diese Wespen waren auch Weibchen, aber sie wehrten sich nicht dagegen, beobachtet zu werden, sie waren ganz auf die letzte Wärme des Jahres konzentriert. Es blieben ihnen nur noch wenige Tage, vielleicht sogar nur Stunden. Gut möglich, dass es heute Nacht frieren würde, der Tag war klar und wolkenlos, die Nacht sollte es auch werden. Beim ersten Frost mussten die Tiere sterben.
Erstaunlich, dass es so viele waren. Die Königin war gestorben, der Wespenstaat hatte sich aufgelöst. Diese Wespen waren Individualistinnen, sie sammelten den Nektar nur noch für sich, nicht mehr für die Jungköniginnen, die ebenfalls schon längst das Nest verlassen und sich ein geschütztes Versteck gesucht hatten. Zum ersten Mal in ihrem Leben waren sie wirklich frei, ohne Aufgaben, und das bedeutete, dass das Ende ihres Lebens nahte. Er dachte darüber nach, dass das bei Menschen im Grunde ähnlich war. Richtig frei waren sie erst im Moment des Sterbens, wenn es nur noch um sie ging und um ihren letzten Atemzug. Wenn alles Sorgen und Nachdenken und alle Tätigkeiten und auch die täglichen Freuden zum Ende gekommen waren. Warum fürchteten die Menschen diese letzte Freiheit? Es war im Grunde ein großes Geschenk.
Eine der Wespen bewegte sich leicht. Wie schön sie gefärbt war, gelb und schwarz in hartem Kontrast. Es waren Warnfarben und in der Tat könnte sie ihn noch stechen. Doch das Tier war so träge, dass es sich kaum bewegte, als er seine Fingerspitze an die Scheibe führte. Er überlegte kurz, ob er das Fenster doch öffnen sollte. Er könnte eine oder mehrere Wespen erschlagen und sie unter dem Mikroskop studieren. Er entschied sich dagegen. Er mochte keine Brutalität und er mochte es nicht, wenn Schönheit zerstört wurde. Sein Schlag würde den so wunderbar geformten Körper zerbrechen. Diese Gewalt war ihm fremd, ja widerlich. Es war ja gerade die Schönheit der Schöpfung, die ihn faszinierte, ja, die er liebte und verehrte. Deshalb sah er auch gerne so genau hin, fuhr mit seinen Blicken die Linien eines Gesichts, die Biegung eines Nackens, den Schwung einer Hüfte nach. Am liebsten hätte er es mit allen Sinnen getan, mit seinen Fingern, seiner Zunge, hätte geschnuppert, wie die Haut duftet. Es war wirklich schade, dass Menschen das nicht mochten. Er nahm ihnen doch nichts. Im Gegenteil, er schenkte ihnen seine Bewunderung. Wer weiß, ob sie ohne ihn jemals erfahren hätten, wie wundervoll sie waren, wie kostbar und einzigartig, wie zauberhaft schön.
Kommissarin Tanja Schmidt betrachtete die Kleidungsstücke, die in die Äste eines Apfelbaumes gehängt waren. Ein BH flatterte im Wind, ein T-Shirt hatte sich um einen Ast gewickelt, Socken waren über Astenden gestülpt worden, eine Jeans mit Wäscheklammern in die Zweige geheftet, ein Trenchcoat war mit den Ärmeln in die Zweige geknotet. Tanja zog die Augenbrauen zusammen. Irgendetwas an dieser Präsentation gefiel ihr ganz und gar nicht. Nachdenklich legte sie ihr Fahrrad ins Gras. Sie war von Mainz über die Theodor-Heuss-Brücke auf die andere Rheinseite geradelt, hatte die Fähre nach Ingelheim genommen und war nun auf der Höhe des Campingplatzes. Es war eher ein Zufall, dass sie den Schlenker vom Fahrradweg nahm. Sie wollte zu dem Spazierweg, auf dem sie sich vor drei Monaten mit Wolfgang so sehr gestritten hatte, dass ihre Beziehung seitdem auf Eis lag. Er war, wie immer, ruhig geblieben, was ihren Zorn nur angefacht hatte. Erbittert hatte sie ihm vorgeworfen, sie dominieren zu wollen, es immer besser zu wissen. Wolfgang hatte zuletzt nur noch hilflos mit den Schultern gezuckt, kein Wort mehr gesprochen, er hatte sie schweigend mit dem Auto nach Hause gefahren und sich seitdem nicht mehr bei ihr gemeldet. Tanja stellte selbstkritisch fest, dass sie seit ihrer Fehlgeburt noch ungerechter zu Wolfgang gewesen war als zuvor. Es war sowieso ihr Problem, dass sie sich viel zu leicht durch ihren Zorn aus der Fassung bringen ließ und dann die Kontrolle über sich verlor. Ihr Kollege Arne Dietrich kannte ihre Schwäche und wusste, wie er sie in die Schranken weisen konnte. Aber eine Liebesbeziehung war keine Dienstpartnerschaft und was mit Arne funktionierte, ging mit Wolfgang eben nicht. Der konnte sie nicht an Paragrafen erinnern, nur an ihre gemeinsame Geschichte. Seit dem Verlust des Kindes war es nicht besser geworden. Die Hormonumstellung nach der Fehlgeburt hatte sicher verstärkend gewirkt, aber nach mehr als einem halben Jahr konnte sie ihren Jähzorn nicht länger auf die Hormone schieben. Allerdings hatte sie auch nichts getan, um sich mit dem Verlust ihres Babys auseinanderzusetzen. Ihre Freundin, Pfarrerin Susanne Hertz, hatte ihr dringend geraten, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen oder ein paar Stunden Therapie in Anspruch zu nehmen. Sie hatte empört abgelehnt. Sie war stark und unabhängig und brauchte keine Hilfe. Sie hatte es auch vermieden, mit Wolfgang über das Thema zu sprechen, dabei war es für ihn besonders hart gewesen. Er hatte erst davon erfahren, dass sie sein Kind erwartete, als er nach dem Mordanschlag auf sie im Krankenhaus um ihr Leben bangte. Sie wusste genau, wie sehr er sich ein Kind wünschte, und so hatte er an diesem Abend alles in wenigen Stunden zu verkraften: Die Nachricht seiner Vaterschaft, die verzweifelte Hoffnung, sie würde das Kind behalten können und die Trauer über sein totes Baby. Er hatte ihr nie Vorwürfe gemacht, dass sie ihm nichts von der Schwangerschaft erzählt hatte. Das hatte ihren Zorn merkwürdigerweise nur verstärkt, und das bestimmte auch diesen entscheidenden Spaziergang am Rhein, in der Nähe von Budenheim. Im Rückblick erschien es Tanja, als ob Wolfgang einfach kapituliert hatte. Sie litt sehr darunter, war aber zu stolz, sich bei Wolfgang zu melden. Heute, an ihrem freien Sonntag, wollte sie sich mit einer Fahrradtour ablenken, dem kalten Novemberwetter trotzen und mit dem Fahrtwind auch frischen Wind in ihre Gedanken bringen. In Heidenfahrt fuhr ihr die Erinnerung an den Spaziergang mit Wolfgang wie ein Dolchstich ins Herz. Und Tanja wäre nicht Tanja gewesen, wenn sie diesen Dolch nicht noch ein paarmal in der Wunde hätte drehen müssen: Also bog sie mit dem Fahrrad vom Weg ab und suchte den Ort, an dem sie Wolfgang offenbar zu sehr provoziert hatte, als dass er einen Weg zurück zu ihr hätte finden können.
Der Apfelbaum stand etwas abseits des Spazierwegs. Ein alter Baum, erkennbar nicht mehr landwirtschaftlich genutzt, seine Früchte lagen auf dem Boden, manche hingen noch in den Ästen. Dazwischen die Kleidungsstücke. Tanja betrachtete sie genauer. Wer auch immer die Kleidung in die Äste gehängt hatte, er oder sie hatte es nicht gestern getan. Die Teile hingen schon länger hier, alle waren feucht, mit Spuren von Trockenrändern. Als sie mit Wolfgang hier spazieren gegangen war, hatten die Kleidungsstücke noch nicht im Baum gehangen. Sie hätte es bemerkt, Berufskrankheit. Sie beobachtete ihre Umgebung stets sehr genau. Während ihrer Dienstzeit in Rumänien hatte ihr das mehr als einmal das Leben gerettet. Sie hätte diesen merkwürdigen Apfelbaum auf jeden Fall wahrgenommen, so wie sie ihn jetzt wahrgenommen hatte, trotz ihrer schweren Gedanken. Tanja holte ihr Handy aus ihrem Rucksack und fotografierte den Baum. Sie fragte sich, warum sie diese Inszenierung so beunruhigte. War es die Sorgfalt, mit der die Stücke im Baum drapiert waren? Nichts wirkte zufällig, sodass es auf keinen Fall ein Streich von Jugendlichen sein konnte. Außerdem schien es, als ob die Kleidung einmal hochwertig gewesen war, die Stücke wirkten unbeschädigt. Tanja konnte die Markennamen an einer Jeans und dem Trenchcoat erkennen, es handelte sich also nicht um Abfallentsorgung. Warum wollte jemand gute Kleidung nicht mehr haben und drapierte sie an einem alten Apfelbaum?
Tanja verfügte über eine ausgezeichnete Intuition. Sie fühlte jetzt deutlich, dass von der...




