E-Book, Deutsch, 334 Seiten
Bluhm Das Geheimnis des Hofnarren
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95824-386-6
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 334 Seiten
ISBN: 978-3-95824-386-6
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Detlef Bluhm wurde 1954 in Berlin geboren. Er arbeitete als Buchhändler und Verleger und ist seit 1992 Geschäftsführer des Verbandes der Verlage und Buchhandlungen in Berlin-Brandenburg. Seit 2003 ist Detlef Bluhm Vorsitzender der Literaturhaus Berlin e.V. Neben seinen vielfältigen Herausgebertätigkeiten betreibt Detlef Bluhm unter dem Pseudonym 'Kater Paul' auch einen Blog, der sich der Kulturgeschichte der Katze verschrieben hat. Detlef Bluhm veröffentlicht bei dotbooks auch den Kriminalroman: 'Das Geheimnis des Hofnarren'
Autoren/Hrsg.
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1. Kapitel
»Wie ich gestern schon gesagt habe, der Morgen ist immer klüger als der Abend!«
Simon Schuster schreckte zusammen. Er saß gerade beim Frühstück auf der Terrasse, als Claudia von ihrer morgendlichen Fahrradtour durch den Grunewald zurückkehrte, die sie oft unternahm, wenn sie im Haus ihres Vaters übernachtet hatte. Ihre lauten, in seinem Rücken gesprochenen Begrüßungsworte trafen Simons Kopf wie kleine Hammerschläge. Er konnte an diesem Morgen auf die doppelsinnige Weisheit der angehenden Volkskundlerin gut und gern verzichten. Gestern nacht, nach seiner Geburtstagsfeier und endlich allein, hatte Simon sich noch eine Verkostung der als Geschenk ins Haus gekommenen Whisky-Raritäten gegönnt, und jetzt spürte er deutlich, daß er statt dessen besser hätte ins Bett gehen sollen.
Claudia gab ihrem Vater einen Kuß auf die Stirn und setzte sich an den gedeckten Tisch. Nach ihrem Frühsport hatte sie ausgewaschene Jeans und ein rotes T-Shirt angezogen. Ihre schwarzen Locken fielen bis auf die Schultern und waren noch naß vom Duschen.
»Du siehst aus, als hättest du gestern eine Zigarre zuviel geraucht«, kommentierte sie beiläufig seine Verfassung.
»Die Tochter sollte jetzt besser schweigen«, knurrte Simon und fuhr ohne aufzusehen fort, einen Rollmops zu sezieren.
Claudia nahm ihr Frühstücksei aus dem Wärmebehälter, griff sich das Feuilleton der Sonntagszeitung und sah, daß Julia für Simon ein reichhaltiges Katerfrühstück zubereitet hatte: Spreewälder Gurken, Spiegelei mit Schinken, Würstchen mit Senf, Rollmöpse, Bouillon mit Nudeln, grünen Tee und frisch gepreßten Orangensaft. Sie überflog einen Artikel über den gestern beendeten Kongreß der Deutschen Gesellschaft für europäische Ethnologie und bemühte sich, die Seiten der Tageszeitung möglichst leise umzuschlagen. Wenn Simon sie in der dritten Person anredete, war Vorsicht geboten. Sie beobachtete verstohlen ihren Vater, der gepeinigt im Lokalteil blätterte, und ihr fiel ein Zitat von Elias Canetti ein: »Dort lesen die Leute zweimal im Jahr die Zeitung, übergeben sich und gesunden.« Sie wußte nicht, ob er diesen Satz kannte, beschloß aber, ihn jetzt besser nicht danach zu fragen.
Simon war weder rasiert noch gekämmt. Das von grauen Strähnen durchzogene Haar sah aus wie ein Heuschober nach einem Sommergewitter. Aber Claudia ließ sich von diesem bedauernswerten Anblick die Sonntagsstimmung nicht verderben. Es war erst kurz nach zehn, und doch hatte die kräftige Sommersonne die Feuchtigkeit der Nacht aus dem Garten fast vollständig vertrieben. Claudia schloß die Augen und lehnte sich behaglich in ihren Rohrsessel zurück. Sie genoß die Ruhe, das leise Rauschen des Rasensprengers, das vom Nachbargrundstück herüberklang, und dachte nur ungern an den Fontanekreis, der sich in wenigen Stunden wie an jedem ersten Sonntag im Monat nachmittags im Haus treffen würde. Sie wußte, daß Simon dann wieder fit sein würde, und sah ihn schon vor sich, wie er, gestützt auf seinen Ebenholzstock mit dem ziselierten Silbergriff, die Gäste begrüßte und dabei jedem einzelnen das Gefühl gab, er freue sich über sein Kommen ganz besonders.
Simon war kaum mittelgroß, er wurde von den meisten Männern und nicht wenigen Frauen überragt. Aber seine wachsamen dunklen Augen, das auffällig scharf geschnittene Gesicht, die unaufdringliche Eleganz der Kleidung und seine Fähigkeit, jeden Gast mühelos plaudernd in einen Zustand zu versetzen, den Claudia in einer Mischung aus Bewunderung und Ironie als das »Mysterium der großen Harmonie« bezeichnete, kurz, Simons äußere Erscheinung und seine vertrauenstiftende Ausstrahlung ließen ihn fast überall zum Mittelpunkt werden. Dies galt natürlich um so mehr, wenn er sich in der Rolle des Gastgebers befand.
Simon stand auf und murmelte etwas von »sich frisch machen«. Aber Claudia hörte nicht hin, sie war in Gedanken bei dem erstaunlichen Text, den sie ihrem Vater nachher zeigen wollte. Wenn er, geduscht und rasiert, wieder seinen Platz am inzwischen abgedeckten Tisch auf der Terrasse eingenommen haben würde, um die erste Zigarre des Tages zu rauchen. Claudia liebte diese Stunde, wenn Simon nur für sie Zeit hatte. Sie tauschten dann Belanglosigkeiten aus, sprachen über gelesene Bücher, mitunter stritten sie auch. Heute würde sie ihm von einem ganz besonderen Leseerlebnis berichten.
Wie immer schaute Simon erst nach dem Duschen in den Spiegel des Badezimmers, denn der Anblick seines verschlafenen Gesichts rief ein beängstigendes Gefühl der Fremdheit in ihm hervor. Nach der Rasur betrachtete er sich lange und nicht unzufrieden; die 54 Jahre waren ohne tiefe Spuren an seinem schmalen, nahezu faltenlosen Gesicht vorbeigegangen. Er ging zurück in das direkt angrenzende Schlafzimmer, wo schon seine Kleidung bereitlag. Egal, wie spät es nachts wurde und was und wieviel er auch getrunken hatte, immer legte er sich vor dem Schlafengehen zurecht, was er am nächsten Tag anziehen wollte; eine aus seiner Kindheit stammende Angewohnheit, die der Enge der damaligen Wohnverhältnisse entsprang. In das Kinderzimmer paßte kein Wäscheschrank, deshalb waren die Anziehsachen der drei Geschwister in dem großen Kleiderschrank untergebracht, der im kombinierten Wohnschlafzimmer der Eltern stand. Dort holten sich die Geschwister vor dem Zubettgehen ihre Kleidung für den nächsten Tag und hängten sie im Flur auf.
Durch eine hohe Doppeltür gelangte er in die obere Bibliothek. Dort waren auf einem großen, alten Barwagen seine Whiskyflaschen deponiert, Zigarren lagerten in einem dunkelbraunen, regelmäßig gemaserten Humidor aus Zedernholz. Das fahrbare Möbel, Claudia nannte es etwas respektlos »den Altar«, hatte in den zwanziger Jahren dem Hotel Adlon gedient und war auf sehr verschlungenen Wegen in Simons Haus gelangt. Nachdem er eine leichte Morgenzigarre ausgewählt und angeschnitten hatte, ging er zum zweiten Mal an diesem Sonntag die Treppe hinunter ins Erdgeschoß.
Im Salon richtete Julia bereits alles für den Nachmittag her. Sie war seit über fünf Jahren bei ihm als Aushilfe im Antiquariat beschäftigt und kümmerte sich auch um den Haushalt. Zeitgleich mit Julia hatte ihr Mann Ferdinand bei Simon die Arbeit aufgenommen. Als Packer und Fahrer war er inzwischen für die Buchhandlung in der Knesebeckstraße unersetzlich geworden. Simon schätzte sehr, daß Ferdinand auch alle das Haus und den Garten betreffenden Arbeiten umsichtig erledigte. Ferdinand war damals gerade aus dem Gefängnis gekommen. Eine befreundete Bewährungshelferin hatte den Kontakt zu Simon vermittelt, der anfänglich einige Bedenken wegen der Nachbarn gehabt hatte, denn einen verurteilten Trickbetrüger stellte man in Grunewald nicht ohne weiteres ein. Schließlich hatte Simon beschlossen, das ungewöhnliche Experiment zu wagen. Er bereute es nicht, und als Zugabe profitierte sein soziales Gewissen davon.
Simon saß noch keine Minute auf der Terrasse, als Claudia sich mit einem Buch in der Hand zu ihm setzte.
»Simon, sag mir bitte etwas zu dieser Ausgabe.«
Er nahm das Buch in die Hand und erkannte es schon an seinem außergewöhnlichen Einband.
»Du hast es aus der oberen Bibliothek«, sagte er mit ärgerlichem Unterton; er sah es nicht gern, wenn sie, ohne zu fragen, seine Bücher auslieh. Claudia zuckte nur ungeduldig mit den Schultern.
»Na gut.« Simon blätterte das Buch auf. »Das ist die ›Insel Felsenburg‹ von Johann Gottfried Schnabel.« Er vergewisserte sich durch einen Blick auf den Haupttitel, bevor er ergänzte: »Und zwar die 7. Auflage von 1751 in einem besonders schönen Einband der Zeit.«
Claudia schaute ihn fragend an.
»Diese Ausgabe wird erst durch ihren Einband wirklich wertvoll, eine wunderbare Arbeit. Blaues Maroquinleder, das ist das Leder von der Kapziege, und ein sehr originell gestaltetes Supraexlibris, das im Gegensatz zum Exlibris auf die Vorderseite des Bucheinbandes geprägt wurde. Seit dem 16. Jahrhundert in Europa weit verbreitet. Dieses hier bezeichnet den Besitzer des Buches allerdings nicht namentlich, sondern charakterisiert ihn lediglich durch einen Eselskopf, ein Kartenspiel und drei Spielwürfel, etwas skurril. Also, was interessiert dich an dem Buch?«
Claudia nahm es ihm aus der Hand, schlug eine Seite auf und zeigte mit dem Finger auf eine bestimmte Textpassage.
»Lies selbst.«
Simon griff erneut nach dem Buch und las laut: »Auf der äusersten Felsen-Höhle gegen Osten war ein bequemliches Wacht-Hauß erbauet, welches wir nebst denen dreyen dabey gepflantzten Stücken Geschützes in Augenschein nahmen, und uns anbey über das viele im Walde herum lauffende Wild sonderlich ergötzten. Nur ein Narr kann es errathen. Der Schlüssel liegt bei KWD und auch bey meinem Ruhm. Man grabe tief nur 200 Schritt von der Allee bey Numero 57. Drey Fundsachen: Kisten, Bibel und Gesang-Buch, nebst andern gewöhnlichen Geschencken vor die Jugend empfangen hatte, zu rechter Zeit den Rückweg auf Alberts-Burg antraten.«
»Das reicht«, unterbrach ihn Claudia. »Was sagst du dazu?«
Simon las den Text noch einmal langsam im stillen und sagte schließlich: »Der letzte Satz ergibt keinen rechten Sinn. Was soll das?« Er schaute seine Tochter an. »Ich bin Buchhändler und Antiquar, kein Germanist. Ich habe keine Ahnung.«
Claudia schob ihm eine Fotokopie hin. »Dann lies bitte im Vergleich dazu den hier markierten Text.«
Simon las wieder laut: »Auf der äusersten Felsen-Höhle gegen Osten war ein bequemliches Wacht-Hauß erbauet, welches wir nebst denen dreyen dabey gepflantzten Stücken Geschützes in Augenschein nahmen, und uns anbey über das viele im Walde herum lauffende Wild sonderlich ergötzten, nachhero in dem Robertischen Stamm-Hause aufs köstlichste...