E-Book, Deutsch, Band 463, 304 Seiten
Reihe: Die Andere Bibliothek
Blum / Franck Der Hirte und die Weberin
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8412-3371-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 463, 304 Seiten
Reihe: Die Andere Bibliothek
ISBN: 978-3-8412-3371-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der einzige vollendete Roman einer der großen deutsch-jüdischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts
Eine jüdische Schriftstellerin aus der Bukowina und ein kommunistischer Theaterregisseur aus China: Im Moskauer Exil der 1930er Jahre lernen sie sich kennen und lieben. Aber nur drei Monate sind sie zusammen, dann verschwindet er spurlos, und die Zurückgebliebene macht sich auf die Suche. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führt sie die Spur ins vom Bürgerkrieg zerrüttete China. In einer Hütte begegnen sich die beiden nach elf Jahren wieder und verbringen die Nacht miteinander. Doch was wiegt schwerer, das persönliche Glück oder die gesellschaftliche Aufgabe, der sie sich verschrieben haben? Im Spiegel der chinesischen Legende vom Hirten und der Weberin erzählt Klara Blum, die große Unbekannte und Außenseiterin der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, eine kämpferische Liebes- und Lebensgeschichte, die auch ihre eigene ist.
»Ein erstaunliches Buch: die Verbindung von revolutionärem Elan, Ironie, Erzählfreude, humorvoller Ost-West-Pastichekunst mit Tendenzen zur Selbststilisierung.« Sandra Richter
Klara Blum wurde 1904 in Czernowitz, Bukowina, geboren und wuchs in Wien auf. Sie studierte Psychologie und arbeitete als Journalistin. Als Jüdin mit sozialistischen Ansichten emigrierte sie 1934 nach Moskau. Ihre Liebesgeschichte mit dem chinesischen Theaterregisseur und Journalisten Zhu Xiangcheng veranlasste sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Übersiedlung nach China. Sie ist auch der Stoff ihres Romans »Der Hirte und die Weberin«, der 1951 in der DDR erschien. Zhu Bailan, wie sie sich fortan nannte, nahm die chinesische Staatsbürgerschaft an. Sie wurde Professorin für Germanistik und eine wichtige Stimme der deutschen Exilliteratur. 1971 starb sie im südchinesischen Guangzhou.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Kapitel
»Nü dshe-dso tssji Yün …«
Drei Mädchen standen auf der Szene. Die rechte in lichtblauer Seide war der Morgenstern. Die linke in tiefblauer Seide der Abendstern. Und die mittlere, ganz in Silber glitzernd, war die Milchstraße. Mit hohen, ausdruckslosen Stimmen sangen sie:
»Dünne Wolken wob die Frau …«
Das Nan-Hsing-Theater führte eine uralte Legende auf, nach uraltem Gebrauch für die Bühne bearbeitet, nach uralten Traditionen der Schauspielkunst dargestellt. Handlung, Sinn und Charaktergestaltung waren bis zur Unkenntlichkeit in Rhythmus und Farbenwirkung, Akrobatik und Symbolik zerfasert.
Nju-Lang und Dshe-Nü – der Hirte und die Weberin – zwei Sternbilder und zugleich ein mythisches Liebespaar – wurden von berühmten Bühnenkünstlern gespielt. Im Publikum waren hohe Beamte und sogar einige Ausländer anwesend. Sie verstanden nichts, aber sie waren von der exotisch reizvollen Bilderfülle unwillkürlich mitgerissen.
Ein stark stilisierter Webstuhl erschien vor dem gestirnten Hintergrund. Davor bewegte sich rhythmisch ein zierliches Geschöpf, das nach einigen abgezirkelten Gebärden kunstvoll zu klagen anfing:
»Schachfigürchen sind wir nur
In den alten Götterhänden …«
»Ja«, sagte ein junger Chinese, der neben seinem Gefährten in der fünften Parkettreihe saß, »Schachfigürchen – das stimmt! Wollen wir gehen, Kai-Men? Ich kann das Zeug nicht mehr vertragen.«
Anstatt erstaunt oder entrüstet zu sein, folgte ihm Fu Kai-Men mit sichtlicher Bereitwilligkeit, ohne auch nur noch einen Blick auf das entzückende Bild zu werfen, das soeben die Szene beherrschte: ein Jüngling, verkleidet als goldgefiederter Hahn, der Begleiter des männlichen Prinzips Yang, tanzte vor einem Mädchen, das eine silberweiße, langohrige Pelzmütze auf dem Kopfe trug und die Mondhäsin darstellte, die Begleiterin des weiblichen Prinzips Yin. Er vollführte seine akrobatischen Sprünge mit so beschwingter Grazie, dass er buchstäblich zu fliegen schien.
»Ich habe mich überhaupt gewundert«, sagte Fu Kai-Men, als sie auf die Straße traten, »dass du heute plötzlich wieder dieses traditionelle Gefunkel und Geleier und Gehopse sehen wolltest. Warum eigentlich? Weil du selbst Nju-Lang heißt?«
»Mein geringer Name hat wenig damit zu tun«, erwiderte Tschang Nju-Lang. »Die Legende dieser beiden Sternbilder hat schon größere Leute beschäftigt. Es ist doch merkwürdig, was für Einfälle unsere Landarbeiter in ihren Kummernächten in den Himmel hineinphantasieren und zwischen die Sterne malen. Und es ist abscheulich, wie unser offizielles Theater dieses schlichte, tiefsinnige Bauernmärchen verzerrt und verflacht.«
Sie gingen nebeneinander über die breite durchlärmte Edward-VII.-Road. Es war eine warme Sommernacht des Jahres 1929.
Tschang Nju-Lang trug einen lang hinabfließenden chinesischen Anzug von unauffälligem Dunkelblau, aber aus kostbarstem Seidenstoff. Er war groß und schlank und hatte ein feines Gesicht mit länglich schrägen Augen und einem suchenden Zug um den Mund, einem Zug von sanfter Hartnäckigkeit.
Fu Kai-Men dagegen war europäisch, aber nicht sehr elegant gekleidet, klein und schmal, das Gesicht flachnäsig mit einem Zug von trockener Ironie.
»Wundert dich das?«, fragte er. »Was weiß unsere offizielle Kunst vom lebendigen Chinesen? Sie will auch lieber nichts wissen. Besonders nichts von den Lao-Bai-Hsing.«
Sein Gesicht wurde ernst, und in seine Stimme kam ein Ton von politischer Feierlichkeit, als er diese drei Silben aussprach. Sie bedeuteten wörtlich »die achtbaren hundert Namen«, die hundert chinesischen Familiennamen, die, auf das Riesenvolk verteilt, sich unaufhörlich wiederholen, wie Müller und Schulze, Hinz und Kunz, so dass man in jeder Hütte und an jedem Straßeneck einem Hsü oder Fu, einem Wang oder Tschang, einem Tschen oder Li begegnet. Aber Lao-Bai-Hsing, die chinesischen Hinz und Kunz, trugen keinen Beigeschmack von Geringschätzung. Sie drückten Ehrgefühl und Selbstbewusstsein des kleinen Mannes aus: »Wir, die achtungswerten Menschen aus dem Volk! Wir, die chinesische Gesamtheit! Wir, die achtbaren hundert Namen!«
»Man müsste ein neues Theater schaffen«, träumte Nju-Lang. »Das Theater des heutigen Chinesen.«
»Ich fürchte, das Volk hat dringendere Sorgen«, meinte Kai-Men trocken.
»Alles ist dringend«, beharrte Nju-Lang. »Es ist nun ein Jahr her, seit wir unsere Abendschule eingerichtet haben. Kommen nicht täglich mehr Leute? Lernen sie nicht täglich mit größerem Eifer?«
Sie hatten den Whang-Pu-Fluss erreicht und gingen nun an seinem Ufer. Nju-Langs Wohnung lag in der entgegengesetzten Richtung, aber je später er nach Hause kam, desto lieber war es ihm.
»Ich muss gestehen«, sagte Kai-Men, »dass ich am Anfang sehr skeptisch war. Ich dachte, die Leute würden bestenfalls Lesen und Schreiben lernen für die Wareninventur, aber ich glaubte nicht, dass sie für Geschichte und Soziologie, für Literatur und Fremdsprachen etwas übrighaben würden. So ein Geschäftskommis ist meistens ein typischer Schanghaier, geldgierig bis dahinaus, moralisch tief unter dem Niveau eines Arbeiters oder Bauern.«
»Sei nachsichtig«, lächelte Nju-Lang, »auch wir zwei sind Handelsangestellte.«
»Nun, du – du bist vor allem ein Sohn der Tschang-Seidenfirma.«
»Umso schlimmer für meine Moral.«
»Warum eigentlich verwendet man dich nicht im väterlichen Geschäft?«
»Ich glaube, der Erhabene will nicht, dass ich mit ansehe, wie er seine Leute behandelt. Und dann ist es ihm auch sehr recht, dass ich dem Fontenay die Korrespondenz führe«, Nju-Langs Stimme wurde gläsern von verhaltenem Zorn. »Ist es nicht eine hohe Ehre für einen Chinesen, seinen Sohn bei einem fremdländischen Unternehmer arbeiten zu lassen?«
»Und außerdem eine gute Protektion beim Zollamt«, ergänzte Kai-Men.
»Aber, um auf unsere Schule zurückzukommen, wir haben nicht nur Handelsangestellte unter den Schülern. Wir haben auch Arbeiter.«
»Ja, Wang Po-Tscheng.«
»Eh! Er ist dir aufgefallen?«
»Wer kann diesen energischen Kopf übersehen?«
»Wie er lernt!«, sagte Nju-Lang. »Ich bin gar nicht wert, ihn zu unterrichten, ich, der Autodidakt. Der berühmteste Professor wäre gerade gut genug für diesen Transportarbeiter. Wie er lernt! Ich wollte, mein Söhnchen würde einmal so lernen.«
»Das wird er gewiss. Dein kleiner Tjen-To ist ein prächtiges Kind.«
»Du übertreibst«, versetzte Nju-Lang mit dem üblichen Kichern der Bescheidenheit. »Immerhin – Mee-Tssjing ist eine ausgezeichnete Mutter und wird ihn sicher musterhaft erziehen.«
»Und nebenbei auch eine schöne Frau«, erinnerte Kai-Men.
»Ja«, sagte Nju-Lang müde, »sie ist und bleibt das schöne, stolze, wohlerzogene Fräulein Tang – Tochter einer der ersten Familien von Peking.«
»Sie ist nicht nur ein geborenes Fräulein Tang, sondern auch eine verheiratete Madame Tschang, und dies bereits seit sieben Jahren.«
»Ja. Aber glaubst du, dass sie mich während dieser sieben Jahre auch nur einmal beim Namen genannt hat? Sechs Jahre lang, bevor das Kind kam, vermied sie jede direkte Anrede. Und jetzt – jetzt sagt sie eben: Vater des Tjen-To! Und sie hat nicht unrecht. Schließlich hat sie mich nur auf Befehl der Eltern geheiratet – wie ich sie.«
»Ich glaube, du unterschätzt Mee-Tssjing. Sie hat Tzai-Yün nicht im Stich gelassen, obwohl die Tangs das Mädchen in Grund und Boden verdammten.«
»Tzai-Yün ist immerhin ihre Schwester.«
»Nur ihre Halbschwester und Tochter einer Konkubine.«
Nju-Lang ahnte längst, dass sein Freund in die zweiundzwanzigjährige drollig hübsche Frauenrechtlerin heimlich verliebt war. Er sprach nicht davon, er versagte sich...