Blume Im unwahrscheinlichen Fall
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18293-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-641-18293-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1952: Die 15-jährige Miri Ammermann wächst wohlbehütet im Städtchen Elizabeth, New Jersey, auf. Ihr Vater hat sich zwar früh aus dem Staub gemacht, aber ihre liebevolle und kämpferische Mutter, ihre weise Oma, ihre beste Freundin Natalie und all die anderen Menschen in ihrem Umfeld stehen ihr bei ihren Schritten ins Erwachsenenleben zur Seite. Als sie ihre erste große Liebe Mason kennenlernt, scheint das Glück perfekt zu sein. Doch dann stürzt ein Flugzeug ab, und nichts ist mehr, wie es war.
Judy Blume wuchs in Elizabeth, N.J., auf und erlebte die Flugzeugkatastrophen dort Anfang der Fünfzigerjahre selbst mit. Ihre Romane 'Zauber der Freiheit', 'Zeit der Gefühle' und, am erfolgreichsten, 'Die Sommerschwestern', wurden große internationale Bestseller. Insgesamt hat sie über 85 Millionen Exemplare verkauft, ihr Werk wird in 32 Sprachen übersetzt. Judy Blume hat drei mittlerweile erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Ehemann an der Ostküste.
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1
Miri
Miri Ammerman und ihre beste Freundin, Natalie Osner, lagen bäuchlings auf dem wolligen, graubraun gesprenkelten Teppichboden in Natalies Wohnzimmer und warteten auf die allererste Fernsehübertragung vom Aufleuchten des berühmten Weihnachtsbaums. Das Wohnzimmer war Miris Lieblingsraum in Natalies Haus, nicht zuletzt wegen des Fernsehers mit dem 17-Zoll-Bildschirm in dem Schränkchen aus hellem Holz. Miris Großmutter besaß auch ein Gerät, aber so ein kleines mit Hasenohren, und manchmal war das Bild verschneit. Im Wohnzimmer der Osners passten die Möbel alle zusammen, die beigen Sofas und Sessel waren um einen modernen dänischen Kaffeetisch gruppiert, darauf ein ordentlicher Stapel Zeitschriften – Life, Look, Scientific American, National Geographic. Eine Stofftasche mit Holzgriff, die Mrs. Osners neuestes Petit-Point-Projekt enthielt, lag auf einem der Sessel. Eine komplette Ausgabe der Encyclopaedia Britannica nahm drei Regalbretter der Bücherwand ein, zusammen mit gerahmten Familienfotos, darunter eins von Natalie im Ferienlager, in Reithosen auf einem schwarz glänzenden Pferd, mit einer Medaille in der Hand, und ein anderes von ihrer kleinen Schwester Fern auf einem Pony. In einer Ecke des Zimmers stand ein Tischchen mit einem Schachbrett; Natalies älterer Bruder Steve konnte Schach spielen, und manchmal waren er und Dr. Osner stundenlang in eine Partie vertieft.
Sie und Natalie sangen »White Christmas« zusammen mit Kate Smith, riefen Oh und Ah zusammen mit der Menge, mit dem ganzen Land, als der Baum erstrahlte und den Beginn der Weihnachtszeit verkündete.
Später erfuhr Miri, dass ihre Mutter sogar live dabei gewesen war, als eine von den zweitausend Zuschauern. Rusty erzählte Miri, sie sei so lange im Gedränge herumgeschubst worden, bis sie beschlossen hatte, dass es das nicht wert war, und wieder ging, um den nächsten Zug nach Elizabeth zu nehmen. Den Baum konnte sie ohnehin noch jeden Tag auf dem Heimweg von der Arbeit bewundern.
Für Miri war es der Geburtstag ihrer Mutter, der den Beginn der Feiertage bedeutete. Sie meinte immer, Rusty müsse als Kind doch enttäuscht gewesen sein, weil ihr Geburtstag so nah an Chanukka lag, aber Rusty versicherte, das habe ihn nur noch festlicher gemacht.
Dieses Jahr fiel Chanukka sogar mit Weihnachten zusammen. Miri hatte sich fest vorgenommen, mit dem Geschenkekaufen nicht bis zur letzten Minute zu warten, und doch war es nun schon Samstag, ein Tag vor dem Geburtstag ihrer Mutter, als sie sich endlich in die Stadt aufmachte, zu Nia’s Dessousboutique an der Broad Street. Miri wurde schon bald fünfzehn, aber weder sie noch ihre zweitbeste Freundin Suzanne Dietz waren je in Nia’s Dessousboutique gewesen. Allein schon bei dem Wort Dessous mussten sie loslachen. Es klang wie etwas, das Mrs. Osner in ihrem gedehnten Südstaatenakzent sagen würde, anstatt einfach bloß Unterwäsche. Unterwäsche war das, was Miri und Suzanne bei Levy Brothers kauften, einem der beiden Kaufhäuser in der Broad Street. Unterwäsche war aus weißer Baumwolle. Aber Dessous waren etwas ganz anderes. Nicht, dass es in Nias Schaufenster irgendetwas Anrüchiges gegeben hätte. Kein Büstenhalter oder Straps in Sicht. Und auch nichts in Schwarz. Dunkelblau war schon das Äußerste. Aber wer wusste, was man drinnen finden würde? Miri hatte eine Anzeige aus der Daily Post ausgeschnitten: ZUM FEST BESCHENKE SIE MIT NYLONJERSEY VON VANITY FAIR. Nylonjersey war ihr zwar kein Begriff, aber in der Anzeige von Nia’s war ein Unterrock für 3 Dollar 99 abgebildet, der sicher etwas für ihre Mutter wäre.
Ein kurzes Bimmeln ertönte, als Miri und Suzanne den Laden betraten. Drinnen herrschte ziemlicher Betrieb, aber nicht wie um diese Jahreszeit bei Levy’s oder Goerke’s, dem anderen Kaufhaus in der Stadt.
Die Kundinnen – Männer waren keine zu sehen – sprachen mit gedämpften Stimmen. Ein kleiner weißer Weihnachtsbaum, üppig mit Lametta geschmückt, stand auf dem Tresen. Satinpantoffeln und zarte Bettjäckchen in Pastellfarben waren um ihn herum ausgelegt. Wer trug denn Bettjäckchen? Rusty hatte einen flauschigen Bademantel und zwei Flanellnachthemden für den Winter und einen Pikee-Morgenrock und mehrere dünne Baumwollnachthemden für den Sommer. Vielleicht trugen Filmstars Bettjäckchen, wenn sie ihr Frühstück im Bett serviert bekamen. Aber in Elizabeth, New Jersey, gab es keine Filmstars. Selbst Mrs. Osner besaß kein Bettjäckchen. Und wenn, hing es nicht in ihrem Schrank, denn Miri hatte diesen Schrank schon hundertmal durchkämmt, seit sie und Natalie vor zwei Jahren beste Freundinnen geworden waren. Miri und Suzanne machten immer noch einen Babysitterjob zusammen und aßen jeden Tag am selben Cafeteriatisch zu Mittag – nur beste Freundinnen waren sie nicht.
»Womit kann ich dienen?«, fragte eine hübsche junge Verkäuferin.
»Sind Sie Nia?« Das hatte Miri gar nicht sagen wollen. Es war ihr einfach so rausgerutscht.
»Ich bin Athena, ihre Tochter. Was darf ich Ihnen denn heute zeigen?«
Athena – Miri kannte keine, die Athena hieß. So ein exotischer Name. War Athena nicht die griechische Göttin der Weisheit, der Künste und was noch, des Krieges? Ihr Buch über griechische Mythologie in der Fünften hatte sie geliebt. Onkel Henry hatte es ihr geschenkt. Jeden Abend hatten sie sich gegenseitig daraus vorgelesen.
»Suchen Sie irgendwas Besonderes?«, fragte Athena.
Da Miri nicht antwortete, stupste Suzanne sie an.
»Es ist für den Geburtstag meiner Mutter«, sagte Miri rasch, »und ich dachte, vielleicht ein Unterrock aus Nylonjersey.«
Noch ehe Miri die Anzeige hervorholen konnte, sagte Athena: »Ich habe genau, was Sie suchen. Welche Größe trägt Ihre Mutter denn?«
»S oder M, je nachdem.«
»Tatsächlich, S?«, meinte Athena verwundert, als könnte eine Mutter unmöglich S tragen.
»Sie ist eins zweiundsechzig, zweiundfünfzig Kilo.« Miri wusste alles über ihre Mutter, jede Einzelheit aus ihrem Leben, außer einer, aber darüber wollte sie heute nicht nachdenken.
Athena holte ein paar Unterröcke hervor und hielt einen davon hoch. Von Vanity Fair, 3 Dollar 99. »Das ist der aus Nylonjersey. Fühlen Sie mal, wie weich das Material ist. Es lädt sich nicht auf.« Sie legte einen in Größe S auf den in M, um Miri den Unterschied zu zeigen.
»Meine Mutter trägt M«, raunte Suzanne. »Und sie ist größer als deine Mom.«
»Dann nehmen Sie doch S«, riet Athena Miri. »Sie kann ihn ja notfalls umtauschen. Welche Farbe? Wir haben ihn in Weiß, Rosa und Marineblau.«
»Sie arbeitet in New York«, sagte Miri. »Sie trägt meistens dunkle Farben, besonders im Winter. Also am besten marineblau.«
»Eine ausgezeichnete Wahl«, meinte Athena. »Darf ich Ihnen noch etwas anderes zeigen?«
»Ich brauche auch noch ein Geschenk für sie zu Chanukka, aber –«
»Chanukka ist wie Weihnachten«, warf Suzanne ein.
»Ja, natürlich«, sagte Athena.
Miri warf Suzanne einen Blick zu. Was sollte das denn wieder? Nichts tat Suzanne lieber, als mit den jiddischen Begriffen um sich zu werfen, die sie von Miris Großmutter aufgeschnappt hatte. Suzanne wusste weit mehr über Chanukka als Miri über Jesus.
»Ich kann nicht so viel ausgeben«, sagte Miri zu Athena. Sie und Suzanne hatten das Geld vom Babysitten extra fürs Geschenkekaufen gespart. Und sie hatten schon zusammengelegt, um den kleinen Schwestern, die sie betreuten, eine Schachtel mit Fingerpuppen zu kaufen. Die Mädchen würden begeistert sein, aber wenn sie so weitermachte, würde Miri ihre Liste nie schaffen.
»Wie wär’s mit Strümpfen?«, schlug Athena vor. »Davon kann man nie zu viele haben, vor allem, wenn man arbeiten geht.«
»Aber Strümpfe sind so langweilig.« Miri wandte sich zu Suzanne um. »Findest du nicht auch?«
»Ich weiß nicht«, sagte Suzanne. »Ich wollte meiner Mutter eigentlich Strümpfe zu Weihnachten schenken.«
Miri ruderte zurück. »Ich meine ja auch nicht, dass es keine gute Idee ist.« Suzannes Mutter war Krankenschwester. Sie trug weiße Strümpfe zu ihrer Uniform. Aber Suzanne wählte drei Paar neue Nahtlose in »Dubonnet Blond«, hübsch verpackt und mit einer roten Schleife verziert.
Dann strich Suzanne den Namen ihrer Mutter aus ihrer alphabetisch geordneten Geschenkliste. Miris Liste befand sich in ihrem Kopf und war alles andere als geordnet. Aber wenigstens hatte sie jetzt ein schönes Geburtstagsgeschenk für Rusty. Immerhin etwas.
»Ich hoffe, Sie beehren uns bald wieder«, sagte Athena lächelnd.
»Ganz bestimmt«, antwortete Miri.
Dann wisperte sie Suzanne zu: »Nächstes Mal kaufen wir Dessous.« Suzanne lachte laut los, als sie aus der Ladentür in den kalten Wind hinaustraten, der ihnen nadelfeine Eiskristalle vom gestrigen Schneesturm entgegenblies.
Rusty
Daheim in der Sayre Street hatte Rusty Ammerman schon das Staubsaugen und die Wäsche erledigt. Das Doppelhaus besaß einen kleinen, gepflegten Vorgarten und war unterteilt in eine obere Wohnung, wo sie mit Miri lebte, und eine untere, wo ihre Mutter, Irene, mit Rustys Bruder Henry lebte. Aber die Wohnungstüren waren nie abgesperrt, und Miri verbrachte ebenso viel Zeit bei Irene wie bei sich und Rusty.
Rusty wickelte gerade noch die letzten Chanukka-Geschenke für Miri ein. Das Lanz-Nachthemd hatte ganz oben auf Miris Wunschzettel gestanden, nicht, dass Miri es ihr extra gesagt hätte, Rusty wusste es auch so. Alle Mädels trugen...