E-Book, Deutsch, 96 Seiten
Böhm EMDR
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8444-3173-5
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 96 Seiten
Reihe: Fortschritte der Psychotherapie
ISBN: 978-3-8444-3173-5
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) stellt eines der effektivsten Psychotherapieverfahren dar, um Traumafolgestörungen zu behandeln. Zahlreiche internationale Behandlungsleitlinien empfehlen EMDR zur Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Der Band beschreibt praxisorientiert die acht Phasen der EMDR-Therapie und veranschaulicht das Vorgehen anhand von Fallbeispielen. Dabei wird auch auf die Unterschiede in der Behandlungsplanung von PTBS und Komplexer PTBS eingegangen.
Die EMDR-Therapie greift Elemente der Verhaltenstherapie, der psychodynamischen und der kognitiven Therapie auf und ergänzt sie mit bilateraler Stimulation mittels Augenbewegungen. Das Vorgehen wird meist als angenehm und zielführend wahrgenommen. Dadurch kommt es zu wenigen Therapieabbrüchen und Motivationsproblemen. Fokus der EMDR-Therapie sind pathogene Erinnerungen an ein belastendes Ereignis, die als Ausgangspunkt dysfunktionaler Verarbeitungs- und Copingstrategien gesehen werden. Diese Erinnerungen werden gesucht und mithilfe freier Assoziation bearbeitet. Die Verarbeitung der Erinnerungen geschieht mit unterschiedlichen Modalitäten – gedanklich, emotional, körperlich und sensumotorisch. Die aktuelle Belastung durch die pathogenen Erinnerungen soll so reduziert oder beseitigt werden. Um Suggestionen im Verarbeitungsprozess der Patientinnen und Patienten zu minimieren, wird ein bis ins Detail operationalisiertes therapeutisches Vorgehen genutzt, das in diesem Band ausführlich beschrieben wird.
Zielgruppe
Ärztliche und Psychologische Psychotherapeut_innen, Fachärzt_innen für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinische Psycholog_innen, Studierende und Lehrende in der psychotherapeutischen Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
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|9|2 Das AIP-Störungsmodell der EMDR-Therapie
2.1 Wirkmechanismen des EMDR
Seit dem Bekanntwerden von EMDR zu Beginn der 1990er Jahre wurde immer wieder die Frage nach dahinterstehenden Wirkmechanismen gestellt. Dabei wurden sehr unterschiedliche Auffassungen vertreten (Shapiro, 2001). Der genaue Wirkmechanismus von EMDR ist jedoch weiterhin unbekannt. Shapiro geht bei traumatischen Erlebnissen von einem „sprachlosen Entsetzen“ aus, in welchem die Erlebnisse zwar rechtshemisphärisch visuell, jedoch linkshemisphärisch nicht verbal verarbeitet werden können. Patient:innen können die Erlebnisse somit nicht in Worte fassen, was die Verarbeitung der Traumata beeinträchtigt. Die Erfahrungen sind so außergewöhnlich und unerklärbar, dass sie nicht in das vorhandene implizite Gedächtnis abgespeicherter Erfahrungen integriert werden können. Es kommt deshalb zu einem mehr oder weniger getrennten Speichern dieser Informationen. Man kann dies daher auch Desintegration oder Fragmentierung des Bewusstseins nennen. Beim EMDR soll durch die bilaterale Stimulation mittels Augenbewegungen eine Synchronisation und somit Reintegration der Traumainhalte ermöglicht werden. Die externe Aufmerksamkeitsfokussierung im EMDR wirkt hierbei wie ein Katalysator, der erst einen wirkungsvollen Verarbeitungsprozess entstehen lässt oder beschleunigt. Das Unsagbare muss dabei nicht zwingenderweise im Behandlungsprozess benannt werden, wie dies bei vielen anderen Traumaverarbeitungsmethoden der Fall ist. Vielmehr darf im EMDR auch vieles „unsagbar“ bleiben, da das Trauma ebenso andersartig und unverständlich war (Böhm, 2021). Neurowissenschaftliche Befunde sind komplex und nicht immer zur Erklärung psychologischer Prozesse heranziehbar. Trotzdem können sie ein Verständnis darüber vermitteln, wie das menschliche Gehirn aufgebaut und verschaltet sein könnte und wie bestimmte Teilprozesse im Gehirn ablaufen. In einer südkoreanischen Studie um den Forscher Hee-Sup Shin (Baek et al., 2019) wurden Mäuse Strominduktionen ausgesetzt, während ein schriller Ton erklang. Im Weiteren wurde eine visuelle bilaterale Stimulation durch Lichtpunkte am Käfigrand eingesetzt. Diese hatte zur Folge, dass sich die Mäuse wieder vermehrt bewegten und dem Ton gegenüber neutral verhielten. Die Forschungsgruppe wertete auch die neurowissenschaftlichen Befunde aus. Anhand dieser Mäuseexperimente konnte gezeigt werden, dass im EMDR sowohl der superiore Colliculus, also das Schaltzentrum des Gehirns für visuelle Informationen, als auch der mediodorsale Thalamus, beim Menschen eine Schaltstelle für verbale Informationen, der Großhirnrinde und der emotionsregulierenden Amygdala aktiviert bzw. inhibiert werden. Also genau der |10|Mechanismus, von dem man annimmt, dass er die Verarbeitung von belastenden Erinnerungen beim Menschen ermöglicht. Überdies konnte das Forscherteam per optogenetischer Messung der Hirnaktivitäten zeigen, dass der superiore Colliculus im Mittelhirn – also die Zentrale für die Steuerung der Augenbewegungen – über eine direkte, subkortikale Verbindung zur Amygdala verfügt, einem potenziellen neurologischen Zentrum der Furcht. Während diese Verbindung bei furchtsamem Erstarren in der Amygdala für eine negative Aktivierung sorgt, erfolgt unter bilateraler Stimulation offenbar eine beruhigende Verschaltung. Dies passt zu der Beobachtung, dass Traumapatient:innen die Neigung haben, ins Leere – irgendwohin in die Ferne – zu starren. Bei einer Besserung der Symptomatik wird auch ihr Blick wieder beweglicher und ungezwungener. Möglicherweise ist diese Veränderung weniger eine Folge, als vielmehr eine Ursache für das steigende Wohlbefinden der Patient:innen. Einige Forscher haben bezüglich der Frage des Wirkmechanismus von EMDR die Ähnlichkeit von EMDR zu den verarbeitenden Schlafphasen untersucht. Dabei hat sich die anfängliche Idee der Ähnlichkeit zum REM-Schlaf nicht validieren lassen, jedoch fanden sich interessante Analogien zum Slow-Wave-Schlaf (Pagani, Amann, Landin-Romero & Carletto, 2017). Die Delta-Wellen haben im Slow-Wave-Schlaf eine Frequenz von 0.5 bis 3 Hertz. Diese Frequenz (Geschwindigkeit) wird meist auch im EMDR verwendet (Pagani et al., 2017). Verschaltungen finden hierbei aber nicht nur zwischen den zentralen und temporalen Hirnstrukturen statt, sondern auch innerhalb dieser Strukturen. Eine Verschaltung zentraler Anteile zwischen der Amygdala (als Schaltzentrum der Emotionen) und dem Hypothalamus wird häufig beschrieben. Weitere wichtige Strukturen sind offenbar der Locus caeruleus, die Hypophyse, der Nucleus striae terminalis (BNST) als Teil des limbischen Systems, das Subiculum (Rindenband des Hippocampus) und der Hippocampus selbst. Eine psychophysiologische Untersuchung von Sack, Lempa, Steinmetz, Lamprecht und Hofmann (2008) zeigte, dass bei EMDR-Sitzungen mit dem Beginn der Stimulierung die Herzrate sank und der parasympathische Tonus anstieg. Die Verminderung des Erregungsniveaus durch die für EMDR typische bilaterale Stimulierung spricht nach Ansicht der Forschungsgruppe eher für das Konzept der reziproken Hemmung als für das Konzept der Habituation. Damit wurde das Konzept der Exposition mit Reaktionsverhinderung und dem zentralen Element der Habituation in der Diskussion über die Wirkmechanismen von EMDR weitgehend beiseitegelegt. Beim Vergleich mit Expositionsverfahren zeigte sich zudem, dass EMDR bei einer deutlich kürzeren Konfrontationszeit mindestens genauso gute Wirkungen erzielte (Hofmann, 2014). Untersuchungen mit weiteren bildgebenden Verfahren haben zu immer detaillierteren Erkenntnissen über Veränderungen von neurophysiologischen Prozessen nach der erfolgreichen Anwendung von EMDR geführt (Pagani et al., 2012). |11|Auch in der Epigenetik werden (In-)Aktivierungen von Genabschnitten diskutiert, die durch Psychotherapie gezielt herbeigerufen werden könnten. Epigenetische Modifikationen schalten demnach eine Genexpression und Genaktivität an oder ab. Das Gen wird exprimiert (eingeschaltet), abgelesen (Transkription) und in Proteine übersetzt (Translation) (Brückl & Binder, 2017). Ein Trauma kann demnach selbst zu einer veränderten Methylierung spezifischer Genabschnitte führen. Die EMDR-Therapie könnte demnach eine erneute Veränderung der Methylierung von traumarelevanten Genabschnitten hervorrufen, wodurch beispielsweise Schreckhaftigkeit und Angstreaktionen verändert werden könnten – und dies gegebenenfalls auch über Generationen hinweg (Vinkers et al., 2019; Gottschalk & Domschke, 2020). 2.2 Das AIP-Modell
Das Störungsmodell der EMDR-Therapie wird AIP-Modell genannt, wobei „AIP“ für „Adaptive Information Processing“ steht. Shapiro entwickelte das Modell bereits zu Beginn der 1990er Jahre, um ihre Beobachtungen bei EMDR-Therapien erklären zu können. Dabei beschrieb sie vier Grundprinzipien, auf denen das AIP-Modell fußt: Lebensereignisse, die traumatisch und belastend sind, können pathogene Erinnerungsnetzwerke auslösen. Diese können je nach Disposition zu unterschiedlichen Störungen führen (PTBS, Depression, Angststörungen, Schmerzstörungen etc.). Der Mensch versucht pathogene Erinnerungen durch das eigene Selbstheilungssystem zu verarbeiten. Dabei werden adaptive Erinnerungsnetzwerke aktiviert, die die desintegrierten Gedächtnisinhalte des Traumas mit anderen Inhalten verknüpfen und damit verstehbar machen. Dies erfolgt auch ohne therapeutische Intervention und geschieht bei Menschen beinahe täglich, auch um weniger traumatische, jedoch belastende Informationen und Erlebnisse zu verarbeiten. Es gibt pathogene Erinnerungen, die sich vom Selbstheilungssystem nicht integrieren lassen. Hier ist das integrative Netzwerk blockiert. Dadurch persistieren pathologische Symptome und können sich im weiteren unbehandelten Verlauf verstärken. Die Blockade des Selbstheilungssystems kann durch Psychotherapie aufgelöst werden. Durch die bilaterale Stimulation in der EMDR-Therapie sollen linke und rechte Gehirnhemisphären wieder harmonisch miteinander in Verbindung gebracht und so das blockierte System in eine erneute Bewegung gebracht werden. Dadurch können Patient:innen ihre eigenen ...