E-Book, Deutsch, 448 Seiten, Digital
Reihe: MIRA Taschenbuch
Böhm One Last Dance
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7457-5215-1
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 448 Seiten, Digital
Reihe: MIRA Taschenbuch
ISBN: 978-3-7457-5215-1
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gillian wollte schon immer nur eines: Tänzerin werden. Doch nun vertritt sie ihren kranken Vater als Rektorin der renommierten New York Music & Stage Academy. Ihr Leben scheint vorgezeichnet, für große Träume gibt es darin keinen Platz mehr. Dann läuft ihr eines Tages Jaz über den Weg - ein junger Streetdancer, bettelarm, aber mit unglaublichem Talent - und sie erkennt, dass es nie zu spät ist, für seine Träume zu kämpfen.
Nicole Böhm wurde 1974 in Germersheim geboren und lebt heute in Speyer. Mit zwanzig reiste sie nach Phoenix, Arizona, um Zeichen- und Schauspielunterricht am Glendale Community College zu nehmen. Es folgte eine Schauspielausbildung an der American Musical and Dramatic Academy in New York. Sie lebte insgesamt drei Jahre in Amerika und bereiste diverse Städte in den USA und Kanada, die nun als Schauplätze ihrer Geschichten dienen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1.
GILLIAN
Es irritierte mich nach wie vor zutiefst, wenn Menschen Angst vor mir hatten.
Ehe ich den Job als Leiterin der New York Music & Stage Academy angetreten hatte, war ich aufgrund meiner blonden Haare und der zierlichen Figur eher herablassend belächelt als ernst genommen worden. Wenn ich früher zu meinem Vater ins Büro gekommen war, während er ein Meeting durchführte, hatten seine Gäste erst mal Kaffee bei mir bestellt, weil sie davon ausgegangen waren, ich sei die Assistentin. Es war daher nicht leicht gewesen, als ich unfreiwillig das Ruder der NYMSA in die Hand hatte nehmen müssen, aber ich hatte mich im letzten Jahr etabliert und ganz offensichtlich zu einer Frau entwickelt, vor der man sich in Acht nehmen musste. Zumindest deutete Roberts Verhalten darauf hin.
Seine braunen kurz geschnittenen Haare klebten an seinem Kopf, weil er ständig mit der Hand darüberfuhr. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, war blass, und die Wangen waren eingefallen. Seine Finger zitterten, und seine Stimme bebte. Vermutlich alterte er gerade um fünf Jahre, während er vor Nervosität auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch hin und her rutschte.
»Robert, bitte entspann dich«, sagte ich und warf eine Aspirin in mein Wasserglas auf dem Tisch. Das war die zweite Tablette, die ich heute Morgen brauchte. Ich hätte es gestern ruhiger angehen lassen sollen, aber ich war auf der After-Show-Party zum ersten Geburtstag der aktuellen Broadway-Hit-Show Dance Till Midnight eingeladen gewesen. Ein Event, das ich mir unmöglich hätte entgehen lassen können, zumal ich Ende der Woche ein Interview mit den beiden Hauptdarstellern auf broadway.com führen würde.
Gut, den dritten Cocktail hätte ich wohl nicht trinken sollen, aber meine beiden Freundinnen Renée und Maureen waren da gewesen, und wir hatten uns viel zu erzählen gehabt, nachdem Renée endlich von ihren Dreharbeiten für ihre neue Netflixserie und Maureen von der National Tour von Phantom of the Opera zurückgekehrt war. Eins hatte zum anderen geführt, und schon hatte ich mehr Alkohol intus gehabt, als mir guttat.
Ich sah der Aspirin zu, die sich langsam auflöste, und stand auf. Vielleicht fiel es Robert leichter, wenn ich mich zu ihm setzte, statt wie der Boss hinter dem Tisch zu lauern. Eine Rolle, in die ich eher unfreiwillig geschlüpft war, aber nun auszufüllen hatte, bis mein Dad dem Krebs gezeigt hatte, dass sich ein Preston Blair von nichts unterkriegen ließ! Dann könnte er wieder im Chefsessel hocken und dieses millionenschwere Unternehmen leiten. Nicht, dass es mir nicht gefiel, hier zu sein. Ich liebte die Schule und würde alles dafür tun, dass sie vorankam, aber ich sah mich nicht als Frau an der Spitze. Da gehörte Dad hin.
Natürlich würde ich ihn weiter unterstützen, aber ich wollte lieber im Hintergrund bleiben, ins Showbiz abtauchen, neue Stars für den Unterricht gewinnen, netzwerken, mich mit anderen austauschen und innovative Konzepte für die Schule entwickeln. Meinen eigentlichen Traum, Tänzerin zu werden, hatte ich als Teenager schmerzlich begraben müssen und mich mittlerweile damit abgefunden.
»I-ich bin entspannt«, sagte Robert und riss mich aus meinen Gedanken. »Hab, glaub ich, Fieber, mir geht es seit gestern Abend nicht so gut, aber ich wollte mich nicht krankmelden.«
Er tupfte sich zum x-ten Mal den Schweiß von der Stirn, während ich um den Tisch herumging, mir einen Stuhl neben ihm schnappte und mich zu ihm setzte. Mit einem sehnsüchtigen Blick sah ich auf das Wasserglas, in dem sich die Aspirin aufgelöst hatte, aber erst würde ich mich hierum kümmern, ehe ich meinen Kopfschmerzen den Garaus machte.
Robert war einer der Ersten, die vor sieben Jahren von Dad hier in New York eingestellt worden waren, und seither führte er die Buchhaltung der Schule. Er war gewissenhaft und gründlich und hatte uns bisher nicht einmal enttäuscht. Aber seit Kurzem stimmte irgendwas nicht mit ihm.
»Die Zwillinge sind krank, und Margery ist noch bei ihrer Mutter, weil diese ja den Schlaganfall hatte. Mein Bruder ist mit schweren Depressionen in eine Klinik eingeliefert worden. Ich bin ein wenig … es ist viel gerade.«
»Das mit deinem Bruder hast du gar nicht erzählt.«
»Er hat vor zwei Wochen versucht, sich das Leben zu nehmen, jetzt ist er in Behandlung.«
»Mein Gott, das tut mir leid!« Ich hatte keine Ahnung! Das Pochen in meinem Kopf verstärkte sich, und ich hatte das Gefühl, dass sich gleich der Boden auftun und mich verschlingen könnte.
Dieses Gespräch lief nicht gut. Ich konnte doch nicht mit Robert ins Gericht gehen, wenn er so viel Ärger hatte. Aber wir könnten die Dinge auch nicht so weiterlaufen lassen. Wir steuerten auf einen Abgrund zu.
Ich zog den Stuhl näher an ihn heran und legte eine Hand auf sein Knie. Er zuckte zusammen, als fürchtete er, dass ich ihn schlagen wollte. Sofort lächelte ich ihn milde an, in der Hoffnung, dass er sich entspannte.
»Ich … ich kann mir dieses Minus nicht erklären«, fuhr er fort. »Ich habe die Überweisung an Chris Stevens’ Management letzte Woche getätigt. Ich habe alles gecheckt. Wirklich!«
»Es war ein Zahlendreher in der IBAN«, sagte ich. »Deshalb ist das Geld nicht angekommen.« Zum dritten Mal.
»Aber das ist unmöglich! Du weißt, wie gewissenhaft ich arbeite.«
»Ja.« Normalerweise tat er das. »Chris’ Manager hat uns abgesagt, wir brauchen einen anderen Lehrer für die Masterclass im Sommer.«
»Das kann doch nicht sein!«
»Leider ja.« Und es war eine Katastrophe. Chris Stevens war ein heiß begehrter Schauspieler. Seit der Oscarnominierung im letzten Jahr und dem Welterfolg seines letzten Films ging seine Karriere steil bergauf. Er war jung, sexy und sehr charmant. Die Schüler, die bei der Lehrerauswahl der Masterclasses ein Stimmrecht hatten, katapultierten ihn auf Platz eins der Wunschkandidaten. Wir hatten den Deal quasi im Sack gehabt, aber dann tauchten Probleme auf. Die erste Überweisung seiner Gage war schiefgegangen und kam zurück. Das Management hatte uns netterweise eine Frist gegeben, doch auch die zweite Zahlung ging nicht ein, und nun war auch die dritte geplatzt. Ich hatte gestern ein zweistündiges Telefonat mit Chris’ Manager geführt, der mir mitteilen musste, dass er den Termin nun anderweitig vergeben hatte. So lief das nun mal im Showbiz. Entweder man rannte vorne mit oder man stolperte hinterher.
Robert schwitzte noch stärker, nasse Flecken hatten sich unter seinen Achseln gebildet.
Aber ich konnte keine Rücksicht darauf nehmen. Robert hatte als leitender Buchhalter die Verantwortung für alle Konten. Vor einem Monat stand der Gerichtsvollzieher bei uns, weil Robert vergessen hatte, eine Mahnung der Sanitärfirma zu bezahlen. Unsere Wasserleitungen mussten dringend ausgetauscht werden, was wir über die Winterpause hatten erledigen wollen, aber durch die Verzögerung waren die Arbeiten nicht fertig geworden. Nun mussten wir einen Eilzuschlag zahlen, hingen immer noch hinterher, und in zwei Wochen ging das Semester los. Die Schule war bald voll mit Studenten, und ich konnte den zweiten Stock nur zur Hälfte nutzen.
»Es kam auch eine Mahnung vom Finanzamt.« Ich wollte ihn nicht weiter quälen, aber ich konnte es auch nicht für mich behalten. »Du wolltest doch die Steuerzahlung veranlassen.«
»Ich … Oh Gott, ja, das hab ich getan.«
Ich griff nach den vorbereiteten Papieren auf meinem Schreibtisch und reichte sie an Robert. »Hast du nicht.«
»Was?!« Er zitterte stärker, nahm mir die Unterlagen ab und öffnete die oberen Knöpfe seines Hemdes. Hastig studierte er die Mahnung. Sein Mund klappte auf, schloss sich wieder. »D-das ist absolut unmöglich, Gillian. Wirklich.«
»Es steht da aber. Schwarz auf weiß.«
Die letzte Steuerprüfung hatte ergeben, dass wir das gesamte letzte Jahr zu wenig gezahlt hatten, und das forderten sie nun logischerweise nach. Die Summe war astronomisch hoch. Mir wurde jedes Mal schwindelig, wenn ich sie sah.
»Ich habe alles mit Paul zusammen abgestimmt«, stotterte Robert. »Er … ich habe die Zahlen von ihm und …«
»Mit Paul hab ich schon gesprochen und auch alles nachgeprüft, er hat keinen Fehler gemacht«, sagte ich. Paul und Katherine waren die beiden anderen Buchhalter, die Robert seit drei Jahren tatkräftig unterstützten.
»Aber wie …? D-das geht doch nicht!«
»Nein.« Und ich musste hier den Schlussstrich ziehen. Wir hatten Glück, denn Dad hatte sich immer gut mit dem Sachbearbeiter beim Finanzamt verstanden. Er hatte uns eine großzügige Frist zur Rückzahlung eingeräumt und die Mahngebühren halbiert, dennoch würde es ein gigantisches Loch in unsere Kasse reißen, zumal wir den Schaden, den Robert in den letzten Monaten verursacht hatte, ja auch begleichen mussten. Ich hatte viel zu lange gewartet, aber ich hatte Robert auch nicht zu sehr unter Druck setzen wollen, weil ich wusste, wie schlimm es bei ihm zu Hause lief.
»Ich verspreche, dass ich besser aufpassen werde, Gillian«, sagte er nun. »Margery kommt bestimmt bald zurück, ich finde einen zweiten Babysitter, arbeite hier länger und bereinige alle Fehler. Ich kann das.«
»Ich fürchte, nicht.«
»Aber du …«
Ich hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Ich schätze dich, doch du musst zuerst deine privaten Probleme in den Griff bekommen. Du wirst mit sofortiger Wirkung freigestellt.«
»Du feuerst mich?«
»Nein. Ich möchte, dass du...