3.
Manchmal schäumt das Wasser. Zweimal hat Jakob ein totes Eichhörnchen im Bach schwimmen sehen, seinen weißen Bauch der Sonne entgegengestreckt, und fragte sich, ob er gerade Zeuge des großen Eichhörnchensterbens wird. Das Wasser ist nicht tief, aber der Bach treibt die Dinge unaufhaltsam hinab, nur manchmal bleibt etwas an den Wurzeln der Bäume hängen, so dass Jakob regelmäßig seine Liste überprüfen kann. Alles, was den Bach entlangtreibt, versucht er sich zu merken: zusammengeknüllte Burger-Tüten, Bierflaschen, Umsonstzeitungen, Flip-Flops, Eierkartons. Und dann die Eichhörnchen. Er fragt sich, ob er der einzige ist, dem sie auffallen, doch traut sich nicht, jemandem davon zu erzählen. Vielleicht geschieht alles zufällig, aber vielleicht geht es auch jetzt, hier mit ihnen zu Ende. Jakob ist neunzehn Jahre alt und Listen hat er schon immer gemacht.
Die Sonne des Nachmittags scheint auf den schmalen und langen Hinterhof mit den Bänken, wo man seine Pausen verbringen kann, wenn man nicht drinnen bleiben möchte, um dort neben dem Getränkeautomaten in den Gewerkschaftszeitungen herumzublättern, die niemanden interessieren.
Da sitzen von links nach rechts: Gregor, Serge, Roland und Philipp. Alle haben ihre Beine auf dieselbe Art ausgestreckt, als wäre das die einzige Möglichkeit, auf dieser Bank zu entspannen, die etwas zu kurz ist für vier Menschen. Serge hat gerade eine Packung Schokoküsse aufgerissen und verteilt sie reihum. Er betrachtet seinen einen Moment lang, dann schiebt er ihn sich komplett in den Mund und schließt die Augen.
Jakob hat den Bach lange genug beobachtet, er will zurück in die staubige Halle. Er geht an den Vieren vorbei und nickt ihnen stumm zu, da sagt Serge etwas, das wegen seines vollen Munds nicht zu verstehen ist. Jakob bleibt stehen. Serge schluckt angestrengt.
»Hier, nimm einen«, sagt er schließlich.
»Nein, Danke.«
»Zucker ist der Stoff, den du zum Denken brauchst, Junge«, sagt Serge, »nimm einen, du wirst es brauchen.« Er lächelt ganz leicht: »Wir müssen hier alle konzentriert sein.«
Jetzt lächeln ihn alle vier an, und Serge nickt ihm aufmunternd und mit einem leicht verschwörerischen Augenzwinkern zu. Gemächlich beugt er sich nach vorne und sagt leise: »Das bleibt alles unser Geheimnis. Mach dir keine Sorgen.«
Serge bemerkt das Buch, das Jakob unter dem Arm trägt. »Was liest du da?«
»Krieg der Welten«, antwortet Jakob.
»Du kannst hier lesen, was du willst, weißt du. Nur die Bibel ist verboten.«
Die anderen nicken einstimmig. Jakob lacht kurz auf, doch Serge bleibt ernst und hält ihm das dunkelbraune Objekt feierlich hin, wie ein Pfarrer den Kelch beim Abendmahl.
»Bibel lesen ist verboten. Das ist die einzige Regel. Aber darauf musst du achten, es ist sehr wichtig.«
Es ist der vierzehnte Tag. Jakob wohnt noch in seinem alten Zimmer und schläft in dem Bett, in dem er seit fünf Jahren schläft. Hartmann holt Jakob früh ab. Er fährt ihn, weil Jakob kein Auto besitzt. Sie frieren morgens und fragen sich abwechselnd, ob das etwas mit der Müdigkeit zu tun hat. Leicht zitternd und die Arme um seinen Körper geschlungen sitzt Jakob in Hartmanns kleinem blauen Auto und singt die Songs mit.
Hartmanns neues Auto hat nur einen Kassettenspieler und Hartmann besitzt nur eine Kassette. Sie singen: »Don’t stop me now. Cause I’m having a good time.« Das ist ihr morgendliches Ritual, aber Hartmann wollte nie wirklich erzählen, ob er eine good time auf seiner Reise hatte. Er war einfach wieder da: Wochenlange Stille und dann der plötzliche Anruf, ohne Erklärung, warum er einige Wochen früher in die kleine Stadt kam. Er war einfach da und gab sich alle Mühe, so zu tun, als hätte die Reise nie stattgefunden, nahm den Job wieder auf und sagte Jakob, er würde ihn ab jetzt zur Arbeit fahren, damit er nicht mehr den Bus nehmen muss. So einfach war das. Er winkte ab, lächelte und wechselte das Thema, und Jakob wusste nicht einmal, wo er genau gewesen war.
Jakob weiß nur, dass Hartmann ein anderer geworden ist. Sein Haar ist anders, seine Kleidung ist anders, selbst seine Stimme hat sich verändert. Sein Haar ist kürzer, seine Stimme vorsichtiger geworden. Hartmann spricht jetzt wie einer, der Angst davor hat, zu laut zu sprechen, der befürchtet, die falschen Leute könnten die falschen Sätze hören. Nur morgens auf dem Weg zur Arbeit wird er laut, und da kann Jakob sehen, wie er für diese zwanzig Minuten etwas verliert, das er mit sich trägt, das allerdings sofort zurückkommt, wenn er auf dem Parkplatz die Autotür zuschlägt.
Im Morgengrauen sieht Jakob ihn dort, wo maximal sieben Autos stehen, wie er die Umgebung belauert, ein verschüchtertes Tier, das mit einem Mal und ohne Absicht aus dem Wald herausgetreten ist und sich auf einem Feld wiederfindet, das es nicht überblicken kann. Noch sieht er ihn, aber dann schüttet er schon einen riesigen Sack mit Stoffresten auf den Boden und fängt an, die kleineren Stücke in den ruckelnden Häcksler zu stopfen. Das ist seine Aufgabe: Es sind Stoffreste von ganz unterschiedlicher Größe, die langen schmalen Streifen kann man entwirren, das Ende in den Häcksler stopfen und dann dabei zusehen, wie die Maschine langsam alles gierig in sich hineinfrisst.
Don’t stop me now.
Hier arbeitet er, seit Herr Volkert ihm eine kurze Führung gab und übertrieben laut und meckernd lachte, nachdem er Jakob gesagt hatte, er könne in seinem Alter schon Schichtarbeit machen. Es ist eine ganz eigene Kunst, an den falschen Stellen im Gespräch zu lachen, und Herr Volkert beherrscht sie wie kein zweiter.
Gregor warnt ihn vor seinem Blick, vor Volkerts berühmtem Hundeblick: »Er steht dann vor dir und fragt dich, ob du an diesem Samstag die Nachtschicht übernehmen kannst, und dabei schaut er dich so an wie ein Welpe oder irgendein kleiner Hund. Und dann kannst du nicht mehr Nein sagen.«
Volkert hat ein großes rundes Kindergesicht, Jakob glaubt Gregor jedes Wort. Die einzige Möglichkeit sich dagegen zu wehren, sei, ihm bei Gesprächen nie ins Gesicht zu blicken. Jakob hält sich an den Rat und fährt gut damit. Gregor erklärt ihm außerdem, warum Volkert schwul sein muss. Es liege an seinen Hosen, die zu kurz seien. Er fände das nicht schlimm oder irgendetwas, er wolle es nur festgestellt haben.
Jakob weiß nicht, was in der Fabrik eigentlich produziert wird. Durch die größeren Maschinen laufen lange Stoffbahnen. Kleine Nadeln fahren auf sie hinab in einem schnellen hämmernden Rhythmus, der bis in die Nacht hinein das Gebäude ausfüllt. Sie laufen und laufen und Jakob lässt einen Sack nach dem anderen auf den Boden fallen. Stopft man zu viele Fetzen in den Häcksler, knallt es erst und dann geht er aus. Es ist, als ob sich der alte Kasten verschluckt. Manchmal macht Jakob das mit Absicht, bleibt lange stehen und sieht dabei zu, wie der Häcksler langsam verreckt.
Lange Zeit dachte er, dass solche Orte nicht mehr existieren. Aber alles ist noch hier. Die Karten werden nicht mehr gestempelt, sondern gescannt, und wenn Serge nach einer langen Nachtschicht keine Lust mehr hat, macht er sich an der Anlage zu schaffen, damit man schon eine Stunde oder zwei früher abhauen kann.
Sobald sie die Fabrik betreten, verliert er Hartmann aus den Augen. Hartmann kümmert sich darum, dass die Stoffbahnen gerade in die Maschine hineinlaufen, und Jakob steht am Häcksler. An seinem fünften Tag setzt er sich nach der Mittagspause auf die Bank im Hinterhof und schläft ein. Es ist Gregor, der ihn nach einer Stunde weckt. Er steht vor ihm in einem weißen Unterhemd, und so kann Jakob sehen, dass er die behaartesten Schultern hat, die er jemals an einem Menschen gesehen hat. Verschlafen stammelt er eine Entschuldigung, aber Gregor schüttelt nur den Kopf.
»Nicht einschlafen«, sagt er und geht schon wieder weg. »Keine gute Idee. Pass auf, dass dich der Meister nicht dabei sieht.«
Sie sprechen andauernd über ihn, in den Pausen und wenn sie sich zufällig in den Gängen treffen. Der Meister heißt Walter Müller, aber alle nennen ihn Warzenmüller, wenn er nicht hinhört, was vermutlich nicht nett ist. Doch es ist unmöglich, nicht andauernd auf diese zwei Hügel an seinem Kinn zu blicken, wenn man mit ihm spricht. Warzenmüller ist ein kleiner knubbeliger Mann mit schneidender Stimme und wahrscheinlich der einzige, der hierbleiben möchte. Wenn er nicht arbeitet, ist er bei Vereinsfeiern und Sitzungen, bestätigt den ersten Vorsitzenden des Schützenvereins oder organisiert eine Tombola. Er möchte, dass man ihn Walter nennt und...