Böttcher | Das Kaff | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Böttcher Das Kaff

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8412-1498-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1498-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Familie, Freunde, Erinnerung?

Darauf hat Architekt Michael Schürtz nie etwas gegeben. Er ist für die Karriere in die Großstadt gezogen und kehrt nur widerwillig für einen Bauleiterjob in seinen Heimatort zurück. Doch die Menschen kommen ihm näher, als er möchte. Und irgendwann muss er einsehen, dass er nie mehr war als das: ein Nobody aus einem Kaff in der norddeutschen Tiefebene. Und dass sein Leben hier und jetzt beginnen kann. 

»Mit viel Witz und leiser Wehmut erzählt Jan Böttcher von der Rückkehr ins Kaff als Rückkehr zum Ich.« Benedict Wells. 

»Das Kaff zeigt eindrücklich die Unterschiede zwischen Stadt und Land, Oben und Unten, die kulturelle Kluft. Hier wird der Riss spürbar, der die Welt zurzeit spaltet. Wer die Gegenwart verstehen will, muss Jan Böttcher lesen.« Jan Brandt.



1973 in Lüneburg geboren, war Jan Böttcher zunächst Songtexter und Sänger der Berliner Band 'Herr Nilsson'. Seit 2003 hat er fünf Romane veröffentlicht. Mit 'Nachglühen' gewann er den Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Jan Böttcher lebt in Berlin.

Im Aufbau Taschenbuch sind seine Romane 'Das Kaff' und 'Am Anfang war der Krieg zuende' lieferbar.

Mehr Informationen zum Autor unter www.janboettcher.com.

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Gutachten


Im letzten Jahr war ich schon einmal hier. Sie hatten mich zu ihrer Abifeier eingeladen, als Überraschungsgast, Stargast, und ich hab den Quatsch mitgemacht, weil ich gern das Gesicht meiner alten Schulfreundin Jasmin sehen wollte. Sie tauchte gar nicht auf. Stattdessen fand ich mich mit Gregor Hartmann am Tresen wieder, ein Bier nach dem anderen stürzend. Die Verdrängungskräfte setzten ein und wurden immer stärker, in der Nacht meinte ich, mindestens drei Viertel der Anwesenden nie in meinem Leben gesehen zu haben.

Greg ist wirklich mal ein Schulfreund gewesen, aber wir können an diese Zeit nicht anknüpfen. Er ist damals nach dem ganzen Mist, den wir gemeinsam gebaut haben, auf dem Gymnasium geblieben, ich nicht, er ist später im Kaff geblieben, ich nicht, und beides stand auf dem abendlichen Jahrgangstreffen zwischen uns wie eine unüberwindbare Mauer. Immerhin teilte er mein Bedürfnis, nicht über die Vergangenheit zu reden, und erzählte mir von seinem geplanten Langzeiturlaub, drei bis vier Monate Kreta mit der ganzen Familie, bevor sein Sohn im Herbst eingeschult würde. Im Gegenzug redete ich von dem Angebot, just im kommenden Sommer eine Bauleitung hier in der Heimatstadt zu übernehmen.

So ist es gekommen, dass ich jetzt bei Gregor Hartmann wohne, in der Nähe des Kalkhafens. Ich finde nicht, dass er mir nach fünfundzwanzig Jahren irgendetwas schuldet, aber er wollte partout keine Miete nehmen, und so zahle ich für die drei Monate nicht mehr als die Grundkosten für Wasser und Strom.

Kalkhafen ist ein irreführender Titel, das Gebiet bestand schon zu Kriegszeiten zu zwei Dritteln aus Weideland und Brachen, nach dem Zustrom der Flüchtlinge aus dem Osten wurde es schnell als Baugebiet erschlossen. Gregs verklinkertes Reihenhaus ist Baujahr 1952, und es atmet noch die Enge der Nachkriegszeit. Im Parterre befinden sich Küche und Klo (beide winzig) und das ganzflächig mit taubenblauem Teppichboden ausgelegte Wohnzimmer, an der Wand der flachste Flachbildschirm. Dazu das Kämmerlein für meine Arbeit, die Baupläne lappen weit über den Rand der Schreibtischplatte. Oben ein Kinderzimmer, das elterliche Schlafzimmer, ein Bad. Greg und ich haben vergessen, über ein Gästezimmer zu sprechen. Es gibt keines. Am ersten Abend habe ich auf einer Yogamatte auf dem Flurboden geschlafen. Dann entdeckte ich den Stab, mit dem man die Dachluke an einer Öse aus der Decke ziehen kann, und mir gefiel auch, wie die Stiege in die Dachluke eingelassen ist, eine fantastische Tischlerarbeit.

Auf dem Dachboden lag (noch eingerollt) ein roter Läufer, unter der Schräge stand ein Stapelbett. Klar, es ist stickig dort oben, auch die Junisonne hat es sich gut zwischen Gregs Kisten eingerichtet, aber wenn man gegen 20 Uhr alle drei Fensterluken aufreißt, ist es ab Mitternacht auszuhalten. Und ich arbeite sowieso bis in die Nacht.

Was nicht heißt, dass ich ausschlafen kann. Es ist Samstagfrüh und der Briefkastenschlitz klappert. Ein Zeitungsbote schiebt jeden Morgen das Käseblatt ins Haus. Ich erinnere mich daran, dass Greg gefragt hat, ob er das Abo in seiner Abwesenheit kündigen soll, weiß aber nicht mehr, was ich ihm geantwortet habe. Wahrscheinlich stand mir der Mund offen, weil ich dachte, dass es das Käseblatt kraft meiner Ablehnung nicht mehr geben kann. Ich hätte der Stadtzeitung gegönnt unterzugehen, aber sie hat nicht bloß überlebt, sie ist unverändert, dasselbe Layout, derselbe Mangel an Anspruch, der einen schon als Jugendlicher eingeschläfert hat, Missgeschicke statt Katastrophen, Lackschäden statt Diktatur, dazu die Festlichkeiten im Landkreis und andere Wochenendtipps. Was das helle, harmlose Herz eben so verkraftet.

Kann ich eigentlich nicht lesen, konnte ich noch nie. Aber man ist ja gezwungen, Zeitungen durchzublättern, wenn man Kaffee trinkt. Der Geist verlangt danach, auch die Finger. Im Lokalteil heute ein langes Einzelhandelsporträt, über eine junge Hutmacherin, die ihr Handwerk in Schottland gelernt hat und deshalb meint, Kopfbedeckungen seien hierzulande unterbewertet. Gewagte These im Zeitalter der Burka-Hysterie. Auf der Deutschland-Seite, die wirklich Deutschland heißt, ein Interview mit einem Soziologen, der als wichtiger Zeitdiagnostiker präsentiert wird. Er sagt, wir verhandelten alles im digitalen Raum, um nicht analog handeln zu müssen. Gähn. Wir seien mit Information, Meinung und Widersprüchen gestopfte Gänse. Das Projekt Individualisierung habe immer schon darauf abgezielt, dass sich der Mensch von den Mitmenschen abwendet. Das Gespräch liest sich, als hätten die Käseblattredakteure es nicht nur unzulässig gekürzt, sondern auch jede These vereinfacht.

Leserbriefe gibt es noch, aber höchstens zwei am Tag, die allermeisten Leser haben ihren bürgerlichen Namen abgelegt und füttern im Netz die Kommentarspalten. Hinten im Sportteil (immer noch so ausführlich) lese ich, dass in acht Tagen das Ortsderby steigt. Meine Rot-Weißen gegen die blaue Eintracht.

EinTracht Prügel, haben wir immer gerufen. Aber ins Stadion, warum nicht, schön auf dem Rad an der Ull entlang, könnte man machen. Jetzt klingelt aber erst mal mein Handy.

»Herr Schürtz.«

»Guten Morgen, Herr Ahrens.«

»Herr Schürtz, kommen Sie bitte auf die Baustelle.«

»Ich muss sowieso –«

»Baustelle, bitte. Ich bin selbst in fünf Minuten da.«

Es ist ja ein Zeichen von Stärke, wenn sich Menschen kurz fassen können, aber Hans-Peter Ahrens treibt die Kürze auf die Spitze, er kann nicht anders, als ständig den Supermarktleiter zu spielen, der seine Kassierer über die Telefonanlage ausruft und irgendwohin dirigiert. Er ist der geborene Gebieter. Soziale Kompetenz? Zero, null. Ich beeile mich trotzdem, warum auch nicht. Rasur, Aftershave, Zähne und Schuhe putzen, Ledertasche, los. Im Designeranzug auf Gregs Fahrrad – den Anblick gönne ich meinen neuen Nachbarn.

Das Hemd klebt mir am Rücken, als ich auf der Baustelle ankomme. Ahrens ist noch nicht da. Der Herr Investor taucht auch nach zehn Minuten nicht auf. Schließlich mache ich mir einen Spaß, schicke ihm eine SMS, ich würde mich ins Café Rose begeben, das nur zweihundert Meter entfernt liegt. »Bitte dort abholen«, schreibe ich wörtlich und freue mich sehr über den Satz, weil er Ahrens imitiert und gleichzeitig klingt, als könne ein verlorengegangenes Kleinkind selbst eine Forderung stellen. Sofort summt die Antwort:

»Nein!! Baustelle!«

Ha ha, Ahrens. Drei Ausrufezeichen. Grandios, wie er sein Denken sichtbar macht. Ich will überhaupt nicht ins Café Rose, was soll ich da, wo auf der Baustelle auch an diesem Samstag drei Handwerkertrupps arbeiten.

Was sagt der Tagesplaner? In Wohnung #3 nachsehen, ob die Trockenbauer die Nische in der Badezimmervorwand versetzt haben. Die Trockenbauer arbeiten so schlecht, dass ich mittlerweile jede ihrer Ausführungen einzeln prüfe. Mich kosten sie Nerven, Ahrens kosten sie Geld. Die Firma hat zwei Bautrupps, darunter einen rein albanischen, für den ich mit dem Leuchtstift Kreuze an die Wände malen muss, damit er nicht noch mehr Wand erneuert als nötig. Heute empfängt mich aber die deutsch-polnische Gesellschaft, drei Männer stehen vor dem Badezimmer und diskutieren.

»Tagchen«, rufe ich in die Runde. »Allt schick?«

»Wir können hinten nicht weiter in Haus 4.«

»Aber meinen Plan habt ihr gefunden, ja?«

»Wir haben diesen hier, Chef.«

»Nicht der, Leute, ich hab euch das neu aufgezeichnet und noch gestern Abend hier drangepinnt. Da hängt er doch.«

»Ist gut. Nehm’ wir den.«

»Besser is. Und warum könnt ihr in Haus 4 nicht weiter?«

»Kein Estrich.«

»Heute. Aber nächste Woche liegt da Estrich.«

»Da sind wir in Hamburg, Chef. Andere Baustelle, bessere Bezahlung.«

»Komm komm, Bezahlung. Jetzt erst mal die Nische hier in der Vorwand. Einfach mal Pläne lesen und Aufgabe umsetzen. Eine Nische, in der das Duschgel steht und nicht umkippt, okay?«

Ich drehe ab in Richtung Wohnungstür, rufe dabei Estrichleger Baschikowski an. Er quakt sofort los. Seine Zementsäcke seien vom letzten Gewitter aufgeweicht und er habe Wochenende und mit dem Zement könne er überhaupt nicht mehr arbeiten und warum der Materialkeller nicht dicht sei, wer ihm den Zement ersetze und wie da jetzt überhaupt noch Wasser etc.

Smartphone auf Abstand.

Mit Ahrens mache ich es ähnlich, denn unser aller Geldgeber hat das Treppenpodest erklommen und steht plötzlich vor mir, also strecke ich nickend die Hand aus und halte den Zeigefinger in die Luft, noch kein Handschlag möglich, heißt das, gleich, bin gleich bei Ihnen.

»Herr Baschi … nun hören Sie mir doch, Herr Baschikowski, ja, ich verstehe Sie ja in allem, den Keller seh ich mir sofort an, dann geh ich weiterhin von Dienstag aus, schönes Wochenen … ja, wiederhörn.«

Ich vermeide es, den Kopf zu schütteln. Ahrens nickt jovial. Er trägt sein Leinensakko mit den Hirschhornknöpfen, eine dunkelbraune Jeans, wirkt immer wie ein Außendienstler für Vintage und Landhausstil, es fehlt nur der süddeutsche Akzent.

»Passen Sie auf, Herr Schürtz, die Robinie.«

»Wie bitte?«

»Die Robinie. Die steht doch direkt vor der Terrasse vom Mittermeier. Das zweite Gutachten sagt …«

»Moment, welches zweite Gutachten?«

»Herr Mittermeier hat privat noch eins in Auftrag gegeben. Und da heißt es nun, der Baum ist krank und sollte...



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