E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Boie Der Prinz und der Bottelknabe oder Erzähl mir vom Dow Jones
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86274-094-9
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-86274-094-9
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kirsten Boie ist eine der renommiertesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Deutschen Jugendliteraturpreis und das Bundesverdienstkreuz.
Weitere Infos & Material
CALVIN
Kein Mensch wird mir diese Geschichte glauben, das ist schon klar. Wenn ich ehrlich bin, würde ich das ja selber nicht. Wenn sie mir nicht passiert wäre, mir, Calvin Prinz.
Ich meine, ich bin eigentlich eher so ein nüchterner, vernünftiger Typ, nichts mit Esoterik und Pendeln und . Da läuft mir ja direkt ein Schauder über den Rücken bei solchem Gerede.
Andererseits passieren natürlich schon manchmal Sachen, die eher unwahrscheinlich sind, das muss jeder zugeben. Achtlinge werden geboren und grauhaarige Männer segeln allein im Einbaum von Amsterdam nach Feuerland; und was alles im steht, will ich hier gar nicht erwähnen. Das sind doch auch alles Dinge, mit denen man nicht direkt rechnet.
Ich bin also an diesem Nachmittag schon mit schlechter Laune nach Hause gekommen. In der Mathearbeit hatte ich eine Fünf geschrieben und damit bestand für die Versetzung eigentlich kaum noch eine Chance. Das Wetter war so grässlich, dass niemand geglaubt hätte, dass es nach dem Kalender demnächst Sommeranfang sein würde, und mir grauste vor dem Hockeytraining um fünf. Die Voraussetzungen waren also schon mal schlecht. An solchen Tagen kommt ja meistens vieles zusammen.
Als ich über die Terrasse ins Haus ging, war Momma noch nicht da, aber im oberen Stockwerk saugte Margareta, unsere polnische Putzfrau, gerade den Flur. Auf dem Monitor meines letzten PCs klebte einer dieser -Zettel und teilte mir mit, dass Momma noch bei der Fitness war. Um das Essen würde Margareta sich kümmern.
Ich hatte nichts dagegen. Wenigstens musste ich dann nicht sofort meine Fünf beichten und Mommas Gejammer ertragen. Bei jeder schlechten Klassenarbeit prophezeite sie mir eine Zukunft unter der Brücke, und wenn ich dann den Mut aufbrachte, zu sagen, dass ich doch sowieso später die Firma übernehmen würde, mit oder ohne Abitur, brach sie erst recht zusammen. Weil die Firma nämlich die nächsten Jahrzehnte offenbar nur mit einem Chef überstehen würde, der mindestens Betriebswirtschaftslehre studiert hatte, und um zu studieren, braucht man Abitur, und das schenkt einem nun mal keiner, wenn man ständig Fünfen schreibt.
Dabei glaubte ich übrigens ganz bestimmt, dass es Momma in Wirklichkeit mehr darum ging, bei ihren Golf- und Tennisfreundinnen nicht beichten zu müssen, dass ihr Einziger sitzen geblieben war. Die hatten nämlich alle ganz reizende Kinder, die in der Malschule Preise gewannen und Halbprofis auf der Violine waren, und an Sitzenbleiben war bei denen natürlich schon gar nicht zu denken. Überhaupt waren diese Damen alle ziemliche Lügenbeutel, wenn mich einer fragt. In der Diele drehte sich der Schlüssel im Schloss.
»Halloooo, halloooo?«, rief Daddo mit dieser fröhlichen Stimme, die er immer hat, wenn er einige Tage nicht zu Hause war. »Keiner da?«
Oben saugte Margareta unerschütterlich weiter. Sie war schließlich nicht gemeint.
Ich steckte den Kopf durch die Esszimmertür. »Hi«, sagte ich.
»Der Sohn!«, sagte Daddo, und einen Augenblick sah es so aus, als ob er die Arme ausbreiten wollte, damit ich mich hineinstürzen konnte. So hatten wir es nämlich früher immer gemacht, wenn Daddo von seinen Reisen zurückgekommen war. Er hatte die Arme ausgebreitet und ich hatte mich hineingestürzt; und Daddo hatte mich aufgefangen und noch im Schwung begonnen sich mit mir zu drehen, dass meine Beine vom Boden abhoben und wie Windmühlenflügel über den Marmorboden schwebten. Erst danach packte er dann die Geschenke aus, die Reisemitbringsel, die er meistens noch eilig nach der Landung am Flughafen gekauft hatte; aber der Grund, warum ich mich lange, viele Jahre lang, immer so sehr auf Daddos Rückkehr gefreut hatte, war dieser kurze Augenblick gewesen, in dem wir beide durch die Diele wirbelten.
Diese Zeiten waren natürlich vorbei.
»Alles okay?«, fragte er, noch mit dem Reiseglück auf dem Gesicht.
Ich nickte. »Wo bist du gewesen?«, fragte ich.
Daddo ging ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen. »Schon wieder Chicago, weißt du doch«, sagte er. »Wir sind da jetzt besser im Geschäft, als man glauben sollte, Sohn. Wo ist Momma?«
»Die bekämpft ihre Orangenhaut«, sagte ich.
Daddo lachte. »Nächstes Mal nehme ich dich vielleicht mit«, sagte er. »Langsam wird es Zeit, dass du den Laden mal kennenlernst, Sohn.«
Ich nickte. Vier Tage Chicago waren auf alle Fälle besser als vier Tage Schule. Dafür war ich schon mal bereit, mir Daddos stundenlange Erklärungen und Daddos Begeisterung und Daddos Erzählungen über die Geschichte der Firma anzuhören.
»Wie alt bin ich?«, fragte Daddo und beugte sich vor. Jetzt konnte man sehen, wie müde sein Gesicht unter der Bräune war.
Ich seufzte. Ich wusste, was kam, wenn Daddo diese Frage stellte, und fast hätte ich mir gewünscht, dass Momma da gewesen wäre und unser kleiner Austausch über das Leben unter der Brücke hätte wie gewohnt stattfinden können.
»Zweiundsechzig?«, sagte ich. Obwohl Daddo natürlich nicht so aussieht. Schließlich geht in unserer Familie nicht nur Momma zur Fitness.
Daddo nickte. »So ist es, mein Sohn, so ist es«, sagte er. »Da gehen andere in Rente. Geh ich in Rente?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste, dass er jetzt gerne etwas darüber gehört hätte, wie jung er aussah und wie fit er war und dass er mich im Tennis immer noch locker schlug; aber irgendwie brachte ich das nicht so richtig über die Lippen. »Eben!«, sagte Daddo. »Geh ich nicht, keine Sorge. Ich fühl mich wie vierzig. Aber in zehn Jahren fühl ich mich dann also wie fünfzig, und da sollte man dann doch schon anfangen an den Ruhestand zu denken.«
Oben wurde der Staubsauger ausgeschaltet und man konnte hören, wie Margareta irgendein polnisches Volkslied sang. Margareta sang immer bei der Arbeit und immer sang sie auf Polnisch.
»In zehn Jahren also!«, sagte Daddo. »Dann bist du dran, Sohn. Bis dahin muss das klappen. Da musst du den Laden übernehmen, damit ich noch ein paar Jahre mit meiner Jacht durch das Mittelmeer kreuzen kann. Oder durch die Karibik.«
»Du hast doch gar keine Jacht«, sagte ich. Es war ein Versuch. Aber Daddo ließ sich nicht ablenken.
»Zurzeit hätte ich ja auch nichts davon«, sagte er. »Aber in zehn Jahren steht das an, Sohn, glaub mir. Dann bist du hier der Boss.«
Ich nickte. Spätestens seit meinem zehnten Geburtstag hatten wir regelmäßig solche Gespräche geführt und ich beneidete jeden, der nicht irgendwann einen Betrieb mit 54 Beschäftigten übernehmen musste.
»Also wie stehen die Aktien?«, fragte Daddo und stützte seine Hände auf den Oberschenkeln ab. »Verlust oder Gewinn gemacht?«
Dass das Gespräch auf diesen Punkt zulief, hatte ich die ganze Zeit gewusst; und genau darum versuchte ich noch einmal, ihm eine für mich günstigere Wendung zu geben.
»Ich könnte gut einen neuen Rechner brauchen«, sagte ich. »Meiner hat immer noch 1,2 Gigabyte und Markus hat jetzt einen gekriegt …«
»Gewinn oder Verlust?«, fragte Daddo, und jetzt war auch das letzte bisschen Reiseglück von seinem Gesicht verschwunden.
Ich merkte, wie sich meine Schultern ohne mein Zutun meinen Ohren näherten. »Ich bin nicht dazu gekommen, nachzugucken«, murmelte ich.
Aber jetzt saß Daddo ganz aufrecht. »Nicht dazu gekommen?«, rief er und mit der rechten Hand schlug er kurz und heftig gegen die Sofakante. »Vier Tage lang nicht dazu gekommen? Ich dachte, das Thema hätten wir schon mehrfach besprochen, Calvin!«
Ich nickte. Ich nickte, weil es weiß Gott und wahrhaftig stimmte. Wir hatten das Thema nicht nur mehrfach, wir hatten es so oft besprochen, dass ich inzwischen fast die gleiche Angst davor hatte wie vor einer Mathearbeit.
Zum Geburtstag hatte Daddo mir für 10 000 Mark Aktien geschenkt. Klamotten hätte ich schließlich genug, hatte er gesagt, ein neues Schlagzeug hätte ich auch erst vor drei Wochen gekriegt und einen neuen Rechner vor zwei Monaten. Aus dem Alter für LEGO Technic war ich raus, meine Hockeysachen kriegte ich sowieso immer, wenn ich sie brauchte, Video und der ganze Kram war Weihnachten erst erneuert worden, und einen Flug nach New York hatten sie mir zu Ostern geschenkt. Ihnen war einfach kein richtiges Geschenk mehr eingefallen.
Und ich war natürlich auch keine große Hilfe gewesen. Immer, wenn Momma mich so flehentlich angeguckt und gefragt hatte, was ich mir denn wünschte, hatte ich geradezu Schweißausbrüche gekriegt, weil mir nun wirklich nichts einfiel, und dabei legt Momma immer so großen Wert darauf, dass ich mich über meine Geburtstagsgeschenke freue.
Trotzdem war mir zum Geburtstag nichts mehr eingefallen, und darum war Daddo dann auf seinen genialen Gedanken gekommen, und ich musste jetzt die Folgen tragen.
Daddo hatte mir Aktien geschenkt. Für 10 000 Mark Aktien, von jeder Sorte ein paar.
Ich hatte VW und BASF und natürlich auch ein paar Telekom. So sehr hatte es mich schon gleich nicht interessiert. Und Daddo hatte gesagt, dass die zum Üben wären, ein Junge, der später mal einen Betrieb mit 54 Beschäftigten und Kontakten in alle Welt übernehmen sollte, konnte gar nicht früh genug damit anfangen, sich fürs Wirtschaftsleben zu interessieren.
Darum hatte Daddo sich an den Tagen nach meinem Geburtstag immer abends mit mir an den Esstisch zurückgezogen und den Wirtschaftsteil der Zeitung aufgeschlagen. Da hatte er mir dann die Aktienkurse gezeigt und welche gestiegen waren und welche gefallen, und er...




