E-Book, Deutsch, 448 Seiten, Format (B × H): 1550 mm x 2300 mm
Bopp-Kistler / Bally / Lauener Demenz.
3. Auflage 2022
ISBN: 978-3-907351-13-0
Verlag: Rüffer & Rub
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Fakten Geschichten Perspektiven
E-Book, Deutsch, 448 Seiten, Format (B × H): 1550 mm x 2300 mm
ISBN: 978-3-907351-13-0
Verlag: Rüffer & Rub
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Irene Bopp-Kistler, Dr. med., Internistin mit Schwerpunkt Geriatrie, hat die Altersmedizin am Stadtspital wesentlich mitgeprägt und aufgebaut und 1997 die Memory Clinic zusammen mit Brigitte Rüegger-Frey gegründet. Für sie standen neben der Abklärung und Behandlung immer die Betroffenen und Angehörigen im Mittelpunkt. Irene Bopp-Kistler war während vieler Jahre Lehrbeauftragte der Universität Zürich. Sie war Gründungsmitglied der Fachgesellschaft für Geriatrie (SFGG) und langjähriges Vorstandsmitglied. Sie brachte ihr Wissen in zahlreichen Gremien ein, so auch in der nationalen und kantonalen Demenzstrategie und in diversen Vorständen. Ein Herzensanliegen ist ihr die Enttabuisierung der Demenzerkrankung. 2020 wurde sie von Alzheimer Zürich mit dem Fokuspreis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Seit der Pensionierung Ende 2021 arbeitet sie in einer Praxis in Zürich, wo sie sich weiterhin für die Anliegen der Demenzerkrankten einsetzt; zudem ist sie in diversen Projekten insbesondere für Jungbetroffene, aber auch für die bessere Grundversorgung engagiert.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhaltsverzeichnis
1 Würde und Schicksal
Irene Bopp-Kistler
2 Demenz – Eine krankheit mit vielen Facetten
Die Demenz beginnt schleichend
Irene Bopp-Kistler
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Frau W.
Wenn der Hausarzt gefordert ist
Klaus Bally
Was Alois Alzheimer nicht ahnen konnte
Irene Bopp-Kistler
Blaue Katzen gibt es nicht –
Neuropsychologische Perspektiven
Brigitte Rüegger-Frey
Die Frage der Vererbung
Irene Bopp-Kistler
Urteilsfähigkeit und selbstbestimmte Entscheidungen
Manuel Trachsel, Daniel Hürlimann
3 Botschaften aus dem Land des Vergessens
Humor ist meine beste Medizin – Alzrainer berichtet
Rainer Diederichs
Zeit für meine Zukunft als Alzheimerpatient
Herr und Frau T.
Die glückliche Heimbewohnerin
Brigitte Hauser
Flaschenpost aus dem Durcheinandertal – Die Perspektive der Betroffenen
Irene Bopp-Kistler
Was »macht« Demenz mit den Menschen?
Christoph Held
»Am meisten ärgert mich, dass ich das Einfache nicht mehr kann« – Demenz am Arbeitsplatz
Margrit Sprecher
Von Grenzerfahrungen im Alltag
Einmal nach nirgendwo
Irene Bopp-Kistler
Der Dementor in Zeiten des Nebels
Isabella Lauener
Angehörigengruppen: gemeinsam stark
Regula Bockstaller
Von Sein und Verhalten
Irene Bopp-Kistler
Verkannt und bagatellisiert – Die frontotemporale Demenz
Margrit Dobler
Die verschwundene Birke
Joël Meier
4 Therapien – Eine grosse Palette
Therapeutische Möglichkeiten
Irene Bopp-Kistler
Mythen und Wahrheiten
Michael Gagesch
Prävention – nie zu früh und nie zu spät
Sacha Beck
Bitte Zähne nicht vergessen
Christian E. Besimo
Die »Ess-Kümmerer«
Markus Biedermann
Das Vergessen vergessen – in der Musiktherapie
Antoinette Niggli
Begleitetes Malen – ein Anker im Sturm der Verluste
Katharina Müller
Aufgeweckte Kunst-Geschichten
Sandra Oppikofer, Susanne Nieke, Karin Wilkening
»Aber ich bin doch noch da« – Theater mit Demenzerkrankten
Christine Vogt
5 Vom Loslassen
»Sie sollen doch zuerst einmal alle anderen aus dem Verkehr ziehen …«
Irene Bopp-Kistler
»Man muss es eben so nehmen, wie es kommt« – Einfühlende Kommunikation
Andrea Mühlegg-Weibel
Der Badezimmerspiegel
Christoph Harms
Von verpflanzten Menschen und Bäumen
Michael Schmieder
Er schlägt mich
Frau K.
Medizinische Entscheidungen am Lebensende
Georg Bosshard
6 Von speziellen Strukturen
DemenzSpitex – ein Beruf mit Zukunft
Cornelia Kaya
Aufsuchende Demenzarbeit in der Stadt Zürich
Gabriela Bieri-Brüning
Herausforderung: Demenzerkrankte im Spital
Irene Bopp-Kistler
Wenn es Migrantinnen und Migranten trifft
Christa Hanetseder
Facetten der Langzeitpflege
Silvia Silva Lima
7 Die spirituelle Dimension
Mensch sein – eine Ermutigung
Annina Hess-Cabalzar, Christian Hess
Die andere Seite der Palliation
Irene Bopp-Kistler
Forschung zum Thema Lebensende
Henrike Wolf
Weil die Seele nicht verstummt
Angelika U. Reutter
Demenz und Spiritualität – eine inklusive Sicht
Ralph Kunz
8 Anhang
Glossar/Sachregister
Anmerkungen
Weiterführende Unterstützung
Buchempfehlungen der Herausgeberin
Weiterführende Informationen
Biografien
Bild- und Grafiknachweis
Dank
Klaus Bally
Wenn der Hausarzt gefordert ist
Meine Patient:innen fürchten nach dem Überschreiten der Lebensmitte keine Krankheit mehr als die Demenz. Demenzerkrankungen sind in unserer Gesellschaft nach wie vor mit einem Stigma behaftet. Nicht nur die betroffenen Menschen, auch ihre Angehörigen und sogar die behandelnden Ärztinnen und Ärzte empfinden ein Schamgefühl, wenn sie bei einem/r Patient:in zunehmende kognitive Einbußen feststellen.
Den meisten Patient:innen wie auch ihren Angehörigen fällt es keineswegs leicht, mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt über Gedächtnis- und Orientierungsstörungen oder gar über Fehlleistungen im Beruf oder Verkehr zu sprechen. Oft haben sie sich Wochen oder gar Monate Gedanken gemacht, ob und wann sie dieses Problem ihrer Ärztin oder ihrem Arzt mitteilen sollen. Hierfür verantwortlich sind einerseits die beschriebenen Schamgefühle, aber auch die Angst, dass die Ärztin oder der Arzt die Diagnose einer schwerwiegenden, möglicherweise nicht behandelbaren Krankheit stellen könnte. Viele Menschen ängstigen sich vor dem Verlust ihrer Selbständigkeit, dass sie mittelfristig auf Pflege und Betreuung angewiesen sein und somit anderen Menschen zur Last fallen könnten.
Es ist meine hausärztliche Aufgabe, die Fragen der Betroffenen selbst sowie der Angehörigen ernst zu nehmen. Wenn ich Betroffenen beschwichtigend mitteile: »Wissen Sie – auch ich vergesse manchmal einen Namen«, ist ihnen und ihren Angehörigen nicht gedient. Viel zu groß ist in der Regel die Not, die sie zu mir geführt hat. Eine derartige vermeintliche Beruhigung trägt nicht dazu bei, dass sich ein Mensch, der bei sich ein allmähliches Entschwinden seines Erinnerungsvermögens wahrnimmt, von seiner Ärztin oder seinem Arzt verstanden und ernst genommen fühlt.
Im Rahmen der diagnostischen Abklärungen ist es entscheidend, das Vertrauensverhältnis mit dem/r Patient:in aufrechtzuerhalten, um ihn/sie sowie seine/ihre Angehörigen oftmals über viele Jahre auch in seiner Erkrankung weiterhin ärztlich und menschlich begleiten zu können. Einerseits sollte eine mögliche Demenzdiagnose zeitgerecht gestellt werden, auf der anderen Seite möchte ich meine Patient:innen nicht verunsichern. Gerade zu Beginn einer möglichen Demenzerkrankung besteht oftmals nicht nur bei den Betroffenen und ihren Angehörigen, sondern auch bei Ärztinnen und Ärzten eine Ungewissheit, ob nun tatsächlich eine ernste Erkrankung vorliegt.
In dieser Phase werde ich mir schon einige ganz zentrale Fragen stellen: Wie viel an Information und Aufklärung kann mein/e Patient:in zum jetzigen Zeitpunkt verstehen und ertragen? Welche Konsequenzen hat die Diagnose einer Demenzerkrankung für ihn/sie und seine/ihre Angehörigen? Ist es denkbar, dass die Gewissheit über das Vorliegen einer Demenzerkrankung zu einer Beruhigung für den/die Patient:in und sein/ihr Umfeld führen könnte? Oder bricht für meinen/e Patient:in mit dieser Erkenntnis eine Welt zusammen; könnte er/sie sich gar das Leben nehmen? Gibt es Dinge, die in unmittelbarer Zukunft zu regeln sind und daher einer Sicherung der Diagnose bedürfen? Fährt mein/e Patient:in Auto? Darf ich nach einem in der Hausarztpraxis üblichen Prinzip die Diagnose vorläufig offenlassen, abwarten und weitere diagnostische Schritte je nach Verlauf zu einem späteren Zeitpunkt vorsehen?
Frühdiagnose
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Als Hausarzt frage ich mich: Besteht hier Handlungsbedarf? Hat Frau G. eine beginnende Demenzerkrankung – oder liegt ein MCI (mild cognitive impairment) vor? Ist ein einfacher Test ihrer kognitiven Fähigkeiten in der Hausarztpraxis angezeigt? Braucht sie eine eingehendere Blutuntersuchung, eine MRI-Untersuchung ihres Gehirns oder jetzt schon eine Überweisung in eine Memory Clinic? Das Vorgehen in einer derartigen Situation wird nicht nur in der populärwissenschaftlichen, sondern auch in der medizinischen Fachliteratur kontrovers thematisiert: So schreibt der bekannte Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer etwas plakativ in seinem 2013 erschienenen Buch »Das 4. Lebensalter – Demenz ist keine Krankheit«:16 »Die Demenz wird medikalisiert … dem Zwang zur Vorsorgeuntersuchung bei der Schwangeren entspricht der wachsende Druck zur Demenzdiagnose beim Alten.«
Und David Le Couteur, ein namhafter Professor für Geriatrie aus Syndney, Australien, schreibt in der renommierten wissenschaftlichen Zeitung »BMJ« im Jahre 2013 unter der Rubrik »Too much medicine«:17 »Die Forderung von Politikern, dass Hausärzte bei allen Menschen Testverfahren einsetzen sollen, um eine mögliche Demenzdiagnose früh stellen zu können, entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage und missachtet den potenziellen Schaden, der damit angerichtet werden kann.«
Auf der anderen Seite wird immer wieder berichtet, dass die Früherkennung von Demenzerkrankungen in Hausarztpraxen zu wünschen übrig lasse und dass Hausärztinnen und -ärzte ihre Patient:innen unbefriedigend über Diagnose und Prognose aufklären:18 Heute ist bekannt, dass das weitere diagnostische und therapeutische Vorgehen von Hausärztinnen und -ärzten in einer derartigen Situation nicht nur davon abhängig ist, wie viel sie über die Diagnose und Behandlung von Demenzerkrankungen wissen. Ebenso bedeutsam ist, was sich in einer derartigen Situation auf der Gefühlsebene der Ärztin oder des Arztes abspielt und welchen Einfluss der Beziehungsaspekt auf das weitere Vorgehen nimmt. Es konnte gezeigt werden, dass die jahrelange Vertrautheit einer Ärztin oder eines Arztes mit seinen/ihren Patient:innen ein unvoreingenommenes Herangehen an die möglicherweise vorliegende Demenzproblematik eher erschwert als erleichtert.19 Daher ist es unabdingbar, sich dieser auf der Beziehungs- und affektiven Ebene abspielenden Faktoren bewusst zu sein.20
Abklärung
Mini-Mental-Status [] .
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In einer derartigen Situation muss, solange keine Selbst- und Fremdgefährdung besteht, die Autonomie meiner Patientin respektiert werden, und es ist erst dann eine eingehendere Abklärung in einer Memory Clinic in die Wege zu leiten, wenn die hierfür urteilsfähige Patientin dazu Hand bietet. Im Bewusstsein, dass in einer Memory Clinic eine sorgfältige Abklärung mit eingehendem Aufklärungsgespräch stattfindet, ist es meine Aufgabe, die Patientin entsprechend vorzubereiten: Was geschieht in der Memory Clinic? Viele Patient:innen fürchten, die »Prüfung« nicht zu bestehen und nach dem Besuch der Memory Clinic von ihrem Umfeld nicht mehr als kognitiv kompetent angesehen zu werden. Schon diese Voraufklärungsgespräche benötigen viel Zeit, Ruhe und oftmals mehrere Konsultationen.
Aufklärung und Therapieeinleitung